Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

2.3 Die Zeit der Menschen in theologischer Perspektive In der Sicht des christlichen Glaubens ist die Zeit, die Menschen haben, von Gott gewährte Zeit. Sie weist eine komplexe, vernetzte Struktur auf. Menschen erleben Zeit in linearen und zyklischen Abläufen. Lineare und zyklische Zeitabläufe lassen den Menschen sich als zeitliches Wesen erleben und erfahren. So wird Zeitlichkeit zu einem anthropologischen Datum des Menschen. Zu dieser Zeitlichkeit können, ja müssen Menschen sich verhalten. Dieses Verhalten wird ebenso wie das Verständnis der Zeitlichkeit im Glauben vom Glauben bestimmt. Dabei lassen sich verschiedene Aspekte benennen. Die Zeit, die Menschen haben, ist von Gott gewährte Zeit. Damit werden die Absolutheit der Zeit, der Zeitdruck und die Zeitnutzungsimperative relativiert. Denn sie stehen unter dem Vorzeichen der Gabe Gottes. Der Mensch kann seine Zeit als in Gottes Zeit geborgen erfahren und sich zu seiner Zeit gelassen verhalten. Die Zeitlichkeit, damit auch die Vergänglichkeit des Menschen braucht darum nichts bedrohendes zu haben, sondern kann als Chance und Gelegenheit verstanden werden. Die Zeitlichkeit muß nicht von der Sorge bestimmt sein, sondern kann im Vertrauen auf die Fürsorge Gottes angenommen und gestaltet werden. Das Verständnis der linearen Zeit als einer teleologischen wird im Glauben vom Zwang, den Telos der Zeit und der Geschichte selbst erreichen zu müssen, entlastet. Damit wird ein befreiter und spielerischer Umgang mit der Zeit ermöglicht. Der Mensch muß sich nicht in der Zeit selbst verwirklichen, denn er hat in der Zeit seine von Gott geschenkte Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit kann hinsichtlich ihrer zeitlichen Verfaßtheit näherhin als eine Wirklichkeit im „Zwischen“ verstanden werden, und dies in mehrfacher Hinsicht. Einerseits als eine Zeit zwischen den Zeiten Gottes, inmitten und je und je tangiert von Gottes Ewigkeit. Dann als eine Zeit zwischen den Äonen, deren Wende im geschichtlichen Ereignis Jesu von Nazareth angebrochen ist. Weiter als eine Zeit, die sich zwischen ihrem Charakter als Gabe und als Aufgabe als gestaltungsbedürftig und gestaltungsfähig erweist. Damit ist die Zeit wesentlich als offene Zeit zu verstehen, als von Gott eröffnete und dem Menschen zur Gestaltung offene. Die Gestaltung der Zeit durch den Menschen drückt sich nicht nur in konkreten geschichtlichen Handlungen aus, sondern auch in der Gestaltung und Formung der Zeit in philosophischen, theologischen und historischen Konzepten. Diese haben allerdings immer den Charakter einer reflexiven Konstruktion, sie werden gleichsam über die Zeit gelegt, um die Zeit verstehen zu können. Zu diesen Konzepten gehören universale Geschichstdeutungen ebenso wie heilsgeschichtliche 34 Entwürfe und Epocheneinteilungen. So wichtig derartige Konzepte sind, um für den Menschen in die Komplexität der Zeit eine Ordnung zu bekommen, so problematisch erscheinen sie darin, daß sie die Zeit auch in ein Korsett zwängen und damit der Offenheit der Zeit Gewalt antun. Sie sind damit auf struktureller Ebene Versuche, die Zeit in den Griff zu bekommen. Darin ähneln sie den modernen Bestrebungen, welche die Zeit als Gestaltungsfaktor quantifizieren und mit Hilfe der technisch-instrumentellen Vernunft nutzbar zu machen versuchen. Diese verfehlen aber wesentliche Dimensionen der Zeit, die sich anthropologisch in den Ruhe gewährenden Zyklen wie theologisch in der Vorstellung der sabbat- 34 Zur Frage der Heilsgeschichte siehe unten 3.5.2. 220

lichen Ruhe und der weisheitlichen Vorstellung der je eigenen Zeit für das jeweilige Tun und Lassen ausdrücken. Ein biblisch-theologisches Verständnis von Zeit rekurriert gegenüber dem eindimensionalen Verständnis der Zeit darauf, daß einerseits die Komplexität und Vernetzung der Zeit wahrgenommen wird, und andererseits die Zeit des Menschen als grundsätzlich offene verstanden wird, wobei diese Offenheit als eine von Gott her und auf Gott hin verstanden wird. Es läßt aufgrund dieser Offenheit auch Raum für das Durchbrechen der Zeit, eröffnet von seinem strukturalen Verständnis her die Möglichkeit der Fülle der Zeit nicht erst an einem zu erreichenden Ziel, sondern in kontingenter Weise bereits mitten in der Zeit. Die Offenheit der Zeit vom Advent Gottes her und auf Zukunft hin läßt die geschichtliche Zeit als eine Zeit des Heils erfahren, wenn in ihr die Gegenwart Gottes aufscheint. Als Zeit des Heils erscheint die geschichtliche Zeit, wenn in ihr die Liebe Gottes erfahrbar wird. 35 Die menschliche Zeit ist zugleich eine Zeit der Hoffnung, denn in der Hoffnung wird die Zeit als offen für Gottes Advent, für den Anbruch seines Reiches verstanden. Dieses Verständnis ist allerdings nicht stringent nachweisbar und begründbar, sondern verdankt sich der Einsicht des Glaubens an die Rechtfertigung, die, wie auch die Zeit, als Geschenk und Gabe Gottes erscheint. Wird für den christlichen Glauben die Zeit als von Gott gewährte Zeit verstanden und wird in Jesus Christus die Fülle der Zeit an der Begegnung mit einer geschichtlichen Person offenbar, so gewinnt die personale Beziehung eine die Zeit qualifizierende Bedeutung. Im Gegenüber zu einem Du wird Zeit einerseits eröffnet, andererseits wird Zeit auch als Verpflichtung erfahren und bekommt dadurch eine ethische Relevanz. Empfangen und Gestaltung der Zeit in einer personalen Beziehung und Gestaltung einer personalen Beziehung bedingen sich gegenseitig. Bedenkt man, wie Jesus mit seiner Zeit umgegangen ist, so stellt man fest, daß er ganz offensichtlich Zeit für andere hatte, sich aber nicht aufdrängte. Und die Zeit war für ihn erfüllt, als er sie mit anderen teilte. Es gab Momente, wo in einem Augenblick der linearen, geschichtlichen Zeit, ein Moment der Ewigkeit, ein Kairos hereinbrach. In der Zuwendung zu anderen Menschen, im heilenden Gespräch und der wunderbaren Heilung, waren Menschen der Zeit und ihrem Druck enthoben, befreit. Sie waren ihre Sorgen los, allein dadurch, daß sie sich auf die Zeit mit Jesus eingelassen haben. Sie waren sie los für einen Augenblick, aber dieser Augenblick hatte es in sich. Es war ein Augenblick der Ewigkeit, ein Moment der Gegenwart des Reiches Gottes. In der linearen, geschichtlichen Zeit geht solch ein Augenblick vorüber wie ein Augenblick. Aber in seinen heilenden Wirkungen kann er Ewigkeiten anhalten. So ereignete sich in der Begegnung mit Jesus, in einer personalen Begegnung, die Fülle der Zeit. In der Nachfolge Jesu Christi kann diese Qualität der Zeit sich auch in personalen Beziehungen unter Menschen ereignen und darin die Gestaltung der Zeit bestimmen. 35 Vgl. Achtner, Kunz, Walter, Dimensionen 174f, die das tripolare Zeitgefüge in Analogie zu den drei Dimensionen des Liebesgebotes interpretieren. 221

2.3 Die Zeit der Menschen in theologischer Perspektive<br />

In der Sicht des christlichen Glaubens ist die Zeit, die Menschen haben, von Gott gewährte<br />

Zeit. Sie weist eine komplexe, vernetzte Struktur auf. Menschen erleben Zeit in<br />

linearen und zyklischen Abläufen. Lineare und zyklische Zeitabläufe lassen den Menschen<br />

sich als zeitliches Wesen erleben und erfahren. So wird Zeitlichkeit zu einem anthropologischen<br />

Datum des Menschen. Zu dieser Zeitlichkeit können, ja müssen Menschen<br />

sich verhalten. Dieses Verhalten wird ebenso wie das Verständnis der Zeitlichkeit<br />

<strong>im</strong> Glauben vom Glauben best<strong>im</strong>mt. Dabei lassen sich verschiedene Aspekte benennen.<br />

Die Zeit, die Menschen haben, ist von Gott gewährte Zeit. Damit werden die Absolutheit<br />

der Zeit, der Zeitdruck und die Zeitnutzungs<strong>im</strong>perative relativiert. Denn sie stehen<br />

unter dem Vorzeichen der Gabe Gottes. Der Mensch kann seine Zeit als in Gottes<br />

Zeit geborgen erfahren und sich zu seiner Zeit gelassen verhalten. Die Zeitlichkeit, damit<br />

auch die Vergänglichkeit des Menschen braucht darum nichts bedrohendes zu haben,<br />

sondern kann als Chance und Gelegenheit verstanden werden. Die Zeitlichkeit muß<br />

nicht von der Sorge best<strong>im</strong>mt sein, sondern kann <strong>im</strong> Vertrauen auf die Fürsorge Gottes<br />

angenommen und gestaltet werden.<br />

Das Verständnis der linearen Zeit als einer teleologischen wird <strong>im</strong> Glauben vom Zwang,<br />

den Telos der Zeit und der <strong>Geschichte</strong> selbst erreichen zu müssen, entlastet. Damit wird<br />

ein befreiter und spielerischer Umgang mit der Zeit ermöglicht. Der Mensch muß sich<br />

nicht in der Zeit selbst verwirklichen, denn er hat in der Zeit seine von Gott geschenkte<br />

Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit kann hinsichtlich ihrer zeitlichen Verfaßtheit näherhin<br />

als eine Wirklichkeit <strong>im</strong> „Zwischen“ verstanden werden, und dies in mehrfacher Hinsicht.<br />

Einerseits als eine Zeit zwischen den Zeiten Gottes, inmitten und je und je tangiert<br />

von Gottes Ewigkeit. Dann als eine Zeit zwischen den Äonen, deren Wende <strong>im</strong> geschichtlichen<br />

Ereignis Jesu von Nazareth angebrochen ist. Weiter als eine Zeit, die sich<br />

zwischen ihrem Charakter als Gabe und als Aufgabe als gestaltungsbedürftig und gestaltungsfähig<br />

erweist. Damit ist die Zeit wesentlich als offene Zeit zu verstehen, als von<br />

Gott eröffnete und dem Menschen zur Gestaltung offene.<br />

Die Gestaltung der Zeit durch den Menschen drückt sich nicht nur in konkreten geschichtlichen<br />

Handlungen aus, sondern auch in der Gestaltung und Formung der Zeit in<br />

philosophischen, theologischen und historischen Konzepten. Diese haben allerdings<br />

<strong>im</strong>mer den Charakter einer reflexiven Konstruktion, sie werden gleichsam über die Zeit<br />

gelegt, um die Zeit verstehen zu können. Zu diesen Konzepten gehören universale Geschichstdeutungen<br />

ebenso wie heilsgeschichtliche 34 Entwürfe und Epocheneinteilungen.<br />

So wichtig derartige Konzepte sind, um für den Menschen in die Komplexität der Zeit<br />

eine Ordnung zu bekommen, so problematisch erscheinen sie darin, daß sie die Zeit<br />

auch in ein Korsett zwängen und damit der Offenheit der Zeit Gewalt antun. Sie sind<br />

damit auf struktureller Ebene Versuche, die Zeit in den Griff zu bekommen. Darin ähneln<br />

sie den modernen Bestrebungen, welche die Zeit als Gestaltungsfaktor quantifizieren<br />

und mit Hilfe der technisch-instrumentellen Vernunft nutzbar zu machen versuchen.<br />

Diese verfehlen aber wesentliche D<strong>im</strong>ensionen der Zeit, die sich anthropologisch<br />

in den Ruhe gewährenden Zyklen wie theologisch in der Vorstellung der sabbat-<br />

34 Zur Frage der Heilsgeschichte siehe unten 3.5.2.<br />

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