Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

scheinlich nicht mehr als einer Minute“ zu. 20 Diese Dauer ist für James die ursprüngliche Anschauung der Zeit. Zeit besitzt also eine subjektive Relativität, deren Existenz für James aber die Realität von Zeit nicht beeinträchtigt. Damit ist auf die für das Zeitbewußtsein notwendige Voraussetzung eines Bewußtseins von der „Sukzession zeitlich erstreckter Vorstellung“ hingewiesen. Nichts ausgesagt ist aber über den Übergang dieses Bewußtseins einer Sukzession von Vorstellungen „zu einem Bewußtsein, das die Vorstellung der Sukzession von Vorstellungen hat“. Es wird noch nicht erklärt, wie dieser zeitbewußtseinskonstitutive reflexive Überschritt vonstatten geht und was ihn ermöglicht. 21 Nicht thematisiert ist also in diesem Zusammenhang die Frage nach der Transzendenzfähigkeit des Menschen und deren Bedeutung für sein Personsein. Es ist die Frage angesprochen, welche Bedeutung Zeit und Zeitlichkeit für die Konstitution von Personen haben. 2.2.2.3 Zeitbewußtsein und Person Die Frage nach dem Zeitbewußtsein stellt sich im Rahmen einer „Bewußtseins– philosophie“. Es geht genauer um die Frage, unter welchen Bedingungen die Zeit bewußt wird, und zwar als Früher-Später-Bewußtsein oder als Bewußtsein von modaler Zeit, d.h. von vergangen – gegenwärtig – zukünftig. Das Bewußtsein von Zeit ist nicht zu bestreiten. Die Unterscheidung von früher – später und von modaler Zeit läßt sich aus unserem Sprachgebrauch ablesen. 22 Aus diesem Sachverhalt ergibt sich zum einen die Frage nach dem Verhältnis dieser unterschiedenen Formen von Zeitbewußtsein, sowie die Frage nach der Realität der Zeit, genauer: ob wir etwas über die Zeit an sich ausmachen können oder nur darüber, wie unsere Erfahrung von Zeit beschaffen ist. Die Fragehinsichten können auf verschiedene Weisen behandelt werden. Die Frage nach der Track hat gesprächsweise vorgeschlagen, den Ausdruck „specious present“ mit „erscheinende Gegenwart“ zu übersetzen. 20 James, Wahrnehmung 66. Die Struktur dieser „scheinbaren“ Gegenwart entspricht den retentionalen und protentionalen Aspekten der Husserlschen Phänomenologie. 21 Wolfgang Kersting, Selbstbewußtsein, Zeitbewußtsein und zeitliche Wahrnehmung. Augustinus, Brentano und Husserl über das Hören von Melodien (Kersting, Selbstbewußtsein), in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Zeiterfahrung und Personalität, Frankfurt/M. 1992 (Forum für Philosophie, Zeiterfahrung), 57–88, hier 61. Kersting konzediert dieser empiristischen Theorie des Zeitbewußtseins zwar, daß sie „Zeitbewußtsein als Bewußtsein von der Sukzession zeitlich erstreckter Vorstellung“ expliziert, was seiner Meinung nach eine notwendige Bedingung einer Theorie des Zeitbewußtseins ist. Er weist aber darauf hin, daß nicht erklärt wird, wie der entscheidende und zeitbewußtseinskonstitutive „Überschritt von einem Bewußtsein, das – völlig nichtsahnend – eine Sukzession von Vorstellungen ist, zu einem Bewußtsein, das die Vorstellung der Sukzession von Vorstellungen hat“, von diesem Bewußtsein vollzogen werden kann. An diesem Problem arbeitet sich der phänomenologische Ansatz ab, s.u. zu Husserl, Heidegger und Lévinas. 22 „Früher waren die Theologiestudierenden politisch viel aktiver.“ „Früher“ konstituiert hier eine Relation zu einem später, in der Regel zum Jetzt des Sprechenden. Auf Nachfrage muß dieses Früher aber chronologisch eingeordnet werden, weil in den seltensten Fällen mit diesem Früher alle Vergangenheit gemeint ist. Früher – Später sind somit erste Zeitrelationsindikatoren, die der Präzisierung bedürfen. „Morgen habe ich Sprachprüfung.“ Mit dem Zeitindikator morgen, der in der Erfahrung chronologischer Zyklen verankert ist, wird der Modus der Zukunft in die Gegenwart hineingeholt und die Zukunft bis zu dem genannten zukünftigen Datum qualifiziert. „Wir müssen uns bemühen, die Zahl der StudienanfängerInnen an unserer Hochschule zu stabilisieren.“ In diesem Satz ist ein Sachverhalt in die Zeitordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingesetzt, insofern aus Daten der Vergangenheit und der Gegenwart Perspektiven auf die Zukunft entworfen werden. 38

Zeit an sich, als „harter Realität“, wäre der Physik oder der Protophysik zuzuordnen, 23 die Frage nach der Erfahrung von Zeit der „Bewußtseinsphilosophie“. Mit Georg Mohr meine ich, daß „das, was man „Bewußtseinsphilosophie“ nennt, im Hinblick auf eine Explikation unseres Zeitbewußtseins eine geeignete Methode ist, instruktive Aussagen zu machen“ 24 . Dabei ist die Zeitlichkeit als solche ein Phänomen vor aller Reflexion. 25 Im Blick auf das praktische Weltverhältnis entwickeln Personen aber auch eine Form von Zeitneutralität, weil erst durch sie Handlungsgründe „Werte über die Zeit hinweg repräsentieren“. Damit ist auf das Problem hingewiesen, daß es für das Weltverhalten notwendig ist, Orientierungen oder Haltungen zu besitzen, die nicht völlig zeitrelativ sind; für eine tragfähige Daseins- und Handlungsorientierung müssen Überzeugungen vorhanden sein, die sich auch im Lauf der Zeit bewähren. Daß diese Überzeugungen „mit der Zeit“ geworden sind, tut ihrer notwendigen Funktion keinen Abbruch. Zeitneutralität ist deshalb „praktischer Ausdruck des Bewußtseins vernünftiger Individuen, daß sie als zeitlich ausgedehnte Personen in der Zeit ihr Leben zu führen haben“ 26 . Aus handlungstheoretischen Überlegungen heraus entwickelt Dieter Sturma ein lineares Zeitverständnis, einen „handlungstheoretischen Zeitpfeil“, innerhalb dessen die Zukunftsperspektive einen größeren Stellenwert als die Vergangenheit bekommt. 27 2.2.2.4 Zeit, Handeln und Sprache Die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis von Zeit behandelt Peter Janich 28 und kommt zu dem Schluß, daß die Einmaligkeit von Ereignisfolgen auf der Grundlage des Handelnkönnens konstruiert werden kann. Er geht, im Gefolge des Erlanger Konstrukti- 23 Vgl. Peter Janich, Die Protophysik der Zeit, Frankfurt/M. 1980; A.M.K. Müller, Das unbekannte Land. Konflikt-Fall Natur. Erfahrungen und Visionen im Horizont der offenen Zeit, Stuttgart 1987 (Müller, Das unbekannte Land). 24 Mohr, Zeitbewußtsein 192. 25 Die Wahrnehmung von Zeitlichkeit bewegt sich also auf der zweiten Stufe des Wahrnehmungskomplexes. Ulrich Pothast, Erfordernis und Grenzen des Erfindens. Über den Umgang der Person mit dem Vergangenen, in: Forum für Philosophie, Zeiterfahrung 158–180, bemerkt dazu: „Für ihre eigene, vortheoretische Wahrnehmung sind Personen Wesen, die sich als in der Zeit lebend erfahren und sprachlich auf sich selbst wie auf zeitlich beständige Einheiten Bezug nehmen, mindestens in bestimmten zeitlichen Grenzen“ (161). 26 Dieter Sturma, Person und Zeit (Sturma, Person), in: Forum für Philosophie, Zeiterfahrung, 123–157, hier 144. 27 Sturma, Person schreibt: „In handlungstheoretischer Hinsicht muß sogar von einer Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft gesprochen werden. Denn in handlungstheoretischen Entscheidungssituationen müssen die Gründe der Gegenwart und Zukunft in letzter Konsequenz Vorrang vor den Gründen der Vergangenheit haben, da es unsinnig wäre, an Gründen, die in der Gegenwart keine Geltung mehr haben, nur deswegen festzuhalten, weil sie Gründe der Vergangenheit sind. Man kann daher von einem handlungstheoretischen Zeitpfeil sprechen, der in den internen Korrekturprozessen des personalen Lebens der Zukunftsperspektive einen größeren Stellenwert zuweist. Es dürfte im Einzelfall allerdings kaum möglich sein, Vergangenheit und Zukunft trennscharf auszudifferenzieren, da die Last der Vergangenheit sich auf vermittelte Weise selbst in den auf Zukunft ausgerichteten Korrekturprozessen äußert – in den Handlungsgeschichten ist die Vergangenheit aufgehoben, nicht verschwunden“ (141). 28 Peter Janich, Einmaligkeit und Wiederholbarkeit. Ein erkenntnistheoretischer Versuch über die Zeit (Janich, Einmaligkeit), in: Forum für Philosophie, Zeiterfahrung 247–263. 39

Zeit an sich, als „harter Realität“, wäre der Physik oder der Protophysik zuzuordnen, 23<br />

die Frage nach der Erfahrung von Zeit der „Bewußtseinsphilosophie“. Mit Georg Mohr<br />

meine ich, daß „das, was man „Bewußtseinsphilosophie“ nennt, <strong>im</strong> Hinblick auf eine<br />

Explikation unseres Zeitbewußtseins eine geeignete Methode ist, instruktive Aussagen<br />

zu machen“ 24 .<br />

Dabei ist die Zeitlichkeit als solche ein Phänomen vor aller Reflexion. 25 Im Blick auf<br />

das praktische Weltverhältnis entwickeln Personen aber auch eine Form von Zeitneutralität,<br />

weil erst durch sie Handlungsgründe „Werte über die Zeit hinweg repräsentieren“.<br />

Damit ist auf das Problem hingewiesen, daß es für das Weltverhalten notwendig ist,<br />

Orientierungen oder Haltungen zu besitzen, die nicht völlig zeitrelativ sind; für eine<br />

tragfähige Daseins- und Handlungsorientierung müssen Überzeugungen vorhanden sein,<br />

die sich auch <strong>im</strong> Lauf der Zeit bewähren. Daß diese Überzeugungen „mit der Zeit“ geworden<br />

sind, tut ihrer notwendigen Funktion keinen Abbruch. Zeitneutralität ist deshalb<br />

„praktischer Ausdruck des Bewußtseins vernünftiger Individuen, daß sie als zeitlich<br />

ausgedehnte Personen in der Zeit ihr Leben zu führen haben“ 26 . Aus handlungstheoretischen<br />

Überlegungen heraus entwickelt Dieter Sturma ein lineares Zeitverständnis, einen<br />

„handlungstheoretischen Zeitpfeil“, innerhalb dessen die Zukunftsperspektive einen<br />

größeren Stellenwert als die Vergangenheit bekommt. 27<br />

2.2.2.4 Zeit, Handeln und Sprache<br />

Die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis von Zeit behandelt Peter Janich 28 und<br />

kommt zu dem Schluß, daß die Einmaligkeit von Ereignisfolgen auf der Grundlage des<br />

Handelnkönnens konstruiert werden kann. Er geht, <strong>im</strong> Gefolge des Erlanger Konstrukti-<br />

23<br />

Vgl. Peter Janich, Die Protophysik der Zeit, Frankfurt/M. 1980; A.M.K. Müller, Das unbekannte<br />

Land. Konflikt-Fall Natur. Erfahrungen und Visionen <strong>im</strong> Horizont der offenen Zeit, Stuttgart 1987<br />

(Müller, Das unbekannte Land).<br />

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Mohr, Zeitbewußtsein 192.<br />

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Die Wahrnehmung von Zeitlichkeit bewegt sich also auf der zweiten Stufe des Wahrnehmungskomplexes.<br />

Ulrich Pothast, Erfordernis und Grenzen des Erfindens. Über den Umgang der Person<br />

mit dem Vergangenen, in: Forum für Philosophie, Zeiterfahrung 158–180, bemerkt dazu: „Für ihre<br />

eigene, vortheoretische Wahrnehmung sind Personen Wesen, die sich als in der Zeit lebend erfahren<br />

und sprachlich auf sich selbst wie auf zeitlich beständige Einheiten Bezug nehmen, mindestens in best<strong>im</strong>mten<br />

zeitlichen Grenzen“ (161).<br />

26<br />

Dieter Sturma, Person und Zeit (Sturma, Person), in: Forum für Philosophie, Zeiterfahrung, 123–157,<br />

hier 144.<br />

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Sturma, Person schreibt: „In handlungstheoretischer Hinsicht muß sogar von einer Asymmetrie zwischen<br />

Vergangenheit und Zukunft gesprochen werden. Denn in handlungstheoretischen Entscheidungssituationen<br />

müssen die Gründe der Gegenwart und Zukunft in letzter Konsequenz Vorrang vor<br />

den Gründen der Vergangenheit haben, da es unsinnig wäre, an Gründen, die in der Gegenwart keine<br />

Geltung mehr haben, nur deswegen festzuhalten, weil sie Gründe der Vergangenheit sind. Man kann<br />

daher von einem handlungstheoretischen Zeitpfeil sprechen, der in den internen Korrekturprozessen<br />

des personalen Lebens der Zukunftsperspektive einen größeren Stellenwert zuweist. Es dürfte <strong>im</strong><br />

Einzelfall allerdings kaum möglich sein, Vergangenheit und Zukunft trennscharf auszudifferenzieren,<br />

da die Last der Vergangenheit sich auf vermittelte Weise selbst in den auf Zukunft ausgerichteten<br />

Korrekturprozessen äußert – in den Handlungsgeschichten ist die Vergangenheit aufgehoben, nicht<br />

verschwunden“ (141).<br />

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Peter Janich, Einmaligkeit und Wiederholbarkeit. Ein erkenntnistheoretischer Versuch über die Zeit<br />

(Janich, Einmaligkeit), in: Forum für Philosophie, Zeiterfahrung 247–263.<br />

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