Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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Wir können an dieser Stelle festhalten, daß es zwar physiologische Bedingungen der Zeitwahrnehmung gibt, ebenso wie eine ontogenetische Geschichte des Zeitbewußtseins, daß aber beide für sich genommen nicht ausreichen, um einen hinreichend geklärten Begriff von Zeit zu entwickeln. Sie reichen nicht aus, weil sie die ontologischen und erkenntnistheoretischen Implikationen des Zeitbegriffs nicht hinreichend berücksichtigen. Diesen Fragen wende ich mich im folgenden zu und werde mich dabei an philosophischen Positionen orientieren, die einen je spezifischen Erkenntnisgewinn für das Zeitverständnis erbracht haben. 2.2.3 Zeit als Anschauungsform Kant untersucht bekanntlich im ersten Teil der Kritik der reinen Vernunft 38 , in der Transzendentalen Elementarlehre, die Elemente, die eine synthetische Erkenntnis a priori ermöglichen. Raum und Zeit verhandelt er unter dem Gesichtspunkt einer transzendentalen Ästhetik; es geht dabei um den Anteil der reinen Sinnlichkeit mit ihren Formen Raum und Zeit an der Konstitution von synthetischen Urteilen a priori. Kant sieht Raum und Zeit als „transzendental ideal“ an, weil sie „weder Dinge noch Eigenschaften von Dingen noch Relationen“ 39 sind. Die Analyse der Erfahrung von Zeit läßt für Kant keinen Zweifel daran, daß „die Zeit kein empirischer Begriff ist, der von irgendeiner Erfahrung abgezogen worden“, sondern vielmehr eine notwendige Vorstellung oder Anschauungsform ist, die „a priori gegeben“ ist. 40 Zeit kann verstanden werden als das Konstitutivum der Selbstwahrnehmung, Raum als Konstitutivum der Außenwahrnehmung. Die Anschauungsformen Raum und Zeit stehen dabei in einem asymmetrischen Verhältnis, insofern die Außenwahrnehmung als Wahrnehmung auch Gegenstand der Selbstwahrnehmung ist. Es gilt dabei also: „Alle Außenwahrnehmung hat räumlichen Charakter, alle Wahrnehmung überhaupt hat zeitlichen Charakter.“ 41 Beide Anschauungsformen gehören als Elemente einer transzendentalen Erkenntnistheorie, als Bestimmungen des Gemütes, zum inneren Zustand. Die Zeit gehört sogar in einem doppelten Sinn zum inneren Zustand; zum einen durch ihren Status als Anschauungsform. Zum anderen aber auch dadurch, daß sich jede transzendentale Subjektivität in der empirischen wiederfinden muß und dies im Falle der Zeit die Anschauung eben dieses subjektiven Zustandes ist. Was vermittels der Zeit transzendental als Gegen- 38 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. 3 und 4 (Kant, KrV). 39 Rudolf Malter, Art. Kant/Neukantianismus I, in: TRE 17, 570–581, hier 574. 40 Kant, KrV, A 31ff, B 46ff. In Kants eigenen Worten: „Unsere Behauptungen lehren demnach empirische Realität der Zeit, d.i. objektive Gültigkeit in Ansehung aller Gegenstände, die jemals unsern Sinnen gegeben werden mögen. Und da unsere Anschauung jederzeit sinnlich ist, so kann uns in der Erfahrung niemals ein Gegenstand gegeben werden, der nicht unter die Bedingung der Zeit gehörete. Dagegen bestreiten wir der Zeit allen Anspruch auf absolute Realität, da sie nämlich, auch ohne auf die Form unserer sinnlichen Anschauung Rücksicht zu nehmen, schlechthin den Dingen als Bedingung oder Eigenschaft anhinge. Solche Eigenschaften, die den Dingen an sich zukommen, können uns durch die Sinne niemals gegeben werden. Hierin besteht also die transzendentale Idealität der Zeit, nach welcher sie, wenn man von den subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung abstrahiert, gar nichts ist, und den Gegenständen an sich selbst (ohne ihr Verhältnis auf unsere Anschauung) weder subsistierend noch inhärierend beigezählt werden kann“ (KrV A 35,36). 41 Wilfried Härle, Systematische Philosophie. Eine Einführung für Theologiestudenten, München 42 1987 2 , 151.

stand wahrgenommen wird, ist die transzendentale Subjektivität. Damit trägt Kant dem eigentümlichen Charakter der Zeit Rechnung, die die einzige Erkenntnisform ist, die sich in jeder Erkenntnis zur Geltung bringt, weil jeder Erkenntnisakt immer auch ein zeitlicher ist. So erhellend die Analyse Kants 42 ist, so ist doch an diesem transzendentalen Verständnis von Zeit zu kritisieren, daß es die Zeit in das Subjekt hineinverlegt. Diese Rückführung auf das Subjekt muß, wo dieses Subjekt selbst fraglich geworden ist, ebenso fraglich werden. 43 Weiter kann man gegen Kant einwenden, daß er die Bedeutung der elementaren Erfahrung von Veränderung unterschlägt. Ein Bewußtsein von Zeit wird nicht erst und nicht nur durch eine transzendentale Erkenntnis erzeugt, sondern auch aus dem Äußeren einer angehenden Wirklichkeit. „Die Dynamik der Welt ist eine elementare Erfahrung, die, wie rudimentär auch immer, noch vor ihrer kategorialen Organisation gemacht werden kann und gemacht wird. Sie bringt sich gleich von beiden Seiten zur Geltung: aus dem Innern des Organismus wie aus dem Äußern einer ihn angehenden Wirklichkeit.“ 44 Eine allein transzendentale Bestimmung der Zeit vernachlässigt diesen Sachverhalt. Dieser Einwand wird auch gegenüber dem Zeitverständnis Husserls laut werden können, auch wenn sein Interesse sich von dem Kants unterscheidet. Festzuhalten bleibt aber zum einen die Fraglichkeit einer Gegenstandswahrnehmung, die Kant zumindest als Problem aufgeworfen hat, sowie die erkenntnistheoretische Relevanz der Anschauungsform Zeit. 2.2.4 Phänomenologisches Zeitverständnis Husserl 45 geht es beim Zeitbewußtsein nicht um das Bewußtsein einer objektiv ablaufenden Zeit, sondern um die zeitliche Verfaßtheit des Bewußtseins selber. 46 Es geht ihm 42 Vgl. zur Zeitlehre Kants auch Karl Hinrich Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit. Aspekte für eine theologische Deutung der Zeit, Göttingen 1992, 55–166 (Manzke, Ewigkeit) und Mike Sandbothe, Die Verzeitlichung der Zeit in der modernen Philosophie (Sandbothe, Verzeitlichung), in: A. Gimmler / M. Sandbothe / W.Chr. Zimmerli (Hg.), Die Wiederentdeckung der Zeit, Darmstadt 1997, 41– 62. 43 Vgl. Günter Dux, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt/M. 1992 (Dux, Zeit), 58ff. „Seit Kant gilt es erkenntniskritisch geradezu als Errungenschaft, die Zeit nur aus dem Innern der Subjektivität zu begründen“ (59); siehe auch Peter Bieri, Zeit und Zeiterfahrung. Exposition eines Problembereichs, Frankfurt/M. 1972 (Bieri, Zeit), 80ff. 44 Dux, Zeit 60. 45 Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hg. von Martin Heidegger, Tübingen 1980 2 (Husserl, Vorlesungen). Husserls phänomenologische Analyse schließt jedwede „Annahmen, Festsetzungen oder Überzeugungen in betreff der objektiven Zeit (aller transzendierenden Voraussetzungen von Existierendem)“ aus. Er nennt die Untersuchungen James’ – ohne allerdings seinen Namen zu nennen – zwar interessant, sieht sie aber nicht als Aufgabe der Phänomenologie. Husserl kommt es auf die „erscheinende Zeit, erscheinende Dauer als solche“ an. Denn dies „sind absolute Gegebenheiten, deren Bezweiflung sinnlos wäre“. Was er als „seiende Zeit“ annimmt, ist nicht die „Zeit der Erfahrungswelt“, sondern die „i m m a n e n t e Z e i t des Bewußtseinsverlaufs“ (3). Eine prinzipielle Kritik des phänomenologischen Ansatzes im Blick auf die Zeit kann hier nicht geleistet werden. Vgl. dazu aber Manfred Sommer, Lebenswelt und Zeitbewußtsein, Frankfurt/M. 1990, passim (Sommer, Lebenswelt) sowie Kersting, Selbstbewußtsein. 46 Husserl folgt in diesem Punkt Kant. „Aber diese Erkenntnisquellen a priori [Zeit und Raum, KFG] bestimmen sich eben dadurch (daß sie bloß Bedingungen der Sinnlichkeit sind) ihre Grenzen, nämlich, daß sie bloß auf Gegenstände gehen, so fern sie als Erscheinungen betrachtet werden, nicht aber Dinge in sich selbst darstellen“ (KrV A 40). 43

stand wahrgenommen wird, ist die transzendentale Subjektivität. Damit trägt Kant dem<br />

eigentümlichen Charakter der Zeit Rechnung, die die einzige Erkenntnisform ist, die<br />

sich in jeder Erkenntnis zur Geltung bringt, weil jeder Erkenntnisakt <strong>im</strong>mer auch ein<br />

zeitlicher ist.<br />

So erhellend die Analyse Kants 42 ist, so ist doch an diesem transzendentalen Verständnis<br />

von Zeit zu kritisieren, daß es die Zeit in das Subjekt hineinverlegt. Diese Rückführung<br />

auf das Subjekt muß, wo dieses Subjekt selbst fraglich geworden ist, ebenso fraglich<br />

werden. 43 Weiter kann man gegen Kant einwenden, daß er die Bedeutung der elementaren<br />

Erfahrung von Veränderung unterschlägt. Ein Bewußtsein von Zeit wird nicht<br />

erst und nicht nur durch eine transzendentale Erkenntnis erzeugt, sondern auch aus dem<br />

Äußeren einer angehenden Wirklichkeit. „Die Dynamik der Welt ist eine elementare<br />

Erfahrung, die, wie rud<strong>im</strong>entär auch <strong>im</strong>mer, noch vor ihrer kategorialen Organisation<br />

gemacht werden kann und gemacht wird. Sie bringt sich gleich von beiden Seiten zur<br />

Geltung: aus dem Innern des Organismus wie aus dem Äußern einer ihn angehenden<br />

Wirklichkeit.“ 44 Eine allein transzendentale Best<strong>im</strong>mung der Zeit vernachlässigt diesen<br />

Sachverhalt. Dieser Einwand wird auch gegenüber dem Zeitverständnis Husserls laut<br />

werden können, auch wenn sein Interesse sich von dem Kants unterscheidet.<br />

Festzuhalten bleibt aber zum einen die Fraglichkeit einer Gegenstandswahrnehmung,<br />

die Kant zumindest als Problem aufgeworfen hat, sowie die erkenntnistheoretische Relevanz<br />

der Anschauungsform Zeit.<br />

2.2.4 Phänomenologisches Zeitverständnis<br />

Husserl 45 geht es be<strong>im</strong> Zeitbewußtsein nicht um das Bewußtsein einer objektiv ablaufenden<br />

Zeit, sondern um die zeitliche Verfaßtheit des Bewußtseins selber. 46 Es geht ihm<br />

42 Vgl. zur Zeitlehre Kants auch Karl Hinrich Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit. Aspekte für eine<br />

theologische Deutung der Zeit, Göttingen 1992, 55–166 (Manzke, Ewigkeit) und Mike Sandbothe,<br />

Die Verzeitlichung der Zeit in der modernen Philosophie (Sandbothe, Verzeitlichung), in: A. G<strong>im</strong>mler<br />

/ M. Sandbothe / W.Chr. Z<strong>im</strong>merli (Hg.), Die Wiederentdeckung der Zeit, Darmstadt 1997, 41–<br />

62.<br />

43 Vgl. Günter Dux, Die Zeit in der <strong>Geschichte</strong>. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit,<br />

Frankfurt/M. 1992 (Dux, Zeit), 58ff. „Seit Kant gilt es erkenntniskritisch geradezu als Errungenschaft,<br />

die Zeit nur aus dem Innern der Subjektivität zu begründen“ (59); siehe auch Peter Bieri, Zeit<br />

und Zeiterfahrung. Exposition eines Problembereichs, Frankfurt/M. 1972 (Bieri, Zeit), 80ff.<br />

44 Dux, Zeit 60.<br />

45 Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hg. von Martin<br />

Heidegger, Tübingen 1980 2 (Husserl, Vorlesungen). Husserls phänomenologische Analyse schließt<br />

jedwede „Annahmen, Festsetzungen oder Überzeugungen in betreff der objektiven Zeit (aller transzendierenden<br />

Voraussetzungen von Existierendem)“ aus. Er nennt die Untersuchungen James’ – ohne<br />

allerdings seinen Namen zu nennen – zwar interessant, sieht sie aber nicht als Aufgabe der Phänomenologie.<br />

Husserl kommt es auf die „erscheinende Zeit, erscheinende Dauer als solche“ an. Denn<br />

dies „sind absolute Gegebenheiten, deren Bezweiflung sinnlos wäre“. Was er als „seiende Zeit“ ann<strong>im</strong>mt,<br />

ist nicht die „Zeit der Erfahrungswelt“, sondern die „i m m a n e n t e Z e i t des Bewußtseinsverlaufs“<br />

(3). Eine prinzipielle Kritik des phänomenologischen Ansatzes <strong>im</strong> Blick auf die Zeit<br />

kann hier nicht geleistet werden. Vgl. dazu aber Manfred Sommer, Lebenswelt und Zeitbewußtsein,<br />

Frankfurt/M. 1990, pass<strong>im</strong> (Sommer, Lebenswelt) sowie Kersting, Selbstbewußtsein.<br />

46 Husserl folgt in diesem Punkt Kant. „Aber diese Erkenntnisquellen a priori [Zeit und Raum, KFG]<br />

best<strong>im</strong>men sich eben dadurch (daß sie bloß Bedingungen der Sinnlichkeit sind) ihre Grenzen, nämlich,<br />

daß sie bloß auf Gegenstände gehen, so fern sie als Erscheinungen betrachtet werden, nicht aber<br />

Dinge in sich selbst darstellen“ (KrV A 40).<br />

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