Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau
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ser Vorstellung als eine Abstraktion einer ursprünglichen, punktuell und lokal relevanten<br />
Zeiterfahrung, die ihrerseits allerdings bereits eine Ereigniskette darstellte,<br />
gebildet. 15 Man kann mit Wilhelm Dupré festhalten, daß Zeit-Lernen „als ein wesentliches<br />
Moment des Orientierungs- und Identifizierungsprozesses zu verstehen“ 16 und insofern<br />
eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Ausbildung eines subjektiven<br />
Bewußtseins ist. 17 Wir können also festhalten, daß das Bewußtsein von „Zeit“ gebildet<br />
bzw. ausgebildet werden muß. Wie kommt es nun <strong>im</strong> einzelnen zu einer Vorstellung<br />
von Zeit?<br />
2.2.2.2 Empirisch-exper<strong>im</strong>entelle Zeitwahrnehmung<br />
William James 18 kommt in seinen Überlegungen, die sich auf empirische Untersuchungen<br />
stützen, zu dem Schluß, daß für die Wahrnehmung von Zeit der Ablauf von Vergangenheit<br />
– Gegenwart – Zukunft entscheidend ist. Die Wahrnehmung dieser modalen<br />
Zeit geschieht in der Gegenwart, die aber – entgegen Augustins Ansicht – nicht auf<br />
einen Punkt zusammenschmilzt, sondern eine gewisse Dauer besitzt. Sie hat in der Vergangenheit<br />
unscharfe Ränder und ist in sich als „früher – später“ strukturiert. Es gäbe<br />
also nach James keine scharfe Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sein<br />
empirischer Ansatz führt dazu, daß über die Grenze von Gegenwart und Zukunft nichts<br />
ausgesagt werden kann, weil sich in der Gegenwart des Exper<strong>im</strong>ents über die Zukunft<br />
nichts sagen läßt. James’ Ansatz beschränkt sich auf ein Messen der Zeit, auf einen<br />
quantifizierenden Zugang. Er nennt nun diese spezifische zu messende Gegenwart<br />
„specious present“ 19 und schreibt ihr eine „Länge von einigen Sekunden bis zu wahr-<br />
sie Früchte verspeisen, <strong>im</strong> Gegensatz zu Steinen. Mit anderen Worten, sie besitzen dafür bereits unbewußte,<br />
operationelle sensori-motorische Schemata. Ganz ähnlich perzipieren sie die Invarianzen,<br />
auf denen Raum und Zeit beruhen, zunächst nur handelnd und erlebend, bevor sie die entsprechenden<br />
abstrakten Begriffe bilden“ (ebda.). Nun existieren zwar die einzeln eßbaren Äpfel usw., deren Eßbarkeit<br />
durch Versuch und Irrtum oder Lernen erkannt wird, der Begriff der Klasse von Früchten als<br />
Klasse und Begriff aber kommt erst durch Abstraktion, durch die Herstellung interner Relationen,<br />
zustande und wird dann auch rückblickend angewendet. Analog gibt es das Erleben von Werden und<br />
Vergehen, der Begriff der Zeit aber kommt erst durch Reflexion zustande. Ciompi steht mit seiner<br />
Aussage in der Tradition Platons, wenn er Begriffe als historische und noetische Entitäten mit einer<br />
eigenen Realität versteht. Das „Apriori“ von Raum und Zeit verstehen wir mit Kant nicht als „real“,<br />
sondern als transzendental, oder, vorsichtiger formuliert, sollte man bei Aussagen über die Realität<br />
von Zeit mindestens die Differenzierungen zwischen Zeitlichkeit, Zeitreihen und einem abstrakten<br />
Zeitbegriff berücksichtigen, auf die wir noch kommen werden.<br />
15 „Zeit“ konnte „zunächst nichts Kontinuierliches und Umfassendes, sondern bloß etwas Punktuelles<br />
und Lokales sein. (…) Vorerst war da nichts als ein isolierter Zusammenhang zwischen relativ kurzen<br />
<strong>Fragment</strong>en von örtlichen Ereignisketten, die für best<strong>im</strong>mte menschliche Gruppen aus irgendwelchen<br />
praktischen Gründen beachtenswert wurden.“ Ciompi nennt als Beispiel dafür neben Saat- und Erntearbeiten<br />
auch rituelle Handlungen, die in privilegierten Momenten wie Tag- und Nachtgleiche oder<br />
Sonnenwende vorgenommen wurden (232f).<br />
16 Wilhelm Dupré, Art. Zeit, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hg. v. H. Krings / H.M.<br />
Baumgartner / C. Wild, München 1974, Studienausgabe Bd. 6, 1799–1816 (Dupré, Art. Zeit), hier<br />
1806.<br />
17 Siehe dazu unten 1.4. Subjekt und <strong>Geschichte</strong>.<br />
18 William James, Die Wahrnehmung der Zeit (1886) (James, Wahrnehmung), in: Walther Chr. Z<strong>im</strong>merli<br />
/ Mike Sandbothe, Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 1993 (Z<strong>im</strong>merli / Sandbothe,<br />
Klassiker), 31–66.<br />
19 A.a.O. 34, <strong>im</strong> Rückgriff auf E.R. Clay. Die Bezeichnung „scheinbare Gegenwart“, a.a.O. 34, die von<br />
Z<strong>im</strong>merli/Sandbothe, Klassiker, 16 Anm. 98, aufgenommen wird, ist m.E. mißverständlich. Joach<strong>im</strong><br />
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