Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

02.12.2012 Aufrufe

dere Geschichten auch. Für den aber, der von dieser Geschichte ergriffen ist, in diese Geschichte verstrickt wird, sieht die Geschichte anders aus. Diese andere Sicht der Geschichte fußt auf dem Geschehen von Kreuz und Auferstehung. Am Kreuz wird sichtbar, daß die Mechanismen der profanen Geschichte nicht aufgehoben werden, sondern weiter gelten; daß die Geschichte gestaltenden Mächte und Kräfte weiter wirksam sind, auch mit ihren tödlichen Konsequenzen. 17 An der Auferweckung wird für den Glauben sichtbar, daß Gott in dieser Geschichte Neues schaffen kann, daß das Scheitern nicht das letzte Wort bleibt, sondern seine Verheißungen erfüllt werden können. Aus der Auferweckung Jesu von den Toten entsteht die Hoffnung über diese Geschichte hinaus. Damit sind die Strukturen dieser Welt nicht erledigt, aber sie verlieren ihre allein prägende Kraft. Das Ereignis Jesus Christus und seine Geschichte rücken die Geschichte insgesamt in eine neue Perspektive. Jesus Christus wird damit zu einem Geschichtszeichen. Der Begriff Geschichtszeichen wurde von Kant in einer Auseinandersetzung mit Friedrich Schlegel eingeführt. 18 Es ging dabei um die Frage, „ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“ 19 . Kant geht dabei von der Einsicht aus, daß das Fortschrittsproblem, d.h. die Erkenntnis eines Fortschrittes, sich nicht unmittelbar durch Erfahrung lösen läßt. 20 Dennoch muß an irgendeine Erfahrung angeknüpft werden. Derartige Erfahrungen haben dabei die Funktion, auf eine hinter ihnen liegende Ursache zu verweisen oder auf sie rückschließen zu lassen. Kant denkt dabei an Ursachen in der Natur der Menschen. Diese zurückgeschlossene Ursache wird dann als Urheber einer Tendenz zum Besseren im Blick auf die Menschheit insgesamt gedacht. Das Fortschreiten zum Besseren ist dabei bezüglich der Datierbarkeit nur wahrscheinlich zu machen, prinzipiell aber unausbleiblich. Begebenheiten, die solche Erfahrung ermöglichen, müssen zwei Funktion erfüllen. Sie müssen einerseits auf das Dasein einer derartigen Ursache verweisen, und andererseits auf die Wirkung der Kausalität dieser Ursache im Ablauf der Geschichte verweisen. Eine Begebenheit, die diesen doppelten Verweis beinhaltet, nennt Kant „Geschichtszeichen“. Da die Begebenheit nicht identisch mit der Ursache ist, ist sie ein Zeichen. Die Zeichen- und Beweisfunktion der Begebenheit erstreckt sich auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, weil die Kausalität generell und notwendig, aber zeitlich unbestimmbar ist. Kant präzisiert das Geschichtszeichen daher als „signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon“ 21 . Kant denkt dabei konkret an die Französische Revolution von 1789. Es kommt beim Geschichtszeichen darauf an, daß bei allen, auch den unbeteiligten Zuschauern, eine Wirkung erzielt wird, nämlich „eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthu- (…). Wir gehen davon aus, daß Gottes Wille, seine Absicht mit Welt und Mensch, in letztgültiger Weise für Christen in Jesus Christus kund werden.“ 17 Versteht man die Kreuzesgeschichte als Heilsgeschichte, so wird in ihr selbst die Gebrochenheit dieser Geschichte deutlich, insofern Gott in Jesus Christus den Weg des Heils nur im Weg des Leidens und des Todes, mithin im Scheitern und als Unheil erfährt. 18 Vgl. G. Bien, Art. Geschichtszeichen, in HWP Bd. 3, Darmstadt 1974, 441–443. Zur Sache auch J.- F. Lyotard, Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte, Wien 1988, bes. 53ff. 19 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten. Zweiter Abschnitt. Der Streit der Philosophischen Fakultät mit der Juristischen. Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?, Werke Bd. 9, 351ff. 20 Kant unterscheidet drei Fälle, die eine „Vorhersagung“ enthalten können. Entweder der kontinuierliche Rückgang zum Ärgeren, oder der beständige Fortgang zum Besseren oder im ewigen Stillstand. Werke Bd. 9, 352ff. 21 Kant, Werke Bd. 9, 357. 268

siasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann“ 22 . Die Anteilnahme kann somit als signum demonstrativum fungieren. Die „Denkungsart der Zuschauer“ 23 konstituiert eine Begebenheit als Geschichtszeichen. Nun geht es Kant um den Fortschritt der Menschheit zum Besseren, der seine Ursache in der moralischen Anlage des Menschengeschlechts hat. Diesen Optimismus kann man bestreiten einerseits durch die gegenläufigen Erfahrungen in der neueren Geschichte, andererseits durch die Einsicht des Glaubens in die Verstrickung der Menschen in die Sünde. Lyotard hat diesen Optimismus bestritten, indem er auf die Pluralität und Heterogenität der Zwecke verweist, die heute eine Begebenheit im Sinne eines Geschichtszeichens darstellen. 24 Der Enthusiasmus und das hinter ihm stehende Erhabene sind daher heute anders zu bestimmen als von Kant. Das Urteil über die Geschichte kann nicht mehr lauten, daß, sondern „als ob sie mit dem Fortschritt (…) weitergekommen wäre“ 25 . Was die Geschichte heute als Einheit konstituiert, ist dieses „als ob“, das eine Verknüpfung der heterogenen Erzählungen und Perspektiven ermöglicht. Wird das Ereignis oder die Begebenheit Jesus Christus als Geschichtszeichen verstanden, so ist zunächst auf eine zweifache Differenz zu Kants Verständnis von Geschichtszeichen hinzuweisen. Es geht im Ereignis Jesus Christus nicht um eine der Menschheit inhärente Anlage, die einen Fortschritt zum Besseren verursacht, sondern um das Heil der Menschen, das von Gott her kommt. Das Ereignis Jesus Christus kann Beteiligung bei den „Zuschauern“ wecken und auf den Heilswillen Gottes rückschließen lassen. Zum anderen ist dieses Ereignis nicht nur ein Zeichen, das auf eine dahinterliegende Ursache verweist, sondern ist in seinem Geschehen selbst diese Ursache. Kreuz und Auferstehung sind nicht nur Indiz, sondern effektives Geschehen. In ihnen ist das Heil angebrochen. Deshalb blickt der Glaube auf die Welt und die Geschichte in der Hoffnung des „als ob“ die Welt geheilt und die Geschichte Heilsgeschichte sei, trotz gegenläufiger Erfahrungen. Im Glauben erscheint die Welt unter der Perspektive des „schon“ und zugleich des „noch nicht“. Diese Haltung, die Nähe zum Enthusiasmus Kants und Lyotards Gefühl des Erhabenen aufweist, läßt sich aber nicht kodifizieren oder institutionalisieren. Denn dann würde sie ihre Bezogenheit auf ein Ereignis verlieren. 26 Indem dieses Ereignis Jesus Christus jedoch erzählt wird, indem Zeugnis von ihm abgelegt wird, können Menschen in diese Geschichte verstrickt werden und kann sich bei ihnen Vertrauen in das Heil einstellen. Daß dies geschieht, ist nicht methodisierbar, sondern verdankt sich dem Wirken des Heiligen Geistes. Eine geschichtliche Begebenheit gewinnt als Geschichtszeichen somit je und je seine Bedeutung, sie hat diese Bedeutung nicht von vornherein. Für den christlichen Glauben erweist sich das geschichtliche Ereignis Jesus Christus als jenes Ereignis, mit dem sich als Geschichtszeichen die 22 Kant, Werke Bd. 9, 358. 23 Kant, Werke Bd. 9, 357. 24 Lyotard, Enthusiasmus 108f. Auschwitz und Budapest 1956 etwa sind für Lyotard die Anlässe zu einem „gemeinschaftlichen Sinn“, der zum Enthusiasmus führt. 25 Lyotard, Enthusiasmus 109. 26 Dies impliziert eine Kritik an einem Verständnis von Kirche als Heilsanstalt, als Verwalterin des Heils und geschichtlicher Realisierung des Reiches Gottes ebenso wie an einem fundamentalistischen Verständnis der Schrift. 269

dere <strong>Geschichte</strong>n auch. Für den aber, der von dieser <strong>Geschichte</strong> ergriffen ist, in diese<br />

<strong>Geschichte</strong> verstrickt wird, sieht die <strong>Geschichte</strong> anders aus. Diese andere Sicht der <strong>Geschichte</strong><br />

fußt auf dem Geschehen von Kreuz und Auferstehung. Am Kreuz wird sichtbar,<br />

daß die Mechanismen der profanen <strong>Geschichte</strong> nicht aufgehoben werden, sondern<br />

weiter gelten; daß die <strong>Geschichte</strong> gestaltenden Mächte und Kräfte weiter wirksam sind,<br />

auch mit ihren tödlichen Konsequenzen. 17 An der Auferweckung wird für den Glauben<br />

sichtbar, daß Gott in dieser <strong>Geschichte</strong> Neues schaffen kann, daß das Scheitern nicht das<br />

letzte Wort bleibt, sondern seine Verheißungen erfüllt werden können. Aus der Auferweckung<br />

Jesu von den Toten entsteht die Hoffnung über diese <strong>Geschichte</strong> hinaus. Damit<br />

sind die Strukturen dieser Welt nicht erledigt, aber sie verlieren ihre allein prägende<br />

Kraft. Das Ereignis Jesus Christus und seine <strong>Geschichte</strong> rücken die <strong>Geschichte</strong> insgesamt<br />

in eine neue Perspektive. Jesus Christus wird damit zu einem Geschichtszeichen.<br />

Der Begriff Geschichtszeichen wurde von Kant in einer Auseinandersetzung mit Friedrich<br />

Schlegel eingeführt. 18 Es ging dabei um die Frage, „ob das menschliche Geschlecht<br />

<strong>im</strong> beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“ 19 . Kant geht dabei von der Einsicht aus,<br />

daß das Fortschrittsproblem, d.h. die Erkenntnis eines Fortschrittes, sich nicht unmittelbar<br />

durch Erfahrung lösen läßt. 20 Dennoch muß an irgendeine Erfahrung angeknüpft<br />

werden. Derartige Erfahrungen haben dabei die Funktion, auf eine hinter ihnen liegende<br />

Ursache zu verweisen oder auf sie rückschließen zu lassen. Kant denkt dabei an Ursachen<br />

in der Natur der Menschen. Diese zurückgeschlossene Ursache wird dann als<br />

Urheber einer Tendenz zum Besseren <strong>im</strong> Blick auf die Menschheit insgesamt gedacht.<br />

Das Fortschreiten zum Besseren ist dabei bezüglich der Datierbarkeit nur wahrscheinlich<br />

zu machen, prinzipiell aber unausbleiblich. Begebenheiten, die solche Erfahrung<br />

ermöglichen, müssen zwei Funktion erfüllen. Sie müssen einerseits auf das Dasein einer<br />

derartigen Ursache verweisen, und andererseits auf die Wirkung der Kausalität dieser<br />

Ursache <strong>im</strong> Ablauf der <strong>Geschichte</strong> verweisen. Eine Begebenheit, die diesen doppelten<br />

Verweis beinhaltet, nennt Kant „Geschichtszeichen“. Da die Begebenheit nicht identisch<br />

mit der Ursache ist, ist sie ein Zeichen. Die Zeichen- und Beweisfunktion der Begebenheit<br />

erstreckt sich auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, weil die Kausalität<br />

generell und notwendig, aber zeitlich unbest<strong>im</strong>mbar ist. Kant präzisiert das Geschichtszeichen<br />

daher als „signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon“ 21 . Kant<br />

denkt dabei konkret an die Französische Revolution von 1789. Es kommt be<strong>im</strong> Geschichtszeichen<br />

darauf an, daß bei allen, auch den unbeteiligten Zuschauern, eine Wirkung<br />

erzielt wird, nämlich „eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthu-<br />

(…). Wir gehen davon aus, daß Gottes Wille, seine Absicht mit Welt und Mensch, in letztgültiger<br />

Weise für Christen in Jesus Christus kund werden.“<br />

17 Versteht man die Kreuzesgeschichte als Heilsgeschichte, so wird in ihr selbst die Gebrochenheit<br />

dieser <strong>Geschichte</strong> deutlich, insofern Gott in Jesus Christus den Weg des Heils nur <strong>im</strong> Weg des Leidens<br />

und des Todes, mithin <strong>im</strong> Scheitern und als Unheil erfährt.<br />

18 Vgl. G. Bien, Art. Geschichtszeichen, in HWP Bd. 3, Darmstadt 1974, 441–443. Zur Sache auch J.-<br />

F. Lyotard, Der Enthusiasmus. Kants Kritik der <strong>Geschichte</strong>, Wien 1988, bes. 53ff.<br />

19 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten. Zweiter Abschnitt. Der Streit der Philosophischen Fakultät<br />

mit der Juristischen. Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht <strong>im</strong> beständigen Fortschreiten<br />

zum Besseren sei?, Werke Bd. 9, 351ff.<br />

20 Kant unterscheidet drei Fälle, die eine „Vorhersagung“ enthalten können. Entweder der kontinuierliche<br />

Rückgang zum Ärgeren, oder der beständige Fortgang zum Besseren oder <strong>im</strong> ewigen Stillstand.<br />

Werke Bd. 9, 352ff.<br />

21 Kant, Werke Bd. 9, 357.<br />

268

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!