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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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siasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine<br />

andere, als eine moralische Anlage <strong>im</strong> Menschengeschlecht zur Ursache haben kann“ 22 .<br />

Die Anteilnahme kann somit als signum demonstrativum fungieren. Die „Denkungsart<br />

der Zuschauer“ 23 konstituiert eine Begebenheit als Geschichtszeichen.<br />

Nun geht es Kant um den Fortschritt der Menschheit zum Besseren, der seine Ursache<br />

in der moralischen Anlage des Menschengeschlechts hat. Diesen Opt<strong>im</strong>ismus kann man<br />

bestreiten einerseits durch die gegenläufigen Erfahrungen in der neueren <strong>Geschichte</strong>,<br />

andererseits durch die Einsicht des Glaubens in die Verstrickung der Menschen in die<br />

Sünde. Lyotard hat diesen Opt<strong>im</strong>ismus bestritten, indem er auf die Pluralität und Heterogenität<br />

der Zwecke verweist, die heute eine Begebenheit <strong>im</strong> Sinne eines Geschichtszeichens<br />

darstellen. 24 Der Enthusiasmus und das hinter ihm stehende Erhabene sind daher<br />

heute anders zu best<strong>im</strong>men als von Kant. Das Urteil über die <strong>Geschichte</strong> kann nicht<br />

mehr lauten, daß, sondern „als ob sie mit dem Fortschritt (…) weitergekommen<br />

wäre“ 25 . Was die <strong>Geschichte</strong> heute als Einheit konstituiert, ist dieses „als ob“, das eine<br />

Verknüpfung der heterogenen Erzählungen und Perspektiven ermöglicht.<br />

Wird das Ereignis oder die Begebenheit Jesus Christus als Geschichtszeichen verstanden,<br />

so ist zunächst auf eine zweifache Differenz zu Kants Verständnis von Geschichtszeichen<br />

hinzuweisen. Es geht <strong>im</strong> Ereignis Jesus Christus nicht um eine der<br />

Menschheit inhärente Anlage, die einen Fortschritt zum Besseren verursacht, sondern<br />

um das Heil der Menschen, das von Gott her kommt. Das Ereignis Jesus Christus kann<br />

Beteiligung bei den „Zuschauern“ wecken und auf den Heilswillen Gottes rückschließen<br />

lassen. Zum anderen ist dieses Ereignis nicht nur ein Zeichen, das auf eine dahinterliegende<br />

Ursache verweist, sondern ist in seinem Geschehen selbst diese Ursache. Kreuz<br />

und Auferstehung sind nicht nur Indiz, sondern effektives Geschehen. In ihnen ist das<br />

Heil angebrochen. Deshalb blickt der Glaube auf die Welt und die <strong>Geschichte</strong> in der<br />

Hoffnung des „als ob“ die Welt geheilt und die <strong>Geschichte</strong> Heilsgeschichte sei, trotz<br />

gegenläufiger Erfahrungen. Im Glauben erscheint die Welt unter der Perspektive des<br />

„schon“ und zugleich des „noch nicht“. Diese Haltung, die Nähe zum Enthusiasmus<br />

Kants und Lyotards Gefühl des Erhabenen aufweist, läßt sich aber nicht kodifizieren<br />

oder institutionalisieren. Denn dann würde sie ihre Bezogenheit auf ein Ereignis verlieren.<br />

26 Indem dieses Ereignis Jesus Christus jedoch erzählt wird, indem Zeugnis von ihm<br />

abgelegt wird, können Menschen in diese <strong>Geschichte</strong> verstrickt werden und kann sich<br />

bei ihnen Vertrauen in das Heil einstellen. Daß dies geschieht, ist nicht methodisierbar,<br />

sondern verdankt sich dem Wirken des Heiligen Geistes. Eine geschichtliche Begebenheit<br />

gewinnt als Geschichtszeichen somit je und je seine Bedeutung, sie hat diese Bedeutung<br />

nicht von vornherein. Für den christlichen Glauben erweist sich das geschichtliche<br />

Ereignis Jesus Christus als jenes Ereignis, mit dem sich als Geschichtszeichen die<br />

22 Kant, Werke Bd. 9, 358.<br />

23 Kant, Werke Bd. 9, 357.<br />

24 Lyotard, Enthusiasmus 108f. Auschwitz und Budapest 1956 etwa sind für Lyotard die Anlässe zu<br />

einem „gemeinschaftlichen Sinn“, der zum Enthusiasmus führt.<br />

25 Lyotard, Enthusiasmus 109.<br />

26 Dies <strong>im</strong>pliziert eine Kritik an einem Verständnis von Kirche als Heilsanstalt, als Verwalterin des<br />

Heils und geschichtlicher Realisierung des Reiches Gottes ebenso wie an einem fundamentalistischen<br />

Verständnis der Schrift.<br />

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