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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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grenzungen, mit ihren Möglichkeiten und inhärenten Hoffnungen und Erwartungen.<br />

Dazu zählt die Lebenswelt, die die je eigene <strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong>mer schon mitbest<strong>im</strong>mt hat<br />

und in sich Normen und Imperative für das Fortschreiben der eigenen <strong>Geschichte</strong><br />

besitzt. Dazu zählt auch, zumindest bei einer bewußten Verknüpfung von <strong>Geschichte</strong>n,<br />

ein oder mehrere leitende Interessen, eine Perspektive oder ein Horizont der <strong>Geschichte</strong>,<br />

der auch die Form einer größeren <strong>Geschichte</strong> besitzen kann, in die die eigene, neue,<br />

verknüpfte <strong>Geschichte</strong> eingeschrieben werden soll.<br />

Dabei stellt jede <strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong>mer auch eine Differenz her zu anderen <strong>Geschichte</strong>n und<br />

ebenso zu sich selbst. Denn in jeder <strong>Geschichte</strong> spiegelt sich der performative Widerspruch<br />

wider, der darin besteht, daß für den Menschen Worte und Taten, Bericht und<br />

Faktum, Erzählung und Ereignis nicht identisch sind, sondern erste jeweils Darstellung<br />

der zweiten, die freilich durch die ersten mit konstituiert werden. Wird dieser Sachverhalt<br />

einsichtig, so relativiert sich jede <strong>Geschichte</strong> selbst und hat in sich eine Sperre, <strong>Geschichte</strong><br />

absolut setzen zu wollen. Die Besinnung auf die sprachlichen Konstitutionsbedingungen<br />

von <strong>Geschichte</strong> trägt damit das Potential in sich, die Vorstellung einer<br />

Universalgeschichte oder einer „großen Erzählung“ zu dekonstruieren.<br />

Gehört aus theologischer Sicht der performative Widerspruch zwischen Reden und Tun<br />

des Menschen als Folge seines Sünderseins konstitutiv zu ihm, so wird der Mensch als<br />

von Gott Freigesprochener auch von diesem Widerspruch befreit. Im Ja Gottes zum<br />

Menschen werden die Widersprüche, die Brüche und die Schatten einer <strong>Geschichte</strong><br />

nicht beseitigt, sie werden jedoch in ein neues Sprachspiel aufgenommen, in dem sie<br />

zueinander derart in Beziehung gesetzt werden, daß sie einerseits gerechtfertigt sind,<br />

andererseits <strong>im</strong> Horizont des Sprachspiels der Verheißung und des Heils mit der Hoffnung<br />

auf ein gutes Ende versehen werden. Der Übertritt in dieses heilsame Sprachspiel<br />

ist eine Wirkung des schöpferischen Wortes Gottes, das in der Kraft des Heiligen Geistes<br />

den Glauben wirkt, der dieses heilsame Sprachspiel zu spielen und zu sprechen versteht.<br />

Allerdings scheint auch Gott <strong>im</strong>mer wieder in einem performativen Widerspruch gefangen<br />

zu sein, und zwar dann, wenn Geschehnisse und Ereignisse der Welt seinem<br />

Willen widersprechen oder zu widersprechen scheinen. Es geht hier um die Frage der<br />

Theodizee. Das Böse, das Übel und das Leiden werden zur kritischen Anfrage an Gott,<br />

wenn sie <strong>im</strong> Zusammenhang einer <strong>Geschichte</strong> Gottes mit den Menschen gebracht werden.<br />

Erst der sprachliche Zusammenhang von leidvollen Erfahrungen und der Rede vom<br />

guten Heilswillen Gottes wirft das Problem der Theodizee auf. Freilich ist ein solcher<br />

sprachlicher Zusammenhang, eine <strong>Geschichte</strong> also, für den Menschen unumgänglich. Es<br />

wäre aber zu fragen, ob die Verknüpfung best<strong>im</strong>mter Sätze nicht ein neues Satzuniversum<br />

begründet, das sich dann nach eigenen Regeln verhält und mit den Regeln<br />

der vorausgehenden Satzfamilien nicht zu verstehen ist. Die der Frage der Theodizee<br />

zugrundeliegenden Satzfamilien sind einerseits beschreibende Sätze des Leidens und<br />

der Ungerechtigkeit in der Welt; zum anderen Sätze vom guten Willen Gottes, seiner<br />

Liebe und Barmherzigkeit. Werden diese Sätze zusammengebracht, entsteht das Problem<br />

der Zuordnung von Sätzen eines Diskurses durch einen anderen. Diese Zuordnung<br />

geschieht durch die Anwendung einer Familie von normativen Sätzen, die als Befehle<br />

verwendet werden („Gott darf das nicht zulassen …“; „Gott muß …“; „Gott will das …<br />

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