Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau
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zelne Mensch vor Gott unendlichen Wert hat“ 22 . Die Best<strong>im</strong>mung des Menschen als<br />
Sünder und Gerechtfertigter zugleich bedeutet, daß der Mensch differenziert gesehen<br />
werden muß. Eine differenzierte Sichtweise des Menschen haben auch andere Wissenschaften<br />
wie Soziologie, Psychologie und philosophische Anthropologie entwickelt.<br />
Daher ist auch <strong>im</strong> Blick auf den Menschen als Subjekt der <strong>Geschichte</strong> eine differenzierte<br />
Sichtweise angemessener als eine, die den Menschen als einheitliches, kohärentes<br />
Subjekt betrachtet. Seine Identität als Subjekt von <strong>Geschichte</strong>, und zwar sowohl als<br />
Handlungssubjekt wie auch als Referenzsubjekt, ist als fragmentarische Identität zu verstehen.<br />
23 Der Ausdruck ‚<strong>Fragment</strong>‘ trägt zwei Bedeutungsaspekte mit sich. <strong>Fragment</strong><br />
kann sich zum einen auf ein vergangenes Ganzes beziehen, von dem nur Überreste,<br />
Ruinen vorhanden sind. Er kann sich zum anderen auf die Zukunft beziehen und bezeichnet<br />
dann das Unvollendete. Im Verständnis der Identität des Menschen als <strong>Fragment</strong><br />
spiegeln sich somit auch die D<strong>im</strong>ensionen der Zeit wider, in denen der Mensch<br />
existiert und <strong>Geschichte</strong> verstanden wird. „<strong>Fragment</strong>e – seien es die Ruinen der Vergangenheit,<br />
seien es die <strong>Fragment</strong>e aus Zukunft – weisen über sich hinaus. Sie leben<br />
und wirken in Spannung zu jener Ganzheit, die sie nicht sind und nicht darstellen, auf<br />
die hin aber der Betrachter sie zu ergänzen trachtet. <strong>Fragment</strong>e lassen Ganzheit suchen,<br />
die sie aber selber nicht bieten und finden lassen.“ 24 Ein Verständnis des Menschen als<br />
fragmentarisches Subjekt der <strong>Geschichte</strong> kann sowohl der geschichtlich werdenden,<br />
aber nie abgeschlossenen Identität des Menschen gerecht werden, als auch seiner Konstitution<br />
als in der <strong>Geschichte</strong> handelndes und <strong>Geschichte</strong> erleidendes Wesen. Henning<br />
Luther führt folgende theologische Topoi für sein Verständnis von fragmentarischer<br />
Identität an: Sünde, verstanden als das Streben nach einer vollständigen, dauerhaften<br />
Ich-Identität, „das die Bedingungen von <strong>Fragment</strong>arität nicht zu akzeptieren bereit ist“;<br />
Rechtfertigung, verstanden als Zuspruch von Gnade, der erst zur Geltung kommt, „wenn<br />
die <strong>Fragment</strong>arität von Identität ohne Schaden und ohne Selbstverlust akzeptiert werden<br />
kann“; Kreuz und Auferstehung, insofern sich <strong>im</strong> Kreuz das Leben Jesu als fragmentarisches<br />
erweist und in der Auferstehung nicht revoziert wird, sondern aufbewahrt, indem<br />
die Sicht auf Karfreitag neu gemacht wird; Eschatologie, denn zum Wesen des <strong>Fragment</strong>s<br />
gehört der über sich hinausweisende Vorschein der Vollendung. 25 Die <strong>Fragment</strong>arität<br />
des geschichtlichen Subjekts bedeutet auch, daß es nie festzustellen ist; es<br />
geht be<strong>im</strong> geschichtlichen Subjekt nicht um ein Subjektsein, sondern um ein Subjektwerden.<br />
Dieser Hinweis auf die <strong>Fragment</strong>arität des Menschen als Subjekt der <strong>Geschichte</strong> in<br />
theologischer Perspektive kohäriert mit den Einsichten, die <strong>im</strong> philosophischen Teil gewonnen<br />
wurden. 26 Dort wurde am Ende die Frage offengelassen, ob und wie Gott als<br />
22 Luther, Religion 43. Henning Luther verwendet dieses theologische Argument, neben einem religions-<br />
und kirchensoziologischen sowie einem religionspädagogischen Argument, zur Begründung<br />
der besonderen Aufmerksamkeit auf die Zusammenhänge zwischen Biographie und Religion.<br />
23 Vgl. Henning Luther, Identität und <strong>Fragment</strong>, in: ders., Religion 160–182. Im Blick auf die Geschichtstheologie<br />
hat bereits Hans-Urs von Balthasar, Das Ganze <strong>im</strong> <strong>Fragment</strong>. Aspekte der Geschichtstheologie,<br />
Einsiedeln 1963, den Begriff <strong>Fragment</strong> verwendet.<br />
24 Luther, Religion 167.<br />
25 Luther, Religion 172ff.<br />
26 Vgl. oben 1.4.3.<br />
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