Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

02.12.2012 Aufrufe

Ausgehend vom Verständnis der Geschichte als dem Entwicklungsprozeß der Gattung Mensch im Deutschen Idealismus sieht Schelling eine universale rechtliche Verfassung nur durch Geschichte realisierbar. 24 Und da Geschichte nur vermittels Vernunft zu haben ist, kann Geschichte auch mit Begriffen wie „Vernunft“, „Geist“ und „Weltgeist“ äquivok bzw. analog gesetzt werden. „Vernunft“, „Geist“ oder „Weltgeist“ sind dann die treibenden Kräfte der Geschichte. Kant ist in seinem Gebrauch von „Geschichte/Historie“ zum Teil noch geprägt vom alten Gegensatz von historia und philosophia. Der Gegenbegriff zum „bloß Historischen“ 25 ist nun aber nicht mehr nur die Vernunft, sondern auch die Geschichte, und zwar als „Geschichte a priori“, als „Geschichte der Menschheit“ im Sinne einer „Geschichte der Freiheit“. 26 Diese „Geschichte a priori“ ist weder durch Naturkausalität noch durch einen „verabredeten Plan“ (die Vernunft aller) bestimmt, sondern in den Handlungen der Menschen vollzieht sich ein verborgener Plan der Natur. 27 Für Hegel wird in der „philosophischen GeschichteGeschichte als „Welt-Geschichte“ thematisiert und in ihr die logische Entwicklung der vernünftigen Substanz verfolgt. Diese erscheint somit als Subjekt der Geschichte. Die Romantik 28 übernimmt die Vorstellung der Genese des Ich bzw. des Bewußtseins mit der Geschichte der Natur und der Menschheit. Für die Geschichte als Gesamtprozeß der Gattung dominieren die theologischen Interpretamente; sie ist Evangelium (Novalis), der Historiker ein rückwärts gekehrter Prophet (Fr. Schlegel), die Geschichte ist Offenbarungsprozeß (Fr. Schlegel, H. Steffens). Zugleich scheint der Gedanke auf, daß es die Natur selbst ist, die sich offenbart, der Geschichtsprozeß wird zum Naturprozeß (Novalis u.a.). Die Frühromantik betont, daß die Menschheit und nicht Volk oder Nationalstaat Träger des historischen Prozesses ist. Die Frühromantik möchte die Eigenmächtigkeit des Geschehens in seiner Tatsächlichkeit respektieren und verehren; so stellt sich zum Begriff der Geschichte der des Schicksals assoziativ ein. Novalis sieht darüber hinaus die (römisch-katholische) Kirche als das Wohnhaus der Geschichte. 29 Die Hegelschule spaltet sich später an Problemen der Religionsphilosophie. Von daher fassen auch die Linkshegelianer den Geschichtsbegriff anders. „Hegels Gedanke von der vernünftig-göttlichen Idee, die zugleich als geschichtlich wirkliche Offenbarung sich manifestiert, wird von der historischen Kritik aufgesprengt und zerfällt in einen historischen Jesus, der kaum noch rekonstruiert werden kann, und in einen idealen Christus, der das Produkt menschlicher Phantasie und Einbildungskraft, eine ‚Idee‘, ein ‚Phantom‘, eine ‚Mythe‘ ist“. 30 „Heilige Geschichte und wirkliche Geschichte fallen auseinander. (…) Geschichte soll nur die Geschichte der wirklichen Menschen sein. (…) Nicht das Absolute kommt zur Erkenntnis seiner selbst, sondern: „(...) das Selbstbewußtseyn ist die einzige Macht der Welt und der Geschichte und die Geschichte hat keinen anderen Sinn als den des Werdens und der Entwicklung des Selbstbewußtseyns.“ Man redet von „Menschheit“ und ihrem „Fortschritt“, jedoch zurückhaltend, man schreibt keine Weltgeschichte, sondern Philosophiegeschichte, politische Geschichte und enthält sich dabei aller Konstruktion. Für Karl Marx und F. Engels 31 gilt: Geschichte machen nicht Ideen, sondern wirkliche Menschen. Die Geschichte wird menschliche Geschichte sein, wenn die Menschen ihre Geschichte „mit Gesamtwillen nach einem Gesamtplan“, „mit vollem Bewußtsein selbst machen“. Weil die ökonomischen Formen und mit ihnen die Gesetze „vorübergehende und historische“ sind, ist die materialistische Geschichtsauffassung „vor allem eine Anleitung beim Studium, kein Hebel der Konstruktion à la Hegelianertum“. Für den Existentialismus wird Geschichte in Geschichtlichkeit als Existential aufgelöst, so daß sich die Frage nach einem Subjekt der Geschichte nur in der Fassung des sich seiner selbst bewußt werdenden Ichs stellt. 24 Vgl. Scholtz 363f Diese Orientierung an einer Verfassung, einer Ordnung, einem letztlich totalitären System könnte schon den Grund der Fehlleitung und des Scheiterns des Idealismus bedeuten. 25 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Werke Bd. 4, 698. Vgl. Scholtz 361ff. 26 Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Werke Bd. 9, 351, 360; Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, Werke Bd. 9, 85. 27 28 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke Bd. 9, 34 Vgl. zum Folgenden Scholtz 366ff. Dort auch die Belege der Zitate. 29 Vgl. Novalis, Die Christenheit oder Europa, in: Novalis, Werke in einem Band, München 1981, 526– 544. 30 Vgl. zum Folgenden Scholtz 373ff mit den Belegen der Zitate. 31 Vgl. Scholtz 374ff. 24

Bloch sieht die menschliche Arbeit als Movens der Geschichte, sieht aber auch, daß dies die „Mitproduktivität der Natur“ voraussetzt. 32 Zuweilen scheint Bloch auch in dieser Natur, die sich in der menschlichen Arbeit vermittelt, das treibende Subjekt der Geschichte zu sehen. 33 Es zeigt sich, daß im Verlauf der geschichtstheoretischen und geschichtsphilosophischen Überlegungen ein einheitliches Subjekt der Geschichte immer weniger zu benennen ist. Theologische Motive bei den Überlegungen zu dieser Frage verlieren an Einfluß. Gott als Subjekt der Geschichte wird von der Menschheit abgelöst, diese als Konstrukt entlarvt und auf andere Kräfte und Mächte der Geschichte verwiesen. Je nach Perspektive und leitenden Interessen wird das Subjekt anders bestimmt oder es wird gänzlich auf ein hinter der Geschichte stehendes oder in der Geschichte handelndes Subjekt verzichtet. 1.3 Universalität und Pluralität Eine prinzipielle Fragestellung im Blick auf die Geschichte ist die Frage nach dem Verständnis und Verhältnis von Universalität und Pluralität. Schon bei der Erzählung von Geschichten werden einzelne Geschehnisse und Ereignisse in einen Zusammenhang gestellt, so daß sich die Frage nach einem universalen Zusammenhang der Geschichten im Plural gleichsam von selbst ergibt. Dies läßt sich bereits in der Antike feststellen, wenn von der „Erkundung“ zur Frage nach dem Ursprung und Prinzip des Weltganzen übergegangen wird. Diese Frage stellt sich auch für eine Geschichtstheologie, die das Erscheinen Jesu Christi als geschichtliches Ereignis in seiner universalen Relevanz und als singuläres Ereignis im Rahmen einer Deutung der Geschichte insgesamt zu verstehen suchen muß. Dabei wird in der Alten Kirche thematisiert, wie das Problem gelöst werden kann, daß einerseits durch Christi Erscheinen die Äonenwende bereits vollzogen ist, andererseits das Weltende erst von Christi Wiederkunft erwartet wird. Die sich ausweitende Zeitspanne zwischen diesen zwei Ereignissen gilt es zu erklären. Dazu gibt es verschiedene Ansätze; zum einen als Zeit natürlicher Reifung (1. Clemensbrief), Geschichte als Zeit der Herstellung des Heils, als Zeit des Wachstums (Irenäus). 34 Daneben entsteht im Rückgriff auf die Vier-Reiche-Lehre und den Weltwochengedanken eine Entfaltung der chiliastischen Vorstellung; später wurde von der Kirche aber zur Abwehr häretischer Entwicklungen die Idee des Millennium zur undatierbaren nachgeschichtlichen Vollendungszeit abgeschwächt. In der Romantik lassen sich unterschiedliche Tendenzen feststellen. Einerseits wird die Geschichte quasi religiös überhöht und mit theologischen Interpretamenten versehen. Andererseits wird auf eine universale Innerlichkeit, das Empfinden Bezug genommen und damit das Verhältnis von Universalität und Pluralität bzw. die Betonung auch des Individuellen ins Innere des Menschen verlegt. Im Idealismus wird die Universalität in den Vordergrund gerückt. In der Geschichte ordnen sich die einzelnen Geschichten und Entwicklungen zu einem großen, umfassenden und zielgerichteten Prozeß zusammen. Unterschiedlich wird dabei bestimmt, was das Treibende dieses universalen Prozesses ist, der Weltgeist, die Freiheit, die Vernunft, das Bewußtsein. In jedem Fall ist dieses Treibende als ein Transzendentales zu verstehen. Im 19. Jahrhundert, das auch als „Jahrhundert des Historismus“ bezeichnet wird, beginnt die Auflösung der Universalität von Geschichte. Mit der Krise des universalen Bewußtseins gerät auch das Bewußtsein 32 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1953), GA 5, 1959; zit. nach Scholtz 391. 33 Vgl. Scholtz 391. 34 Vgl. Scholtz 345f mit den Belegen. 25

Ausgehend vom Verständnis der <strong>Geschichte</strong> als dem Entwicklungsprozeß der Gattung Mensch <strong>im</strong> Deutschen<br />

Idealismus sieht Schelling eine universale rechtliche Verfassung nur durch <strong>Geschichte</strong> realisierbar. 24<br />

Und da <strong>Geschichte</strong> nur vermittels Vernunft zu haben ist, kann <strong>Geschichte</strong> auch mit Begriffen wie „Vernunft“,<br />

„Geist“ und „Weltgeist“ äquivok bzw. analog gesetzt werden. „Vernunft“, „Geist“ oder „Weltgeist“<br />

sind dann die treibenden Kräfte der <strong>Geschichte</strong>.<br />

Kant ist in seinem Gebrauch von „<strong>Geschichte</strong>/Historie“ zum Teil noch geprägt vom alten Gegensatz von<br />

historia und philosophia. Der Gegenbegriff zum „bloß Historischen“ 25 ist nun aber nicht mehr nur die<br />

Vernunft, sondern auch die <strong>Geschichte</strong>, und zwar als „<strong>Geschichte</strong> a priori“, als „<strong>Geschichte</strong> der Menschheit“<br />

<strong>im</strong> Sinne einer „<strong>Geschichte</strong> der Freiheit“. 26 Diese „<strong>Geschichte</strong> a priori“ ist weder durch Naturkausalität<br />

noch durch einen „verabredeten Plan“ (die Vernunft aller) best<strong>im</strong>mt, sondern in den Handlungen der<br />

Menschen vollzieht sich ein verborgener Plan der Natur. 27<br />

Für Hegel wird in der „philosophischen <strong>Geschichte</strong>“ <strong>Geschichte</strong> als „Welt-<strong>Geschichte</strong>“ thematisiert und in<br />

ihr die logische Entwicklung der vernünftigen Substanz verfolgt. Diese erscheint somit als Subjekt der<br />

<strong>Geschichte</strong>.<br />

Die Romantik 28 übern<strong>im</strong>mt die Vorstellung der Genese des Ich bzw. des Bewußtseins mit der <strong>Geschichte</strong><br />

der Natur und der Menschheit. Für die <strong>Geschichte</strong> als Gesamtprozeß der Gattung dominieren die theologischen<br />

Interpretamente; sie ist Evangelium (Novalis), der Historiker ein rückwärts gekehrter Prophet (Fr.<br />

Schlegel), die <strong>Geschichte</strong> ist Offenbarungsprozeß (Fr. Schlegel, H. Steffens). Zugleich scheint der Gedanke<br />

auf, daß es die Natur selbst ist, die sich offenbart, der Geschichtsprozeß wird zum Naturprozeß<br />

(Novalis u.a.).<br />

Die Frühromantik betont, daß die Menschheit und nicht Volk oder Nationalstaat Träger des historischen<br />

Prozesses ist. Die Frühromantik möchte die Eigenmächtigkeit des Geschehens in seiner Tatsächlichkeit<br />

respektieren und verehren; so stellt sich zum Begriff der <strong>Geschichte</strong> der des Schicksals assoziativ ein.<br />

Novalis sieht darüber hinaus die (römisch-katholische) Kirche als das Wohnhaus der <strong>Geschichte</strong>. 29<br />

Die Hegelschule spaltet sich später an Problemen der Religionsphilosophie. Von daher fassen auch die<br />

Linkshegelianer den Geschichtsbegriff anders. „Hegels Gedanke von der vernünftig-göttlichen Idee, die<br />

zugleich als geschichtlich wirkliche Offenbarung sich manifestiert, wird von der historischen Kritik aufgesprengt<br />

und zerfällt in einen historischen Jesus, der kaum noch rekonstruiert werden kann, und in einen<br />

idealen Christus, der das Produkt menschlicher Phantasie und Einbildungskraft, eine ‚Idee‘, ein<br />

‚Phantom‘, eine ‚Mythe‘ ist“. 30 „Heilige <strong>Geschichte</strong> und wirkliche <strong>Geschichte</strong> fallen auseinander. (…) <strong>Geschichte</strong><br />

soll nur die <strong>Geschichte</strong> der wirklichen Menschen sein. (…) Nicht das Absolute kommt zur Erkenntnis<br />

seiner selbst, sondern: „(...) das Selbstbewußtseyn ist die einzige Macht der Welt und der <strong>Geschichte</strong><br />

und die <strong>Geschichte</strong> hat keinen anderen Sinn als den des Werdens und der Entwicklung des<br />

Selbstbewußtseyns.“ Man redet von „Menschheit“ und ihrem „Fortschritt“, jedoch zurückhaltend, man<br />

schreibt keine Weltgeschichte, sondern Philosophiegeschichte, politische <strong>Geschichte</strong> und enthält sich<br />

dabei aller Konstruktion.<br />

Für Karl Marx und F. Engels 31 gilt: <strong>Geschichte</strong> machen nicht Ideen, sondern wirkliche Menschen. Die<br />

<strong>Geschichte</strong> wird menschliche <strong>Geschichte</strong> sein, wenn die Menschen ihre <strong>Geschichte</strong> „mit Gesamtwillen<br />

nach einem Gesamtplan“, „mit vollem Bewußtsein selbst machen“. Weil die ökonomischen Formen und<br />

mit ihnen die Gesetze „vorübergehende und historische“ sind, ist die materialistische Geschichtsauffassung<br />

„vor allem eine Anleitung be<strong>im</strong> Studium, kein Hebel der Konstruktion à la Hegelianertum“.<br />

Für den Existentialismus wird <strong>Geschichte</strong> in Geschichtlichkeit als Existential aufgelöst, so daß sich die<br />

Frage nach einem Subjekt der <strong>Geschichte</strong> nur in der Fassung des sich seiner selbst bewußt werdenden Ichs<br />

stellt.<br />

24<br />

Vgl. Scholtz 363f Diese Orientierung an einer Verfassung, einer Ordnung, einem letztlich totalitären<br />

System könnte schon den Grund der Fehlleitung und des Scheiterns des Idealismus bedeuten.<br />

25<br />

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Werke Bd. 4, 698. Vgl. Scholtz 361ff.<br />

26<br />

Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Werke Bd. 9, 351, 360; Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte,<br />

Werke Bd. 9, 85.<br />

27<br />

28<br />

Kant, Idee zu einer allgemeinen <strong>Geschichte</strong> in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke Bd. 9, 34<br />

Vgl. zum Folgenden Scholtz 366ff. Dort auch die Belege der Zitate.<br />

29<br />

Vgl. Novalis, Die Christenheit oder Europa, in: Novalis, Werke in einem Band, München 1981, 526–<br />

544.<br />

30<br />

Vgl. zum Folgenden Scholtz 373ff mit den Belegen der Zitate.<br />

31<br />

Vgl. Scholtz 374ff.<br />

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