Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

des privaten Lebens“ 38 in den Blick. In all den damit beschriebenen Lebens- und Handlungsfeldern verhalten sich Menschen, vollziehen Handlungen und erleiden deren Folgen. Prinzipiell kann jedes Handeln des Menschen als geschichtliches Handeln verstanden werden. Denn auch einfachste Handlungen, wie das Öffnen oder Schließen eines Fensters, sind Teil der Lebensgeschichte eines Menschen, haben eine Vor- geschichte und werden in der Regel intentional vollzogen. Auch kann eine solch ein- fache Handlung für die Lebensgeschichte eines Menschen und sein Selbstverständnis eine Bedeutung gewinnen, die der Handlung als solcher nicht inhärent ist. Ihre Be- deutung läßt sich aber nur durch ihren Zusammenhang innerhalb einer größeren Ge- schichte, der Vor- und Nachgeschichte formulieren. Dabei kann eine Handlung diesen größeren Zusammenhang bewußt machen, 39 sie kann aber auch erst durch diesen größeren Zusammenhang eine Bedeutung für eine Geschichte gewinnen. Darüber hinaus gibt es Handlungen, die Bedeutung für die Geschichte einer Familie oder Sippe haben, etwa der Bau eines Hauses oder eine Heirat. Neben den intendierten Handlungen und deren geplanten Folgen können auch die ungeplanten Nebenfolgen einer Handlung diese zu einer geschichtlichen Handlung machen, wenn nämlich diese Nebenfolgen für die weitere Entwicklung einer Geschichte eine Bedeutung gewinnen. In einem engeren Sinn wäre unter geschichtlichem Handeln dasjenige Handeln zu verstehen, zu dessen Intention es gehört, auf den weiteren Verlauf der Geschichte Einfluß zu nehmen. Diese Handlungen und Ereignisse, wie Vertragsabschlüsse oder Schlachten, politische Entscheidungen oder gesellschaftliche Veränderungen, werden als „geschichtlich“ oder „historisch“ qualifiziert. Die Ausweitung des Gegenstandsbereiches von Geschichte, von der im weiteren Sinn politischen und gesellschaftlichen Geschichte hin zur Kulturgeschichte, zur Strukturgeschichte, zur Mentalitätsgeschichte usw. hat zur Folge, daß nun auch Ereignisse und Handlungen als geschichtlich relevant begriffen werden, die früher als private für die Geschichtsschreibung als irrelevant verstanden wurden. Versucht man, diese vielfältigen Handlungen im Blick auf eine Geschichte zu verstehen, so sind dabei drei Ebenen zu unterscheiden. Die erste Ebene ist die der (reinen, einfachen) Handlung. Die zweite Ebene ist die der aus dieser Handlung sich ergebenden (intendierten oder nicht-intendierten) Folgen. Die dritte Ebene ist die der Interpretation der Handlung und ihrer Folgen im Zusammenhang. Erst alle drei Ebenen zusammen ergeben eine „geschichtliche“ Handlung. Das Gewicht liegt dabei auf der Ebene der Interpretation. Handlungen, deren Voraussetzungen und Folgen, stellen gewissermaßen das „Material“ der Geschichte dar, das erst durch Interpretation zur Erzählung und damit zu „Geschichte“ wird. Geschichte wird nicht „gemacht“, indem eine (einfache) Handlung vollzogen wird, sondern indem eine (einfache) Handlung mit ihren Voraussetzungen und ihren (intendierten und nicht-intendierten) Folgen in einen Zusammenhang gestellt wird. 38 Vgl. die breite Darstellung der „Geschichte des privaten Lebens“ in 5 Bänden, hg. von Philippe Ariès und Georges Duby, Frankfurt/M. 1995. 39 Ein Paradebeispiel der Literatur ist jene Szene aus Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, in der das Eintauchen eines Gebäckstückes die Handlung ist, die eine Erfahrung hervorruft, die den Blick für eine ganze Lebensgeschichte und mehr öffnet. 240

3.3.2 Menschliches Handeln in theologischer Perspektive Die unterschiedlichen Gegenstandsbezüge des Ausdrucks Geschichte unterliegen im Hinblick auf eine Theologie der Geschichte denselben Bedingungen. Sie werden theologisch aufgeladen, wenn die in ihnen vollzogenen Handlungen und ihre erwünschten Folgen oder auch ihre Nebenfolgen unter der Perspektive der Gottesbeziehung betrachtet werden. Dann kann in diesen Geschichten das gesehen werden, was mit Fügung oder Führung bezeichnet wird. Scheitern solche Geschichten, kann die Frage nach der Zulassung Gottes, in der schärfsten Form als Frage der Theodizee, auftauchen. In beiden Fällen geht es aber um eine Interpretation dieser Geschichten unter der Prämisse, daß Gott in den Geschichten dabei ist, die Welt und die Menschen nicht sich selbst überlassen hat. 3.3.2.1 Das von Gott ermöglichte Handeln Es ist also zunächst festzuhalten, daß geschichtliches Handeln des Menschen theologisch dadurch qualifiziert wird, daß es in der Perspektive der Gottesbeziehung betrachtet wird. Diese Perspektive, das ergibt sich aus einem Verständnis Gottes als alles bestimmender Wirklichkeit, kann jegliches menschliche Handeln erfassen. Nichts ist davon ausgenommen. In theologischer Perspektive ist aber nicht jedes Handeln gleich zu qualifizieren. Geschichte und das Handeln in ihr müssen zuallererst als von Gott ermöglicht verstanden werden. Alle Aspekte menschlichen Handelns verdanken sich dem daseinsbegründenden Wirken Gottes. Sein Schöpfungswerk ist die Möglichkeitsbedingung menschlichen geschichtlichen Handelns. In ihm werden die Gegenstände bereitgestellt, mit denen Menschen handelnd umgehen. Auch die Fähigkeiten des Menschen, seine körperlichen und geistigen Fertigkeiten, sind als von Gott gegeben zu verstehen. Darüber hinaus wird der Mensch durch das Heilsgeschehen in Kreuz und Auferstehung und die damit implizierte Veränderung der Rahmenbedingungen menschlichen Handelns zu einer neuen Existenz befähigt. Indem in Kreuz und Auferstehung sich das Heil für die Welt bereits antizipatorisch ereignet hat, wird dem Menschen von Gott her in neu daseinskonstituierender Weise ein Aspekt seiner Existenz eröffnet, der sich als eschatologisch bezeichnen läßt. 40 Die Orientierung des Handelns des Menschen gründet sich durch das Heilsgeschehen von Kreuz und Auferstehung nicht mehr allein auf Vergangenheit und Gegenwart, sondern auf die Zukunft, die in der Auferstehung Christi erschienen und verheißen ist. In Kreuz und Auferstehung hat Gott den Menschen im Glauben zu neuem Leben befreit und berufen. Durch dieses Rechtfertigungs- und Versöhnungsgeschehen wird der Mensch auch neu zum Handeln befreit, zu einem Handeln, das vom angebrochenen und kommenden Reich Gottes her bestimmt ist und nicht mehr (nur) von den Bedingungen dieser Weltzeit. In Kreuz und Auferstehung hat Gott also nicht nur sein Handeln neu bestimmt, sondern auch dem Handeln des Menschen im Glauben eine neue Fundierung gegeben. Auf die Bedeutung für das Verständnis des Menschen als geschichtlichem und in der Geschichte handelndem Subjekt werden wir unten noch zu sprechen kommen. 40 Vgl. dazu unten 3.4.2.3. 241

des privaten Lebens“ 38 in den Blick. In all den damit beschriebenen Lebens- und Handlungsfeldern<br />

verhalten sich Menschen, vollziehen Handlungen und erleiden deren Folgen.<br />

Prinzipiell kann jedes Handeln des Menschen als geschichtliches Handeln verstanden<br />

werden. Denn auch einfachste Handlungen, wie das Öffnen oder Schließen<br />

eines Fensters, sind Teil der Lebensgeschichte eines Menschen, haben eine Vor-<br />

geschichte und werden in der Regel intentional vollzogen. Auch kann eine solch ein-<br />

fache Handlung für die Lebensgeschichte eines Menschen und sein Selbstverständnis<br />

eine Bedeutung gewinnen, die der Handlung als solcher nicht inhärent ist. Ihre Be-<br />

deutung läßt sich aber nur durch ihren Zusammenhang innerhalb einer größeren Ge-<br />

schichte, der Vor- und Nachgeschichte formulieren. Dabei kann eine Handlung diesen<br />

größeren Zusammenhang bewußt machen, 39 sie kann aber auch erst durch diesen<br />

größeren Zusammenhang eine Bedeutung für eine <strong>Geschichte</strong> gewinnen. Darüber hinaus<br />

gibt es Handlungen, die Bedeutung für die <strong>Geschichte</strong> einer Familie oder Sippe haben,<br />

etwa der Bau eines Hauses oder eine Heirat. Neben den intendierten Handlungen und<br />

deren geplanten Folgen können auch die ungeplanten Nebenfolgen einer Handlung diese<br />

zu einer geschichtlichen Handlung machen, wenn nämlich diese Nebenfolgen für die<br />

weitere Entwicklung einer <strong>Geschichte</strong> eine Bedeutung gewinnen.<br />

In einem engeren Sinn wäre unter geschichtlichem Handeln dasjenige Handeln zu verstehen,<br />

zu dessen Intention es gehört, auf den weiteren Verlauf der <strong>Geschichte</strong> Einfluß<br />

zu nehmen. Diese Handlungen und Ereignisse, wie Vertragsabschlüsse oder Schlachten,<br />

politische Entscheidungen oder gesellschaftliche Veränderungen, werden als „geschichtlich“<br />

oder „historisch“ qualifiziert. Die Ausweitung des Gegenstandsbereiches von <strong>Geschichte</strong>,<br />

von der <strong>im</strong> weiteren Sinn politischen und gesellschaftlichen <strong>Geschichte</strong> hin zur<br />

Kulturgeschichte, zur Strukturgeschichte, zur Mentalitätsgeschichte usw. hat zur Folge,<br />

daß nun auch Ereignisse und Handlungen als geschichtlich relevant begriffen werden,<br />

die früher als private für die Geschichtsschreibung als irrelevant verstanden wurden.<br />

Versucht man, diese vielfältigen Handlungen <strong>im</strong> Blick auf eine <strong>Geschichte</strong> zu verstehen,<br />

so sind dabei drei Ebenen zu unterscheiden. Die erste Ebene ist die der (reinen, einfachen)<br />

Handlung. Die zweite Ebene ist die der aus dieser Handlung sich ergebenden<br />

(intendierten oder nicht-intendierten) Folgen. Die dritte Ebene ist die der Interpretation<br />

der Handlung und ihrer Folgen <strong>im</strong> Zusammenhang. Erst alle drei Ebenen zusammen<br />

ergeben eine „geschichtliche“ Handlung. Das Gewicht liegt dabei auf der Ebene der Interpretation.<br />

Handlungen, deren Voraussetzungen und Folgen, stellen gewissermaßen<br />

das „Material“ der <strong>Geschichte</strong> dar, das erst durch Interpretation zur Erzählung und damit<br />

zu „<strong>Geschichte</strong>“ wird. <strong>Geschichte</strong> wird nicht „gemacht“, indem eine (einfache) Handlung<br />

vollzogen wird, sondern indem eine (einfache) Handlung mit ihren Voraussetzungen<br />

und ihren (intendierten und nicht-intendierten) Folgen in einen Zusammenhang gestellt<br />

wird.<br />

38 Vgl. die breite Darstellung der „<strong>Geschichte</strong> des privaten Lebens“ in 5 Bänden, hg. von Philippe Ariès<br />

und Georges Duby, Frankfurt/M. 1995.<br />

39 Ein Paradebeispiel der Literatur ist jene Szene aus Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen<br />

Zeit“, in der das Eintauchen eines Gebäckstückes die Handlung ist, die eine Erfahrung hervorruft,<br />

die den Blick für eine ganze Lebensgeschichte und mehr öffnet.<br />

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