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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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mehr, daß es einen Satz gab.“ 29 Ein Satz zieht andere Sätze nach sich, ein Sprachspiel<br />

entwickelt sich, dessen Regeln nicht a priori vorgegeben sind, sondern <strong>im</strong> Verlauf des<br />

Spiels entstehen. 30 Jeder Satz trägt dabei bereits ein Universum mit sich bzw. stellt es<br />

dar. 31 Es gibt Satzfamilien, zwischen denen das Spiel der Sprache besser gelingt, und<br />

andere, zwischen denen es weniger gut oder gar nicht gelingt. Gelingen oder Mißlingen<br />

des Spiels hängen von kompatiblen Regeln ab, die beschreiben, wie Sender, Empfänger,<br />

Referent und Sinn zueinander situiert werden. 32 Diskurse als Verknüpfung verschiedener<br />

Satzfamilien entstehen aus best<strong>im</strong>mten Interessen und Zwecksetzungen, die auch<br />

über die Regeln der Verknüpfung mitentscheiden. „<strong>Geschichte</strong>“ ist ein solcher Diskurs,<br />

der in sich unterschiedliche Satzfamilien zusammenfaßt. Er ist allerdings nicht von<br />

einem Set von Regeln dominiert, die andere Verknüpfungen ausschließen, sondern bezieht<br />

sich auf Referenten, die die Regelbildung für diesen Diskurs <strong>im</strong>mer mit beeinflussen.<br />

6.3.2 Die Pluralität der Sprache<br />

Sprache schafft also Wirklichkeit, in unserem Zusammenhang die geschichtliche Wirklichkeit.<br />

Diese ist aber nicht eindeutig und einheitlich, sondern in ihrer sprachlichen Gestaltung<br />

auf Kommunikation und Verständigung angelegt. Sie ist darin <strong>im</strong>mer auch<br />

strittig und muß sich <strong>im</strong> Dialog bewähren. Eine <strong>Geschichte</strong> kann <strong>im</strong>mer auch anders<br />

erzählt werden. 33 Es gibt die <strong>Geschichte</strong> der Sieger und die der Verlierer, die <strong>Geschichte</strong><br />

der Täter und die der Opfer, die <strong>Geschichte</strong> der Betroffenen und die der distanzierten<br />

Beobachter. Jede dieser <strong>Geschichte</strong>n wird nach eigenen Regeln geschrieben. Die Ge-<br />

schichte der anderen kann dabei in die eigene <strong>Geschichte</strong> eingebaut und damit ange-<br />

eignet oder auch enteignet werden. 34 Die Sprache als dem Menschen vorgegebene stellt<br />

dabei keine definitiven Regeln für die Verknüpfung verschiedener <strong>Geschichte</strong>n auf. Die<br />

Regeln, nach denen <strong>Geschichte</strong>n verknüpft werden, ergeben sich vielmehr aus unter-<br />

schiedlichen Faktoren. Dazu zählt die je eigene <strong>Geschichte</strong> mit ihren Grenzen und Be-<br />

29 Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, München 1989 2 , Nr. 94, 108.<br />

30 Lyotard ist der Meinung, daß „der beobachtbare soziale Zusammenhang aus sprachlichen Spielzügen<br />

besteht“, mithin die Gesellschaft sprachlich konstituiert ist; vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne<br />

Wissen, Graz/Wien 1986, 41. Vgl. auch die Rekonstruktion der sprachphilosophischen Einsichten<br />

Lyotards bei Andreas Grabenstein, Wachsende Freiheiten oder wachsende Zwänge? Zur kritischen<br />

Wahrnehmung der wachsenden Wirtschaft aus theologisch-sozialethischer Sicht, Bern/Stuttgart/Wien<br />

1998, 210ff sowie Joach<strong>im</strong> Track, Dogmatik als Phänomenologie?, in: Wilfried Härle /<br />

Reiner Preul (Hg.), MJTh VI. Phänomenologie, Marburg 1994, 11–44, bes. 30ff.<br />

31 Lyotard, Widerstreit 30: „Sender und Empfänger werden <strong>im</strong> Universum, das der Satz darstellt, situiert,<br />

genauso wie dessen Referent und dessen Sinn.“<br />

32 Vgl. dazu Grabenstein 213ff.<br />

33 Vgl. dazu etwa Gustavo Gutiérrez, Die historische Macht der Armen, München/Mainz 1984, bes. 23f<br />

und 125ff; José Míguez Bonino, History as Memory, Praxis and Hope. Living history with God in<br />

Latin America, in: H. Deuser u.a. (Hg.), Gottes Zukunft – Zukunft der Welt, München 1986, 491–<br />

501.<br />

34 Ein aktuelles Beispiel dafür ist die neuere, durch Martin Walsers Friedenspreisrede angestoßene<br />

Debatte um den Holocaust, in der von manchen – in Aufnahme mancher Argumente des sogenannten<br />

„Historikerstreits“ der achtziger Jahre – eine Entschuldung der Täter dadurch vorgenommen wird,<br />

daß hypothetisch gefragt wird, wie wohl die Opfer in der Rolle der Täter agiert hätten. So erlaubt<br />

diese Frage <strong>im</strong> Diskurs über verantwortliches Handeln prinzipiell ist, so illegit<strong>im</strong> ist sie <strong>im</strong> Diskurs<br />

über den Umgang mit konkreter Schuld gegenüber den Opfern.<br />

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