Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

02.12.2012 Aufrufe

spielt die Dimension der Zeit eine wichtige Rolle, gerade auch bei der Bedeutung der Ereignisse gegenüber der Struktur. 1.5 Sinndeutungen Sowohl mit der Erzählung einer einzelnen Begebenheit als auch mit der Konzeption von geschichtlichen Zusammenhängen wird eine Bedeutung für die jeweilige Gegenwart verbunden. Eine Erzählung bzw. die Geschichte trägt, so wird vorausgesetzt, einen gewissen Sinn in sich. Dieser Sinn motiviert die Erzählung einer einzelnen Geschichte ebenso wie die Konzeption einer Geschichtsschau. Geschichten und Geschichte sind interessegeleitet in ihrer Konstruktion wie in ihrer Verwendung. Es läßt sich feststellen, daß in der Zeit der frühen Kirche die Konzeption von Geschichte, vor allem im Zusammenhang mit der Kanonisierung des AT und der Kirchengeschichtsschreibung, vor allem der Apologie dient. 44 Geschichte bildet kein eigenständiges Thema theologischer Reflexion, sondern die Beschäftigung mit ihr dient der Verteidigung und Begründung des christlichen Glaubens. Die Bedeutung der Geschichte liegt in ihrer Funktion, die in heilsgeschichtlichen Modellen dargestellt wird. Der heilsgeschichtliche Rahmen dieser Darstellungen wird dann auch weitgehend für die politische Geschichte bestimmend. Im 12. Jahrhundert werden einflußreiche theologische Geschichtsdeutungen entwickelt, die sich an Augustin anschließen. So denkt Hugo v. St. Viktor die Geschichte von der Christologie her; der Logos erschien als Christus in der Mitte der Zeit und der Mitte der Welt. Der Gang der Geschichte wird in verschiedenen Phasen und Entwicklungen dargestellt. Dabei kann die (damalige) gegenwärtige Zeit als Zeit des Niedergangs verstanden werden 45 oder die nahe Endzeit wird als Erfüllungszeit verstanden. Joachim von Fiore wendet diese Gedanken apokalyptisch. Die Reformatoren schätzen Geschichtskenntnisse hoch ein; sie werden vor allem für die Moral- und Glaubenserziehung als nützlich erachtet. Die formale und inhaltliche Darstellung des geschichtlichen Stoffes schließt sich an die Tradition an. Zugleich wird der Profangeschichte theologisch Vorschub geleistet, da nach Luther Gottes Macht nirgends evident ist, sondern in den Geschehnissen der Welt verborgen. 46 Implizit ist bei Luther damit auch eine Kritik an einem Konzept von Heilsgeschichte verbunden, das diese direkt mit der Weltgeschichte identifiziert. Der Gedanke des deus absconditus birgt aber auch die Gefahr in sich, die Geschichte entweder quasi zu verdoppeln oder den Aspekt der Heilsgeschichte von der politischen Geschichte loszulösen und zu verinnerlichen. 47 Die Geschichte gewann vor allem Bedeutung für die Jurisprudenz und Kirchengeschichte, da sie half, Wahrheitsansprüche zu rechtfertigen. Auch im 18. Jahrhundert wird am moralisch-praktischen Nutzen der Geschichte festgehalten. Prägend ist dabei die Idee von der Einheit der Menschheit und ihrer Geschichte, wie sich an den Titeln der Werke 44 Die Kanonisierung des AT für die christliche Kirche zeigt auf, daß die christliche Religion kein absoluter Neuling ist, die Kirchengeschichtsschreibung zeigt durch die bischöfliche Sukzession sowohl die Reinheit der Lehre als auch die Kontinuität auf; beides lassen die Häresien vermissen. Paradebeispiel ist die Kirchengeschichte Eusebs. Auch Augustins „De civitate Dei“ hat apologetische Funktion. Augustin gestaltet das Geschichtsdrama durch die Spannung der beiden Reiche. Die Einheit des Menschengeschlechts ist durch die Abstammung aller von einem Stammvater Adam begründet. Ziel der Allmacht und Providenz Gottes ist die Erziehung des Menschengeschlechts. Der Ablauf der Geschichte ergibt sich nicht durch Kreisläufe, sondern durch die Übertragung der Altersstufen des Menschenlebens auf das Menschengeschlecht. 45 So Otto von Freising, der eigentlich keine „Historien“, sondern „Tragödien“ verfaßt; vgl. Scholtz 350. 46 Gottes Macht ist nirgends evident, da sie in „Larven und Mummerei“ verborgen „so wunderlich regiert und rumort“ und nur den „gar widersinnigen Gedanken“ des Gläubigen sichtbar ist. Luther, WA 18, 330, 635; 15, 373; 16, 262; 36, 257 (zit. nach Scholtz 353). 47 Ausdruck dieser Gefahr können in einer Interpretation der Zwei-Reiche-und-Regimenten-Lehre gesehen werden, die beide Reiche und Regierweisen scharf trennt und das Reich zur Rechten verinnerlicht. 28

zeigen läßt. Im 18. Jahrhundert setzt sich der Kollektivsingular „Geschichte“ 48 durch, der auf die Kohärenz der berichteten Ereignisse und auf die Einheit des Geschichts-Subjektes abhebt. Der deutsche Geschichtsbegriff wird dadurch verändert. „Die Bezeichnung ‚H(istori)e‘, die primär den Bericht meinte, tritt zurück zugunsten des Wortes ‚G(eschichte)‘, das kraft seiner etymologischen Herkunft geeignet ist, den Geschehenszusammenhang selbst und den Bewegungscharakter des Dargestellten zu akzentuieren.“ 49 Diesem neuen Verständnis von Geschichte korrespondiert eine neue Einschätzung der Geschichte als Wissenschaft, die selbstbewußt neben die Naturwissenschaften tritt und ein eigenes Erkenntnisvermögen postuliert. Für Kant vollzieht sich in der Geschichte ein verborgener Plan der Natur. Als Konstrukt der Vernunft ist die „Geschichte a priori“ eine Hypothese. Zu ihrer Annahme berechtigen allerdings bestimmte „Geschichtszeichen“ (für Kant vor allem die Französische Revolution), die die Tendenz des Ganzen zu einer vollkommenen Staatsverfassung zeigen, in der die Naturanlagen des Menschen sich frei entfalten können. 50 Außerdem ermöglicht die Annahme einer „Geschichte a priori“ die Zusammenschau vieler Handlungen als System. Und schließlich ist diese Annahme für das vernünftige Denken nötig zu Rechtfertigung der Natur, da sonst die menschliche Geschichte neben der Herrlichkeit der vernunftlosen Natur nur als Reich der „regellosen Freiheit“ erscheine. 51 Schelling 52 vertritt die Ansicht, daß es in der Geschichte einen unendlichen Menschheitsprozeß gäbe, hin zu einer allgemeinen Rechtsverfassung durch alle Freiheit und Willkür der Individuen hindurch. Damit ist Geschichte eine fortgehende, allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten und ein Beweis vom Dasein Gottes. Die Identitätsphilosophie begreift das Absolute in der Doppelgestalt von Natur und Geschichte, und damit Geschichte als „höhere Potenz der Natur“. Sucht man in der Geschichtsphilosophie Hegels einen Sinn der Geschichte zu erkennen, so ist dieser wohl im „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ zu sehen. 53 In der Wendung vom Bewußtsein zu den materialen Grundlagen des Bewußtseins läßt sich dann für den Marxismus der Sinn der Geschichte in ihrer fortschreitenden Befreiung von Klassengegensätzen und der Ermöglichung der Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit. 54 In der historischen Schule wird Geschichte als der einzige Weg zur wahren Erkenntnis unseres eigenen Zustandes verstanden. D.F. Strauss schreibt im Zusammenhang seiner Leben-Jesu-Forschung: „Unser Zweck ist es nicht, eine vergangene Geschichte zu ermitteln, vielmehr dem menschlichen Geist zu künftiger Befreiung von einem drückenden Glaubensjoch behülflich zu sein.“ 55 Gegenwart ist nur zu erkennen, wenn man selbst nicht zur Vergangenheit, sondern zur Gegenwart gehört; darum wird der Geschichtsschreiber auch vom Geschichtsmacher getrennt. Obgleich alle Kulturen Aufstieg, Blüte und Verfall aufweisen, zeigt sich keine strenge Naturgesetzlichkeit; nur der Verfall hat einen fast konstanten Verlauf, aber die schöpferische Kraft ist nicht meßbar, ist das Ergebnis von Toynbees Geschichtsforschung. Er sieht später „den Hochkulturen Hochreligionen entwachsen, die so etwas wie das Geschichts-Ziel darstellen und das natürliche Entstehen und Verfallen einhalten“ 56 . Karl Jaspers sieht in der Geschichte ein sekundäres Phänomen, das aus der Erfahrung der Geschichtlichkeit des Daseins auftaucht. Sie ist der Raum der eigenen Wirkungsmöglichkeiten und dient der subjektiven Existenz zur Selbstrealisierung. Ausgerichtet auf Transzendenz zielt Jaspers’ Geschichtsdenken letztlich auf die Überwindung von Geschichte ab: „Für das transzendente Bewußtsein der Existenz verschwindet die Geschichte in ewiger Gegenwart.“ 57 48 2 R. Koselleck: Historia Magistra Vitae; in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 1992 , 38–66. 49 Scholtz 359. 50 Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Werke 9, 351ff; vgl. auch G. Bien, Art. Geschichtszeichen, HWP 3, 441–443. 51 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke Bd. 9,31ff. 52 Vgl. Scholtz 363f mit den Belegen. 53 Vgl. Angehrn 93ff sowie Richard Schaeffler, Einführung in die Geschichtsphilosophie, Darmstadt 1980 2 , 178ff. 54 Vgl. Angehrn 105ff und Schaeffler 190ff. 55 Leben Jesu 1, Vorrede zur 1. u. 2. Auflage, zit. nach Scholtz 374. 56 Scholtz 386. 57 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 1955, 339; hier zit. nach Scholtz 387f; vgl. auch Angehrn 167ff. 29

zeigen läßt. Im 18. Jahrhundert setzt sich der Kollektivsingular „<strong>Geschichte</strong>“ 48 durch, der auf die Kohärenz<br />

der berichteten Ereignisse und auf die Einheit des Geschichts-Subjektes abhebt. Der deutsche Geschichtsbegriff<br />

wird dadurch verändert. „Die Bezeichnung ‚H(istori)e‘, die pr<strong>im</strong>är den Bericht meinte, tritt<br />

zurück zugunsten des Wortes ‚G(eschichte)‘, das kraft seiner etymologischen Herkunft geeignet ist, den<br />

Geschehenszusammenhang selbst und den Bewegungscharakter des Dargestellten zu akzentuieren.“ 49<br />

Diesem neuen Verständnis von <strong>Geschichte</strong> korrespondiert eine neue Einschätzung der <strong>Geschichte</strong> als<br />

Wissenschaft, die selbstbewußt neben die Naturwissenschaften tritt und ein eigenes Erkenntnisvermögen<br />

postuliert.<br />

Für Kant vollzieht sich in der <strong>Geschichte</strong> ein verborgener Plan der Natur. Als Konstrukt der Vernunft ist<br />

die „<strong>Geschichte</strong> a priori“ eine Hypothese. Zu ihrer Annahme berechtigen allerdings best<strong>im</strong>mte „Geschichtszeichen“<br />

(für Kant vor allem die Französische Revolution), die die Tendenz des Ganzen zu einer<br />

vollkommenen Staatsverfassung zeigen, in der die Naturanlagen des Menschen sich frei entfalten<br />

können. 50 Außerdem ermöglicht die Annahme einer „<strong>Geschichte</strong> a priori“ die Zusammenschau vieler<br />

Handlungen als System. Und schließlich ist diese Annahme für das vernünftige Denken nötig zu Rechtfertigung<br />

der Natur, da sonst die menschliche <strong>Geschichte</strong> neben der Herrlichkeit der vernunftlosen Natur<br />

nur als Reich der „regellosen Freiheit“ erscheine. 51<br />

Schelling 52 vertritt die Ansicht, daß es in der <strong>Geschichte</strong> einen unendlichen Menschheitsprozeß gäbe, hin<br />

zu einer allgemeinen Rechtsverfassung durch alle Freiheit und Willkür der Individuen hindurch. Damit ist<br />

<strong>Geschichte</strong> eine fortgehende, allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten und ein Beweis vom<br />

Dasein Gottes. Die Identitätsphilosophie begreift das Absolute in der Doppelgestalt von Natur und <strong>Geschichte</strong>,<br />

und damit <strong>Geschichte</strong> als „höhere Potenz der Natur“.<br />

Sucht man in der Geschichtsphilosophie Hegels einen Sinn der <strong>Geschichte</strong> zu erkennen, so ist dieser wohl<br />

<strong>im</strong> „Fortschritt <strong>im</strong> Bewußtsein der Freiheit“ zu sehen. 53 In der Wendung vom Bewußtsein zu den materialen<br />

Grundlagen des Bewußtseins läßt sich dann für den Marxismus der Sinn der <strong>Geschichte</strong> in ihrer fortschreitenden<br />

Befreiung von Klassengegensätzen und der Ermöglichung der Selbsterzeugung des Menschen<br />

durch Arbeit. 54<br />

In der historischen Schule wird <strong>Geschichte</strong> als der einzige Weg zur wahren Erkenntnis unseres eigenen<br />

Zustandes verstanden. D.F. Strauss schreibt <strong>im</strong> Zusammenhang seiner Leben-Jesu-Forschung: „Unser<br />

Zweck ist es nicht, eine vergangene <strong>Geschichte</strong> zu ermitteln, vielmehr dem menschlichen Geist zu künftiger<br />

Befreiung von einem drückenden Glaubensjoch behülflich zu sein.“ 55 Gegenwart ist nur zu erkennen,<br />

wenn man selbst nicht zur Vergangenheit, sondern zur Gegenwart gehört; darum wird der Geschichtsschreiber<br />

auch vom Geschichtsmacher getrennt.<br />

Obgleich alle Kulturen Aufstieg, Blüte und Verfall aufweisen, zeigt sich keine strenge Naturgesetzlichkeit;<br />

nur der Verfall hat einen fast konstanten Verlauf, aber die schöpferische Kraft ist nicht meßbar, ist<br />

das Ergebnis von Toynbees Geschichtsforschung. Er sieht später „den Hochkulturen Hochreligionen entwachsen,<br />

die so etwas wie das Geschichts-Ziel darstellen und das natürliche Entstehen und Verfallen einhalten“<br />

56 .<br />

Karl Jaspers sieht in der <strong>Geschichte</strong> ein sekundäres Phänomen, das aus der Erfahrung der Geschichtlichkeit<br />

des Daseins auftaucht. Sie ist der Raum der eigenen Wirkungsmöglichkeiten und dient der subjektiven<br />

Existenz zur Selbstrealisierung. Ausgerichtet auf Transzendenz zielt Jaspers’ Geschichtsdenken letztlich<br />

auf die Überwindung von <strong>Geschichte</strong> ab: „Für das transzendente Bewußtsein der Existenz verschwindet<br />

die <strong>Geschichte</strong> in ewiger Gegenwart.“ 57<br />

48 2<br />

R. Koselleck: Historia Magistra Vitae; in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 1992 , 38–66.<br />

49<br />

Scholtz 359.<br />

50<br />

Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Werke 9, 351ff; vgl. auch G. Bien, Art. Geschichtszeichen, HWP<br />

3, 441–443.<br />

51<br />

Kant, Idee zu einer allgemeinen <strong>Geschichte</strong> in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke Bd. 9,31ff.<br />

52<br />

Vgl. Scholtz 363f mit den Belegen.<br />

53<br />

Vgl. Angehrn 93ff sowie Richard Schaeffler, Einführung in die Geschichtsphilosophie, Darmstadt<br />

1980 2 , 178ff.<br />

54 Vgl. Angehrn 105ff und Schaeffler 190ff.<br />

55 Leben Jesu 1, Vorrede zur 1. u. 2. Auflage, zit. nach Scholtz 374.<br />

56 Scholtz 386.<br />

57 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der <strong>Geschichte</strong>, 1955, 339; hier zit. nach Scholtz 387f; vgl.<br />

auch Angehrn 167ff.<br />

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