Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau
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Die Verfehlung der Gottesbeziehung zeigt sich zum anderen darin, daß der Mensch<br />
seine Best<strong>im</strong>mung als Geschöpf Gottes verfehlt, indem er auf den Gebrauch seiner<br />
strukturalen Fähigkeiten, seiner Freiheit und seiner Handlungsmöglichkeiten verzichtet<br />
beziehungsweise sie – in milderer Form – nicht ausschöpft. Als in der Sünde verhafteter<br />
Mensch ergibt er oder sie sich in sein Schicksal, verfällt der Sünde der Trägheit. 3 Jene<br />
falsche Grundbeziehung hat einen Fatalismus zur Folge, der den Menschen dahintreiben<br />
und Auftrag und Gebote Gottes vergessen läßt. Der Aspekt der Passivität der Konstitution<br />
des Menschen verlagert sich auf die Ebene seines Handelns. Durch diese Verlagerung<br />
n<strong>im</strong>mt der Mensch seine aktiven und kreativen Gestaltungsmöglichkeiten nicht<br />
mehr wahr. Er oder sie verfehlt sich damit in seiner Selbstbeziehung, weil er seine von<br />
Gott geschenkten Handlungsmöglichkeiten und Gestaltungspotentiale als beschränkt<br />
oder nicht existent ansieht. 4 Er macht sich sozusagen kleiner als er ist. Davon bleibt<br />
dann auch der Weltbezug des Menschen nicht verschont. Welt und <strong>Geschichte</strong> werden<br />
als vorgegeben und unbeeinflußbar betrachtet; <strong>Geschichte</strong> begegnet dem Menschen als<br />
Schicksal, dem der Mensch hilflos ausgeliefert ist. Diese Haltung behindert oder verunmöglicht<br />
eine gelingende Kommunikation und ein partnerschaftliches Leben. Schließlich<br />
wird auch die Gottesbeziehung durch diese passive Grundhaltung infiziert. Der<br />
Mensch kann sich nicht als lebendiges Gegenüber Gottes verstehen, sondern allein als<br />
von Gott abhängiges Geschöpf, und dieses eben nicht nur <strong>im</strong> Sinne seiner Konstitution,<br />
sondern auch seiner leibhaften und geschichtlichen Existenz. Er verkennt dabei seine<br />
Best<strong>im</strong>mung als Gegenüber, das „wenig niedriger gemacht als Gott“ (Ps 8,6) ist.<br />
Im Blick auf den Menschen in der <strong>Geschichte</strong> läßt sich unter dem Aspekt der Sünde<br />
somit ein Doppeltes ausmachen. Zum einen zeigt sich die Sündhaftigkeit des Menschen<br />
in seinem Versuch, alles in den Griff bekommen zu wollen, die <strong>Geschichte</strong> selbst zu<br />
machen, Herr der <strong>Geschichte</strong> zu sein. Zum anderen zeigt sich die Sündhaftigkeit auch<br />
darin, <strong>Geschichte</strong> allein als Widerfahrnis, als Schicksal zu verstehen und sich in der <strong>Geschichte</strong><br />
der Gestaltung zu enthalten. 5 In beidem verkennt der Mensch seine Situation<br />
als Geschöpf, das sich einer <strong>Geschichte</strong> verdankt, aber auch <strong>Geschichte</strong> vor sich hat.<br />
4.2.3 Der gerechtfertigte Mensch<br />
Nach christlich-reformatorischem Verständnis ist die Gottesbeziehung des Menschen<br />
wesentlich durch die Rechtfertigung qualifiziert. Eine reformatorische theologische<br />
Anthropologie muß darum die Lehre von der Rechtfertigung zum Ausgangspunkt ihrer<br />
Überlegungen zum Menschen machen. 6 Der Mensch wird von Gott allein aus Gnade<br />
3 Vgl. Karl Barth, KD IV,1 § 58 und KD IV,2 § 65.<br />
4 Es ist ein Verdienst der Feministischen Theologie, diese Seite der Sünde gegenüber der Hybris stärker<br />
betont zu haben. Die Sünde der Passivität wird dabei, vor allem auch gesellschaftlich bedingt,<br />
mehr Frauen appropriiert, die Sünde der Hybris mehr Männern. Vgl. etwa den Überblick bei Lucia<br />
Scherzberg, Die Sünden der Männer sind nicht die Sünden der Frauen, in: Britta Hübener / Hartmut<br />
Meesmann (Hg.), Streitfall Feministische Theologie, Düsseldorf 1993, 94–104, sowie Rosemary R.<br />
Ruether, Sexismus und die Rede von Gott, Gütersloh 1985, 193ff.<br />
5 Dies kann sich auch als Folge einer falsch verstandenen Zwei-Reiche-Lehre ergeben, insofern dem<br />
Reich zur Linken eine Eigengesetzlichkeit zugestanden wird, die dieses gegen die Kritik des Evangeliums<br />
<strong>im</strong>munisiert.<br />
6 Darauf hat, gegenüber subjektivitätstheoretischen Ansätzen, Ingolf U. Dalferth, Subjektivität und<br />
Glaube, in: NZSTh 36/1994, 18–58, bes. 57, hingewiesen. Vgl. auch das Kapitel „Die Rechtferti–<br />
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