Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

ner Umwelt und zu sich selbst. Diese Fähigkeit zur (Selbst-)Relation, zum „Ich“-Sagen- Können des Menschen, ist eine weitere Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung auch von Zeit. Man kann den Prozeß der Wahrnehmung als ein Geschehen mit drei Stufen verstehen. Auf einer ersten Stufe kann man von Ursprungsimpressionen, von ersten Eindrücken sprechen, die man hat. Auf einer zweiten Stufe werden diese Impressionen gedeutet, interpretiert, strukturiert. Auf einer dritten Stufe findet eine Reflexion auf diese Impressionen und ihre Deutung statt. Während die erste Stufe als Vermögen der physiologischen Beschaffenheit zuzuordnen ist, implizieren die Stufen zwei und drei transzendentale Aspekte des menschlichen Bewußtseins. Man kann diese drei Stufen auch als Zeitwahrnehmung, Zeitstrukturierung und Zeitbewußtsein bezeichnen. Wie kommt es nun auf dem Hintergrund dieser anthropologischen Voraussetzungen zur Wahrnehmung und zum Bewußtsein von Zeit? 2.2.2.1 Die Entstehung von Zeitbewußtsein Aufgrund psychologischer Forschungsergebnisse können wir davon ausgehen, daß es einen angeborenen Zeitsinn nicht gibt, übrigens ebensowenig wie einen Raumsinn. Zeit und Raum müssen als Begriff im Laufe des Lebens, von den ersten Lebenstagen bis in die Adoleszenz erst konstruiert werden. 12 Bei anderen Wahrnehmungsformen, wie Sehen und Hören, muß das Wahrgenommene weniger konstruiert als vielmehr gedeutet werden. Dieses Deuten ist im Blick auf Zeiterfahrung erst der zweite Schritt; ich werde darauf unter den Aspekten Handlung, Subjekt und Geschichte als gedeutete Zeit zurückkommen. Die Zeit- und Raumbegriffe bilden sich beim Kind „aus Ereignissen“. 13 Luc Ciompi versteht Raum und Zeit dabei als Oberbegriffe, als „Abstrakta“, die einer logisch höheren Klasse als die Ereignisse angehören und ein „Gefüge von Relationen zwischen solchen Ereignissen“ bezeichnen. 14 Der Begriff der Zeit als eines ordnenden wird nach die- per, als Selbst und als Ich, von dem aus er eine exzentrische Position einnehmen kann. Vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), Berlin 1965 2 . 12 „Zunächst ist hervorzuheben, daß nach den heute vorliegenden Forschungsergebnissen die Erfassung von zeitlichen Verhältnissen keineswegs, wie die Psychologie insbesondere unter dem Einfluß Bergsons lange annahm, aufgrund eines angeborenen „Zeitsinns“ sozusagen von vornherein gegeben ist. Das gleiche gilt für den Raum. Vielmehr müssen offensichtlich beide, die Erfassung von Zeit wie von Raum, ganz gleich wie alle übrigen kognitiven Begriffe in einem äußerst langwierigen Prozeß von den ersten Lebenstagen bis in die Adoleszenz erst Schritt für Schritt „konstruiert“ werden. Bedeutsamerweise stellen Zeit und Raum also im psychischen Bereich ebensowenig etwas „a priori“ Gegebenes dar wie im physischen“. So Luc Ciompi, Außenwelt – Innenwelt. Die Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen, Göttingen 1988, 215. 13 Ciompi 216 unter Berufung auf Piaget. 14 Ciompi 228, unter Verweis auf Bieri, Zeiterfahrung. Er fährt dann fort: „Obwohl deshalb nur der evoluierte Mensch sie zu verstehen vermag, kann dies meines Erachtens keineswegs bedeuten – um in einer vieldiskutierten Streitfrage Stellung zu nehmen –, daß es Zeit und Raum außerhalb oder vor ihm gar nicht gäbe. Es gibt die Abstrakta ‚Zeit‘ und ‚Raum‘ tatsächlich genau so, wie es unabhängig von Menschen unendlich viele abstrakt-relationelle Gefüge gibt!“ Ciompis Argument für die Existenz von Raum und Zeit vor oder außerhalb des Menschen, genauer: der Erkenntnis des Menschen, ist aber nicht stichhaltig. Er belegt seine These mit einem Beispiel: „Die Klasse der Früchte zum Beispiel existiert unabhängig vom Menschen aufgrund bestimmter Gemeinsamkeiten zwischen Äpfeln, Pfirsichen und Bananen usw., auch wenn da niemand ist, der diese Gemeinsamkeiten bewußt erkennt. Bereits das Tier und der primitive Mensch nehmen sie jedoch handelnd wahr, beispielsweise indem 36

ser Vorstellung als eine Abstraktion einer ursprünglichen, punktuell und lokal relevanten Zeiterfahrung, die ihrerseits allerdings bereits eine Ereigniskette darstellte, gebildet. 15 Man kann mit Wilhelm Dupré festhalten, daß Zeit-Lernen „als ein wesentliches Moment des Orientierungs- und Identifizierungsprozesses zu verstehen“ 16 und insofern eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Ausbildung eines subjektiven Bewußtseins ist. 17 Wir können also festhalten, daß das Bewußtsein von „Zeit“ gebildet bzw. ausgebildet werden muß. Wie kommt es nun im einzelnen zu einer Vorstellung von Zeit? 2.2.2.2 Empirisch-experimentelle Zeitwahrnehmung William James 18 kommt in seinen Überlegungen, die sich auf empirische Untersuchungen stützen, zu dem Schluß, daß für die Wahrnehmung von Zeit der Ablauf von Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft entscheidend ist. Die Wahrnehmung dieser modalen Zeit geschieht in der Gegenwart, die aber – entgegen Augustins Ansicht – nicht auf einen Punkt zusammenschmilzt, sondern eine gewisse Dauer besitzt. Sie hat in der Vergangenheit unscharfe Ränder und ist in sich als „früher – später“ strukturiert. Es gäbe also nach James keine scharfe Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sein empirischer Ansatz führt dazu, daß über die Grenze von Gegenwart und Zukunft nichts ausgesagt werden kann, weil sich in der Gegenwart des Experiments über die Zukunft nichts sagen läßt. James’ Ansatz beschränkt sich auf ein Messen der Zeit, auf einen quantifizierenden Zugang. Er nennt nun diese spezifische zu messende Gegenwart „specious present“ 19 und schreibt ihr eine „Länge von einigen Sekunden bis zu wahr- sie Früchte verspeisen, im Gegensatz zu Steinen. Mit anderen Worten, sie besitzen dafür bereits unbewußte, operationelle sensori-motorische Schemata. Ganz ähnlich perzipieren sie die Invarianzen, auf denen Raum und Zeit beruhen, zunächst nur handelnd und erlebend, bevor sie die entsprechenden abstrakten Begriffe bilden“ (ebda.). Nun existieren zwar die einzeln eßbaren Äpfel usw., deren Eßbarkeit durch Versuch und Irrtum oder Lernen erkannt wird, der Begriff der Klasse von Früchten als Klasse und Begriff aber kommt erst durch Abstraktion, durch die Herstellung interner Relationen, zustande und wird dann auch rückblickend angewendet. Analog gibt es das Erleben von Werden und Vergehen, der Begriff der Zeit aber kommt erst durch Reflexion zustande. Ciompi steht mit seiner Aussage in der Tradition Platons, wenn er Begriffe als historische und noetische Entitäten mit einer eigenen Realität versteht. Das „Apriori“ von Raum und Zeit verstehen wir mit Kant nicht als „real“, sondern als transzendental, oder, vorsichtiger formuliert, sollte man bei Aussagen über die Realität von Zeit mindestens die Differenzierungen zwischen Zeitlichkeit, Zeitreihen und einem abstrakten Zeitbegriff berücksichtigen, auf die wir noch kommen werden. 15 „Zeit“ konnte „zunächst nichts Kontinuierliches und Umfassendes, sondern bloß etwas Punktuelles und Lokales sein. (…) Vorerst war da nichts als ein isolierter Zusammenhang zwischen relativ kurzen Fragmenten von örtlichen Ereignisketten, die für bestimmte menschliche Gruppen aus irgendwelchen praktischen Gründen beachtenswert wurden.“ Ciompi nennt als Beispiel dafür neben Saat- und Erntearbeiten auch rituelle Handlungen, die in privilegierten Momenten wie Tag- und Nachtgleiche oder Sonnenwende vorgenommen wurden (232f). 16 Wilhelm Dupré, Art. Zeit, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hg. v. H. Krings / H.M. Baumgartner / C. Wild, München 1974, Studienausgabe Bd. 6, 1799–1816 (Dupré, Art. Zeit), hier 1806. 17 Siehe dazu unten 1.4. Subjekt und Geschichte. 18 William James, Die Wahrnehmung der Zeit (1886) (James, Wahrnehmung), in: Walther Chr. Zimmerli / Mike Sandbothe, Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 1993 (Zimmerli / Sandbothe, Klassiker), 31–66. 19 A.a.O. 34, im Rückgriff auf E.R. Clay. Die Bezeichnung „scheinbare Gegenwart“, a.a.O. 34, die von Zimmerli/Sandbothe, Klassiker, 16 Anm. 98, aufgenommen wird, ist m.E. mißverständlich. Joachim 37

ner Umwelt und zu sich selbst. Diese Fähigkeit zur (Selbst-)Relation, zum „Ich“-Sagen-<br />

Können des Menschen, ist eine weitere Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung<br />

auch von Zeit. Man kann den Prozeß der Wahrnehmung als ein Geschehen mit drei Stufen<br />

verstehen. Auf einer ersten Stufe kann man von Ursprungs<strong>im</strong>pressionen, von ersten<br />

Eindrücken sprechen, die man hat. Auf einer zweiten Stufe werden diese Impressionen<br />

gedeutet, interpretiert, strukturiert. Auf einer dritten Stufe findet eine Reflexion auf<br />

diese Impressionen und ihre Deutung statt. Während die erste Stufe als Vermögen der<br />

physiologischen Beschaffenheit zuzuordnen ist, <strong>im</strong>plizieren die Stufen zwei und drei<br />

transzendentale Aspekte des menschlichen Bewußtseins. Man kann diese drei Stufen<br />

auch als Zeitwahrnehmung, Zeitstrukturierung und Zeitbewußtsein bezeichnen.<br />

Wie kommt es nun auf dem Hintergrund dieser anthropologischen Voraussetzungen zur<br />

Wahrnehmung und zum Bewußtsein von Zeit?<br />

2.2.2.1 Die Entstehung von Zeitbewußtsein<br />

Aufgrund psychologischer Forschungsergebnisse können wir davon ausgehen, daß es<br />

einen angeborenen Zeitsinn nicht gibt, übrigens ebensowenig wie einen Raumsinn. Zeit<br />

und Raum müssen als Begriff <strong>im</strong> Laufe des Lebens, von den ersten Lebenstagen bis in<br />

die Adoleszenz erst konstruiert werden. 12 Bei anderen Wahrnehmungsformen, wie Sehen<br />

und Hören, muß das Wahrgenommene weniger konstruiert als vielmehr gedeutet<br />

werden. Dieses Deuten ist <strong>im</strong> Blick auf Zeiterfahrung erst der zweite Schritt; ich werde<br />

darauf unter den Aspekten Handlung, Subjekt und <strong>Geschichte</strong> als gedeutete Zeit zurückkommen.<br />

Die Zeit- und Raumbegriffe bilden sich be<strong>im</strong> Kind „aus Ereignissen“. 13 Luc Ciompi<br />

versteht Raum und Zeit dabei als Oberbegriffe, als „Abstrakta“, die einer logisch höheren<br />

Klasse als die Ereignisse angehören und ein „Gefüge von Relationen zwischen solchen<br />

Ereignissen“ bezeichnen. 14 Der Begriff der Zeit als eines ordnenden wird nach die-<br />

per, als Selbst und als Ich, von dem aus er eine exzentrische Position einnehmen kann. Vgl. Helmuth<br />

Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), Berlin 1965 2 .<br />

12 „Zunächst ist hervorzuheben, daß nach den heute vorliegenden Forschungsergebnissen die Erfassung<br />

von zeitlichen Verhältnissen keineswegs, wie die Psychologie insbesondere unter dem Einfluß<br />

Bergsons lange annahm, aufgrund eines angeborenen „Zeitsinns“ sozusagen von vornherein gegeben<br />

ist. Das gleiche gilt für den Raum. Vielmehr müssen offensichtlich beide, die Erfassung von Zeit wie<br />

von Raum, ganz gleich wie alle übrigen kognitiven Begriffe in einem äußerst langwierigen Prozeß<br />

von den ersten Lebenstagen bis in die Adoleszenz erst Schritt für Schritt „konstruiert“ werden. Bedeutsamerweise<br />

stellen Zeit und Raum also <strong>im</strong> psychischen Bereich ebensowenig etwas „a priori“<br />

Gegebenes dar wie <strong>im</strong> physischen“. So Luc Ciompi, Außenwelt – Innenwelt. Die Entstehung von<br />

Zeit, Raum und psychischen Strukturen, Göttingen 1988, 215.<br />

13 Ciompi 216 unter Berufung auf Piaget.<br />

14 Ciompi 228, unter Verweis auf Bieri, Zeiterfahrung. Er fährt dann fort: „Obwohl deshalb nur der<br />

evoluierte Mensch sie zu verstehen vermag, kann dies meines Erachtens keineswegs bedeuten – um<br />

in einer vieldiskutierten Streitfrage Stellung zu nehmen –, daß es Zeit und Raum außerhalb oder vor<br />

ihm gar nicht gäbe. Es gibt die Abstrakta ‚Zeit‘ und ‚Raum‘ tatsächlich genau so, wie es unabhängig<br />

von Menschen unendlich viele abstrakt-relationelle Gefüge gibt!“ Ciompis Argument für die Existenz<br />

von Raum und Zeit vor oder außerhalb des Menschen, genauer: der Erkenntnis des Menschen, ist<br />

aber nicht stichhaltig. Er belegt seine These mit einem Beispiel: „Die Klasse der Früchte zum Beispiel<br />

existiert unabhängig vom Menschen aufgrund best<strong>im</strong>mter Gemeinsamkeiten zwischen Äpfeln,<br />

Pfirsichen und Bananen usw., auch wenn da niemand ist, der diese Gemeinsamkeiten bewußt erkennt.<br />

Bereits das Tier und der pr<strong>im</strong>itive Mensch nehmen sie jedoch handelnd wahr, beispielsweise indem<br />

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