Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

Damit folge ich der neuzeitlichen Einsicht, die Erfahrung als den Zugang zur Wirklichkeit versteht, 2 im Gegensatz zu dem Versuch, in vernünftiger Reflexion das „Wesen“ einer Sache zu erheben, wie es die traditionelle Metaphysik mit ihrer Wesensontologie versuchte. 3 Neben die Erfahrung tritt dabei die Methode. Der Zugang zu Wirklichkeitsphänomenen über die Erfahrung ist damit auch theoriebegleitet und vollzieht sich sowohl subjektiv als auch intersubjektiv. Als Erkenntnisquelle ist der Weg über die Erfahrung darin allerdings auch problematisch, daß Erfahrung trügen kann. Diese Gefahr wird durch die Verbindung mit Theorie zu vermeiden gesucht. Auch macht die Wahrnehmung allein noch keine Erfahrung aus, denn es bedarf des Allgemeinen als Folie zum Festhalten der wechselnden Eindrücke. Es ist weiter festzuhalten, daß in der Erfahrungsperspektive eine Letztbegründung nicht geleistet werden kann. 4 Dennoch erscheint unter den neuzeitlichen Bedingungen der Weg über die Erfahrung als der angemessenste, zumal im Blick auf das Phänomen Zeit. Zu den Erfahrungen der Zeitlichkeit gehören Erfahrungen, die uns Ablauf, Anfang und Ende der Zeit erschließen. Am elementarsten mag in dieser Beziehung die Lebenszeit sein. Geborenwerden und Sterben sind die unhintergehbaren Endpunkte dieser Zeit. Sie markieren die Abgeschlossenheit einer individuellen Lebenszeit. Nahezu alles Nachdenken über die Zeit geht von dieser existentiellen Erfahrung der Vergänglichkeit der Zeit aus. Zugleich wird durch die Entwicklung des menschlichen Lebens die Wahrnehmung und Erfahrung von Zeit strukturiert. Man kann sich das sehr leicht an der Entwicklung eines menschlichen Säuglings vergegenwärtigen. Seine Welt ist voller Veränderungen. Allmählich tauchen einige dauerhafte Strukturen auf, wie der Kreislauf von Hunger und Sattsein, Schlafen und Wachen, Tag und Nacht. Dazu kommen nichtzyklische dauerhafte Umstände, die wahrgenommen werden, wie Mutter, Vater, das Bett; dann auch Möbelstücke, Kennzeichen der Umgebung usw. 5 Erfahrung mit der Zeit machen wir aber auch durch Rhythmen und Kreisläufe. Jahreszeiten z.B. wecken Erinnerungen und Erwartungen. Dabei kann die mit der Zeit verbundene Empfindung beim Erleben und beim Erinnern durchaus unterschiedlich sein. Ein typisches und allgemein erfahrenes Beispiel dafür ist die Erfahrung, daß „tätig und kommunikativ erfüllte Zeit gegenwärtig eine Zeit der kurzen Weile und als im Rückblick vergegenwärtigte Zeit lange Zeit sei, Zeit gegenwärtiger Langeweile hingegen als im Rückblick vergegenwärtigte Zeit rasch entschwundene Zeit“ 6 . Unter diesem Gesichtspunkt gehört die Erfahrung von Zeit und ihrer Vergänglichkeit zur Klasse der subjektiven Erfahrungen mit Widerfahrnischarakter; diese sind nicht machbar oder experimentell wiederholbar. Angeregt wird die Erfahrung von Zeit primär durch das Erleben von Veränderung. Erst auf einer zweiten Stufe wird Zeit „direkt“ erfahren, sei es durch den Blick auf die Uhr oder die Reflexion auf Veränderung. 7 Erfahrung mit der 2 Vgl. Joachim Track, Art. Erfahrung III/2. Neuzeit, TRE 10, 116–128. 3 Vgl. Friedrich Kaulbach, Art. Erkenntnis/Erkenntnistheorie, TRE 10, 144–159, bes. 146ff. 4 Zum Problem der Begründung vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1991 5 , bes. 9ff. 5 Vgl. J.T. Fraser, Die Zeit. Vertraut und fremd, Basel/Boston/Berlin 1988, 23. 6 Hermann Lübbe, Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin/Heidelberg/New York 1992, 363. 7 Dabei stellt der Blick auf die Uhr allerdings primär wiederum nur eine räumliche Veränderung der Zeiger fest bzw. bei digitalen Uhren die numerische Veränderung. 34

Zeit kann nur in der Zeit gemacht werden. Die Begrenztheit und Endlichkeit von Lebenszeit evoziert ein analoges Verständnis der allgemeinen Zeit als endlicher und abgeschlossener. 8 Die Aspekte von Veränderung, Zyklen und Endlichkeit finden sich als konstitutive Elemente von individueller und allgemeiner Zeiterfahrung. Durch sie erfahren wir Zeit als Vergangenheit, als Gegenwart und als Zukunft. Empirische Untersuchungen, die auf experimentelle Erfahrung abheben, sollen am Beginn der Analyse des Problemfeldes stehen. Danach werde ich auf philosophische Untersuchungen eingehen, die auch auf existentielle Erfahrung abheben. 2.2.2 Empirische und psychologische Wahrnehmung der Zeit Wie jede Wahrnehmung hängt auch die Wahrnehmung der Zeit von physischen und psychischen Dispositionen ab. Nun gibt es aber für die Wahrnehmung der Zeit kein direktes Organ, wie für den Schall das Gehör, für das Licht das Auge oder den Raum den Tastsinn. 9 Die Zeit nehmen wir nicht direkt war, sondern indirekt anhand stattgefundener oder stattfindender Veränderungen. Sie ist im strengen Sinn also kein unmittelbar wahrnehmbarer Gegenstand, sondern, wie Kant sagt, eine „Anschauungsform“, die Wahrnehmungen strukturiert. Zeitwahrnehmung liegt somit hinter oder über allen anderen Wahrnehmungen. Bevor wir auf die Zeitwahrnehmung selbst eingehen, empfiehlt es sich, die Möglichkeitsbedingungen der Zeitwahrnehmung zu bedenken. Zu diesen Möglichkeitsbedingungen gehört zunächst die Fähigkeit, überhaupt Wahrnehmungen zu haben. Wahrnehmungen setzen Bewußtsein voraus. Bewußtsein, so zeigt sowohl die empirische als auch die philosophische Anthropologie, ist ein wesentliches Merkmal des Menschen. Bewußtsein ist (mit) bedingt durch die Weltoffenheit (Gehlen) 10 und die Exzentrizität (Plessner) 11 des Menschen. Der Mensch kann und muß sich verhalten zu sei- 8 Vgl. Odo Marquard, Zeit und Endlichkeit, in: ders.: Skepsis und Zustimmung, Philosophische Studien, Stuttgart 1994, 45–58. 9 Das grundsätzliche Problem der Existenz einer Außenwelt, also die Frage, ob es über die Wahrnehmung hinaus etwas „wirklich“ gibt, wird im Verlauf der Arbeit immer wieder begegnen. Darum hier in aller Kürze die Vorentscheidungen, von denen ich ausgehen werde. Wir begegnen einer Außenwelt niemals unmittelbar, sondern immer durch Wahrnehmung vermittelt. Über eine Wirklichkeit jenseits der Wahrnehmung können wir keine überprüfbaren Aussagen machen. Allerdings gelingt es vermittels der Sprache immer wieder, in gewissem Umfang Einverständnis über eine begegnende Wirklichkeit herzustellen; diese intersubjektive, kommunikative „Feststellung“ von Wirklichkeit ist aber stets auf Bewährung angewiesen. Umstritten ist, ob unmittelbare Wahrnehmungen vorsprachlicher Art möglich sind oder ob jede Welt sprachlich-gedanklich konstruiert ist. Ich versuche eine mittlere Position einzunehmen, die zum einen davon ausgeht, daß wir zwar Wahrnehmungen machen können, die auf eine reale Außenwelt schließen lassen, daß aber zugleich die sprachliche Konstitution und Vermittlung dieser Wahrnehmung die Grenze ist, über die wir in einer Analyse nicht hinweg können. Insofern verstehe ich den Menschen zum einen als Wesen, das transzendieren kann, das sowohl Erfahrung als auch Sprache überschreiten kann; zum andern als ein Wesen, für das Wittgensteins Satz gilt: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“. (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/M., 1982 16 , Nr. 5.6). 10 Weltoffenheit ist in der Anthropologie Gehlens das Pendant zur Verfassung des Menschen als Mängelwesen. Die Bedrohtheit des Menschen durch seine Instinktreduktion wird durch seine Verhaltensmöglichkeiten, seine Weltoffenheit und Lernfähigkeit aufgehoben. Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt (1940), Wiesbaden 1986 13 . 11 Nach Plessner zeichnet sich alles Lebendige durch seine Positionalität aus, d.h. durch sein Gegenüber zur Umwelt. Für den Menschen wesentlich ist, daß er sich vermittels seiner Reflexivität zu sich selbst verhalten kann, aus sich heraustreten. Er ist nicht zentriert wie die Tiere, sondern erfaßt sich als Kör- 35

Zeit kann nur in der Zeit gemacht werden. Die Begrenztheit und Endlichkeit von Lebenszeit<br />

evoziert ein analoges Verständnis der allgemeinen Zeit als endlicher und abgeschlossener.<br />

8 Die Aspekte von Veränderung, Zyklen und Endlichkeit finden sich als<br />

konstitutive Elemente von individueller und allgemeiner Zeiterfahrung. Durch sie erfahren<br />

wir Zeit als Vergangenheit, als Gegenwart und als Zukunft.<br />

Empirische Untersuchungen, die auf exper<strong>im</strong>entelle Erfahrung abheben, sollen am Beginn<br />

der Analyse des Problemfeldes stehen. Danach werde ich auf philosophische Untersuchungen<br />

eingehen, die auch auf existentielle Erfahrung abheben.<br />

2.2.2 Empirische und psychologische Wahrnehmung der Zeit<br />

Wie jede Wahrnehmung hängt auch die Wahrnehmung der Zeit von physischen und<br />

psychischen Dispositionen ab. Nun gibt es aber für die Wahrnehmung der Zeit kein direktes<br />

Organ, wie für den Schall das Gehör, für das Licht das Auge oder den Raum den<br />

Tastsinn. 9 Die Zeit nehmen wir nicht direkt war, sondern indirekt anhand stattgefundener<br />

oder stattfindender Veränderungen. Sie ist <strong>im</strong> strengen Sinn also kein unmittelbar<br />

wahrnehmbarer Gegenstand, sondern, wie Kant sagt, eine „Anschauungsform“, die<br />

Wahrnehmungen strukturiert. Zeitwahrnehmung liegt somit hinter oder über allen anderen<br />

Wahrnehmungen. Bevor wir auf die Zeitwahrnehmung selbst eingehen, empfiehlt es<br />

sich, die Möglichkeitsbedingungen der Zeitwahrnehmung zu bedenken. Zu diesen Möglichkeitsbedingungen<br />

gehört zunächst die Fähigkeit, überhaupt Wahrnehmungen zu haben.<br />

Wahrnehmungen setzen Bewußtsein voraus. Bewußtsein, so zeigt sowohl die empirische<br />

als auch die philosophische Anthropologie, ist ein wesentliches Merkmal des<br />

Menschen. Bewußtsein ist (mit) bedingt durch die Weltoffenheit (Gehlen) 10 und die Exzentrizität<br />

(Plessner) 11 des Menschen. Der Mensch kann und muß sich verhalten zu sei-<br />

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Vgl. Odo Marquard, Zeit und Endlichkeit, in: ders.: Skepsis und Zust<strong>im</strong>mung, Philosophische Studien,<br />

Stuttgart 1994, 45–58.<br />

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Das grundsätzliche Problem der Existenz einer Außenwelt, also die Frage, ob es über die Wahrnehmung<br />

hinaus etwas „wirklich“ gibt, wird <strong>im</strong> Verlauf der Arbeit <strong>im</strong>mer wieder begegnen. Darum hier<br />

in aller Kürze die Vorentscheidungen, von denen ich ausgehen werde. Wir begegnen einer Außenwelt<br />

niemals unmittelbar, sondern <strong>im</strong>mer durch Wahrnehmung vermittelt. Über eine Wirklichkeit<br />

jenseits der Wahrnehmung können wir keine überprüfbaren Aussagen machen. Allerdings gelingt es<br />

vermittels der Sprache <strong>im</strong>mer wieder, in gewissem Umfang Einverständnis über eine begegnende<br />

Wirklichkeit herzustellen; diese intersubjektive, kommunikative „Feststellung“ von Wirklichkeit ist<br />

aber stets auf Bewährung angewiesen. Umstritten ist, ob unmittelbare Wahrnehmungen vorsprachlicher<br />

Art möglich sind oder ob jede Welt sprachlich-gedanklich konstruiert ist. Ich versuche eine<br />

mittlere Position einzunehmen, die zum einen davon ausgeht, daß wir zwar Wahrnehmungen machen<br />

können, die auf eine reale Außenwelt schließen lassen, daß aber zugleich die sprachliche Konstitution<br />

und Vermittlung dieser Wahrnehmung die Grenze ist, über die wir in einer Analyse nicht hinweg<br />

können. Insofern verstehe ich den Menschen zum einen als Wesen, das transzendieren kann, das<br />

sowohl Erfahrung als auch Sprache überschreiten kann; zum andern als ein Wesen, für das Wittgensteins<br />

Satz gilt: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“. (Ludwig Wittgenstein,<br />

Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/M., 1982 16 , Nr. 5.6).<br />

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Weltoffenheit ist in der Anthropologie Gehlens das Pendant zur Verfassung des Menschen als Mängelwesen.<br />

Die Bedrohtheit des Menschen durch seine Instinktreduktion wird durch seine Verhaltensmöglichkeiten,<br />

seine Weltoffenheit und Lernfähigkeit aufgehoben. Vgl. Arnold Gehlen, Der<br />

Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt (1940), Wiesbaden 1986 13 .<br />

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Nach Plessner zeichnet sich alles Lebendige durch seine Positionalität aus, d.h. durch sein Gegenüber<br />

zur Umwelt. Für den Menschen wesentlich ist, daß er sich vermittels seiner Reflexivität zu sich selbst<br />

verhalten kann, aus sich heraustreten. Er ist nicht zentriert wie die Tiere, sondern erfaßt sich als Kör-<br />

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