Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

02.12.2012 Aufrufe

von einer universalen Geschichte in eine Krise. Eine naturgeschichtliche Betrachtung relativiert die Stellung des Menschen in der Geschichte. Die historische Kritik relativiert die universalen und transzendenten Bezugspunkte einer universalen Geschichte. Psychologische Erkenntnisse lassen die Perspektivität, den Wunsch- und Konstruktcharakter von Geschichte hervortreten. Die Einsicht in die ökonomischen Bedingungen der Geschichtsprozesse destruieren ein idealistisches Geschichtsverständnis, auch wenn an der Konzeption einer Universalgeschichte festgehalten wird. Abschied von der Geschichte wird genommen, indem der gegenwärtige Augenblick als Zeit der Entscheidung hervorgehoben wird. Eine Abwendung von der Vergangenheit, die als Geschichte die Gegenwart bestimmt, deutet sich damit an und im Gegenzug wird die Gegenwart als Tor für die Zukunft in den Vordergrund gerückt. Der südwestdeutsche Neukantianismus bestimmte die Methodendiskussion in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. „Die gedankliche Schwierigkeit ist überall die, wie das als Gegenstand der Historie bestimmte Individuelle auf Begriffe und Werte bezogen werden kann und wie das Allgemeine wiederum zu begründen und zu verankern sei.“ 35 Aus den Verunsicherungen der Historismusdebatte ergeben sich auch die universalgeschichtlichen Fragestellungen. Auf der einen Seite gibt es erneute Bemühungen, an der Vorstellung einer universalen Geschichte festzuhalten. Die universellen Bezugspunkte können dabei durchaus differieren. So werden eine innere Geschichtslogik ebenso aufgeführt wie ein göttlicher Offenbarungsprozeß oder eine Geschichte des Geistes und der Vernunft. Auf der anderen Seite wird Geschichte zurückgeführt auf das Einzelne und Individuelle, auf das singuläre Leben und Erleben des Einzelnen oder die existentielle geschichtliche Verfaßtheit menschlichen Lebens. Dabei wird Geschichtlichkeit als Grund der Geschichte anthropologisch allerdings ebenfalls universell verstanden. Der Existentialismus zielt bei aller Betonung des Individuellen auf eine universale menschliche Befindlichkeit im Blick auf die Geschichte ab. In der Arbeit an der Geschichte wird durch die Geschichte hindurch, so läßt sich festhalten, sowohl ein universaler Zusammenhang oder ein universales Prinzip der Geschichte gesucht als auch das Partikulare und Individuelle entdeckt und somit die Pluralität und Pluriformität der Geschichte festgestellt. Dabei gewinnt in der jüngeren Zeit ein plurales Verständnis von Geschichte ein größeres Gewicht. Universalität wird dann gesucht hinter oder unter der Pluralität. Dabei wird das Universale im Bewußtsein oder in anthropologischen Konstanten vermutet. Ein radikaler Verzicht auf universale Ansprüche läßt sich in den bislang herangezogenen Konzeptionen noch nicht entdecken. 1.4 Ereignis und Struktur Geschichten entzündet sich an Ereignissen. Verschiedene Ereignisse werden miteinander in Verbindung gebracht, ein Zusammenhang entsteht und aus Geschichten wird eine Geschichte. Es werden Entwicklungen und Brüche entdeckt, daraus entsteht die Frage nach einem Ziel der Geschichte. Und es entsteht die Frage nach dem, was hinter den Ereignissen steckt, was sie verbindet, es entsteht die Frage nach der oder den Strukturen der Geschichte. Eine Antwort auf diese Fragen bilden die Versuche, Geschichte zu periodisieren. Die Geschichts-Theologie ist einer dieser Versuche. Das Alte Testament berichtet zwar von der Geschichte Gottes mit seinem Volk und man hat darin die Wurzel für den neuzeitlichen Geschichtsbegriff als zielgerichteten Gattungsprozeß gesucht. Doch kennt gerade das AT kein vergleichbares Wort für „Geschichte“. Auch im NT fehlt ein entsprechender Begriff. 36 Eine Geschichts-Theologie entsteht in der christlichen Frühkirche und geht – wie bereits erwähnt – von dem Problem aus, daß einerseits durch Chri- 35 Scholtz 381. 36 Vgl. Scholtz 345. 26

sti Erscheinen die Äonenwende bereits vollzogen ist, andererseits das Weltende erst von Christi Wiederkunft erwartet wird. Die Zeit zwischen diesen Ereignissen wird in einer Heilsgeschichte periodisiert. Der heilsgeschichtliche Rahmen dieser Darstellungen wird dann auch weitgehend für die politische Geschichte bestimmend. Dabei tauchen wieder Stufenmodelle auf. So meint G. Vico zu erkennen, daß sich in der Gesamtgeschichte in regelmäßigen Umläufen drei Zeitalter wiederholen, während Frankreichs klassische Fortschrittstheoretiker (Turgot, Comte) einen streng zielgerichteten dreistufigen Prozeß erkennen, dessen Abläufe unterschiedlichen Analysen unterzogen werden (Hume, Ferguson, A. Smith). 37 Für die historische Schule ist das leitende Modell für das Verständnis des Geschichtsprozesses der Naturorganismus. Die Theoretiker des Positivismus in Frankreich wollen die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte herausstellen. Dabei wird auch versucht, die Evolutionstheorie Darwins für die Geschichtswissenschaft fruchtbar zu machen. 38 Für Kierkegaard 39 ist die Weltgeschichte der „Fortschritt im Bewußtsein der Angst“. Die These, die Geschichte als Ganzes sei der Offenbarungsprozeß, wird entschieden aufgegeben und der Zwiespalt Lessings stellt sich in seiner ganzen Schärfe ein, und Kierkegaard knüpft an ihn an: „Das Ewige ist in Christus ein nur Geschichtliches; geschichtlich – d.h. erstens, „daß es geworden ist“ (denn dies ist „das entscheidende Prädikat des Geschichtlichen“) und zweitens, daß es „das Vergangene“ ist (das Gegenwärtige, an die Zukunft grenzend, ist noch nicht geschichtlich).“ Das Paradox, „daß das Ewige das Geschichtliche ist“, kann vom Standpunkt der objektiv sein wollenden historischen Bibelkritik nicht begriffen, es kann nur im leidenschaftlichen Akt des Glaubens „inkraft des Absurden“ ergriffen und angenommen werden. Darum gilt es, die Geschichte als die trennende Zeit im Glauben zu überspringen und mit der Erlösungstat „gleichzeitig“ zu werden: Die „Gleichzeitigkeit“ ist der Punkt, zu welchem die Geschichte zusammenschrumpft. Dieser Gedanke wurde in der Existenzphilosophie weitergeführt. Der Strukturalismus 40 hat vor allem einen Beitrag zu Methodik der Geschichtswissenschaft geleistet. Ausgehend von Linguistik und Ethnologie wurde der Synchronie der Vorrang vor der Diachronie eingeräumt und damit der Geschichtsbegriff in gewisser Weise revisioniert, denn die Synchronie setzt „ein gewisses Stillstehen der Zeit“ (R. Barthes) voraus. Genau besehen liefert die Geschichte nur Rückverweise, steht also in der Gefahr eines unendlichen Regresses, wenn sie sich auf das exklusive Ideal von Kausalität und Kontinuität bezieht. Zu achten ist vielmehr auf die unbewußten „Strukturen der organisierten Systeme“ (Lévi-Strauss), durch welche Zwecke überhaupt sowohl aufgestellt als ausgeführt werden können. Die Konsequenz für den Geschichtsbegriff ist, daß „die Äquivalenz zwischen dem Begriff der Geschichte und dem der Menschheit zu verwerfen“ ist. Bei M. Foucault erscheint im Blick auf die Wandlung der Epochen die Struktur als das eigentliche Subjekt der Geschichte. 41 Die Frage nach einem Ziel der Geschichte entspringt der „Utopie eines kausalen Denkens“ 42 . Im Spiegel der Strukturen erfährt der Mensch seine Endlichkeit. Der Strukturalismus mußte sich gegen den Vorwurf der Geschichtsfeindlichkeit wehren, was Lévi-Strauss mit dem Hinweis tat, „Geschichte um jeden Preis“ sei „Mystizismus und Anthropozentrismus“ und es gebe eine Vielzahl von Völkern ohne Geschichte. J. Lacan als Vertreter einer strukturalen Psychologie wies darauf hin, daß die Struktur des Unbewußten eine bereits geschichtliche Struktur wiederholt, daß letztlich Geschichte also Wiederholung ist. 43 Periodisierungsversuche ordnen geschichtliche Ereignisse einem vorausgesetzten Rahmen oder einer Struktur zu. Die Rechtfertigung dieses Rahmens geschieht mit Hilfe der analogen Übertragung externer Argumente, etwa der organischen Entwicklung der Natur, der Heilsgeschichte oder idealistischen Fortschrittsvorstellungen. In jedem Fall 37 Vgl. Scholtz 357 mit Belegen; zu Turgot und Comte vgl. auch Emil Angehrn, Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1991, 71f und 74f. 38 39 40 Vgl. Scholtz 371f. Vgl. dazu Scholtz 376f mit den Belegen der Zitate. Vgl. Scholtz 393f mit den Belegen. 41 12 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1994 ; dazu genauer unten 6. Archäologie der Geschichte. 42 Foucault, Ordnung der Dinge 321. 43 Vgl. Scholtz 394. 27

sti Erscheinen die Äonenwende bereits vollzogen ist, andererseits das Weltende erst von Christi Wiederkunft<br />

erwartet wird. Die Zeit zwischen diesen Ereignissen wird in einer Heilsgeschichte periodisiert.<br />

Der heilsgeschichtliche Rahmen dieser Darstellungen wird dann auch weitgehend für die politische <strong>Geschichte</strong><br />

best<strong>im</strong>mend. Dabei tauchen wieder Stufenmodelle auf. So meint G. Vico zu erkennen, daß sich in<br />

der Gesamtgeschichte in regelmäßigen Umläufen drei Zeitalter wiederholen, während Frankreichs klassische<br />

Fortschrittstheoretiker (Turgot, Comte) einen streng zielgerichteten dreistufigen Prozeß erkennen,<br />

dessen Abläufe unterschiedlichen Analysen unterzogen werden (Hume, Ferguson, A. Smith). 37<br />

Für die historische Schule ist das leitende Modell für das Verständnis des Geschichtsprozesses der Naturorganismus.<br />

Die Theoretiker des Positivismus in Frankreich wollen die Gesetzmäßigkeiten der <strong>Geschichte</strong><br />

herausstellen. Dabei wird auch versucht, die Evolutionstheorie Darwins für die Geschichtswissenschaft<br />

fruchtbar zu machen. 38<br />

Für Kierkegaard 39 ist die Weltgeschichte der „Fortschritt <strong>im</strong> Bewußtsein der Angst“. Die These, die <strong>Geschichte</strong><br />

als Ganzes sei der Offenbarungsprozeß, wird entschieden aufgegeben und der Zwiespalt Lessings<br />

stellt sich in seiner ganzen Schärfe ein, und Kierkegaard knüpft an ihn an: „Das Ewige ist in Christus ein<br />

nur Geschichtliches; geschichtlich – d.h. erstens, „daß es geworden ist“ (denn dies ist „das entscheidende<br />

Prädikat des Geschichtlichen“) und zweitens, daß es „das Vergangene“ ist (das Gegenwärtige, an die Zukunft<br />

grenzend, ist noch nicht geschichtlich).“ Das Paradox, „daß das Ewige das Geschichtliche ist“, kann<br />

vom Standpunkt der objektiv sein wollenden historischen Bibelkritik nicht begriffen, es kann nur <strong>im</strong> leidenschaftlichen<br />

Akt des Glaubens „inkraft des Absurden“ ergriffen und angenommen werden. Darum gilt<br />

es, die <strong>Geschichte</strong> als die trennende Zeit <strong>im</strong> Glauben zu überspringen und mit der Erlösungstat<br />

„gleichzeitig“ zu werden: Die „Gleichzeitigkeit“ ist der Punkt, zu welchem die <strong>Geschichte</strong> zusammenschrumpft.<br />

Dieser Gedanke wurde in der Existenzphilosophie weitergeführt.<br />

Der Strukturalismus 40 hat vor allem einen Beitrag zu Methodik der Geschichtswissenschaft geleistet. Ausgehend<br />

von Linguistik und Ethnologie wurde der Synchronie der Vorrang vor der Diachronie eingeräumt<br />

und damit der Geschichtsbegriff in gewisser Weise revisioniert, denn die Synchronie setzt „ein gewisses<br />

Stillstehen der Zeit“ (R. Barthes) voraus. Genau besehen liefert die <strong>Geschichte</strong> nur Rückverweise, steht<br />

also in der Gefahr eines unendlichen Regresses, wenn sie sich auf das exklusive Ideal von Kausalität und<br />

Kontinuität bezieht. Zu achten ist vielmehr auf die unbewußten „Strukturen der organisierten Systeme“<br />

(Lévi-Strauss), durch welche Zwecke überhaupt sowohl aufgestellt als ausgeführt werden können. Die<br />

Konsequenz für den Geschichtsbegriff ist, daß „die Äquivalenz zwischen dem Begriff der <strong>Geschichte</strong> und<br />

dem der Menschheit zu verwerfen“ ist.<br />

Bei M. Foucault erscheint <strong>im</strong> Blick auf die Wandlung der Epochen die Struktur als das eigentliche Subjekt<br />

der <strong>Geschichte</strong>. 41 Die Frage nach einem Ziel der <strong>Geschichte</strong> entspringt der „Utopie eines kausalen<br />

Denkens“ 42 . Im Spiegel der Strukturen erfährt der Mensch seine Endlichkeit. Der Strukturalismus mußte<br />

sich gegen den Vorwurf der Geschichtsfeindlichkeit wehren, was Lévi-Strauss mit dem Hinweis tat,<br />

„<strong>Geschichte</strong> um jeden Preis“ sei „Mystizismus und Anthropozentrismus“ und es gebe eine Vielzahl von<br />

Völkern ohne <strong>Geschichte</strong>. J. Lacan als Vertreter einer strukturalen Psychologie wies darauf hin, daß die<br />

Struktur des Unbewußten eine bereits geschichtliche Struktur wiederholt, daß letztlich <strong>Geschichte</strong> also<br />

Wiederholung ist. 43<br />

Periodisierungsversuche ordnen geschichtliche Ereignisse einem vorausgesetzten Rahmen<br />

oder einer Struktur zu. Die Rechtfertigung dieses Rahmens geschieht mit Hilfe der<br />

analogen Übertragung externer Argumente, etwa der organischen Entwicklung der Natur,<br />

der Heilsgeschichte oder idealistischen Fortschrittsvorstellungen. In jedem Fall<br />

37<br />

Vgl. Scholtz 357 mit Belegen; zu Turgot und Comte vgl. auch Emil Angehrn, Geschichtsphilosophie,<br />

Stuttgart 1991, 71f und 74f.<br />

38<br />

39<br />

40<br />

Vgl. Scholtz 371f.<br />

Vgl. dazu Scholtz 376f mit den Belegen der Zitate.<br />

Vgl. Scholtz 393f mit den Belegen.<br />

41 12<br />

M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1994 ; dazu genauer unten 6. Archäologie der<br />

<strong>Geschichte</strong>.<br />

42<br />

Foucault, Ordnung der Dinge 321.<br />

43<br />

Vgl. Scholtz 394.<br />

27

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!