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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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Lebens in der Gegenwart. Für das menschliche Leben ist freilich <strong>Geschichte</strong> konstitutiv. Das Bemühen um<br />

Objektivität ist damit obsolet, weil die Facta objektiv gesehen uneindeutig und kaum faßbar sind; die <strong>Geschichte</strong><br />

ist mithin brutal und sinnlos. „Wer wie Hegel Vernunft in ihr sieht, rechtfertigt nur zynisch post<br />

festum den Erfolg der Sieger. (…) Nietzsche destruiert das historische Denken, indem er genealogisch<br />

nach seiner historischen Bedingung fragt und als solche das Christentum ermittelt: Der historische Sinn ist<br />

nur ‚eine verkappte Theologie‘.“ Nietzsche erhofft sich von der Überwindung des Christentums durch die<br />

Lehre von der ewigen Wiederkunft und durch den Tod Gottes den Wendepunkt der <strong>Geschichte</strong> und eine<br />

andere, zukünftige <strong>Geschichte</strong>. 15<br />

Auch J. Burckhardt ist gegenüber der idealistischen und vaterländisch-romantischen Geschichtsauffassung<br />

skeptisch. Das Wesen der <strong>Geschichte</strong> ist Wandlung. <strong>Geschichte</strong> ist die unwissenschaftlichste aller Wissenschaften,<br />

sie überliefert nur Wissenswürdiges. Es gilt nicht, Bewegungsgesetze aufzuspüren, sondern<br />

zum „Geschichtlichen“ in ein verstehendes Verhältnis zu kommen. Die adäquate Haltung zum Geschichtlichen<br />

ist ästhetisch, „beschauend“. Der Satz Historia vitae magistra erhält „einen höheren und bescheideneren<br />

Sinn: Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für <strong>im</strong>mer)<br />

werden“ 16 .<br />

Die Skepsis bzw. Bescheidenheit gegenüber der <strong>Geschichte</strong> wird <strong>im</strong> 20. Jahrhundert weiter verfolgt. So<br />

lehnt es K.R. Popper ab, von der <strong>Geschichte</strong> (<strong>im</strong> objektiven Sinn) zu sprechen, wobei er von einem praktisch-moralischen<br />

und einem erkenntniskritischen Motiv geleitet wird. Denn Theorien, die <strong>Geschichte</strong> in<br />

ihrer Ganzheit erklären wollen, leisten a) dem Totalitarismus und der Vernichtung der „offenen“, d.h.<br />

freiheitlich-demokratischen Gesellschaft Vorschub und postulieren b) für einen Bereich das Prinzip der<br />

„Generalisation“, in dem es nicht bzw. nur sehr eingeschränkt Geltung haben kann. 17 „Die <strong>Geschichte</strong> als<br />

Objektfeld gibt keine Gesetze und damit keine allgemein verpflichtenden ‚Standpunkte‘ an die Hand; es<br />

gibt keine ‚prüfbaren Hypothesen‘, sondern nur ‚Einstellungen‘.“ Das Interesse und die Fruchtbarkeit des<br />

Ansatzes entscheiden über den gewählten Blickwinkel und die zu beleuchtende Seite der <strong>Geschichte</strong>. Wegen<br />

der prinzipiellen und fruchtbaren Pluralität der Möglichkeiten, <strong>Geschichte</strong> zu sehen und darzustellen,<br />

zerfällt die Einheit des Begriffs <strong>Geschichte</strong>: „Es gibt keine <strong>Geschichte</strong> der Menschheit, es gibt nur eine<br />

unbegrenzte Anzahl von <strong>Geschichte</strong>n, die alle möglichen Aspekte des menschlichen Lebens betreffen“;<br />

oder anders: es gibt eine „höchst pluralistische <strong>Geschichte</strong>“. 18<br />

A.C. Danto n<strong>im</strong>mt Poppers Gedanken in seiner analytischen Geschichtsphilosophie auf und versteht <strong>Geschichte</strong><br />

nicht als Kausalerklärung, sondern als „Erzählung“; Beschreibung, Erklärung und Interpretation<br />

verklammert <strong>Geschichte</strong> zu einer homogenen Einheit. Jede <strong>Geschichte</strong> ist die retrospektive narrative Organisation<br />

vergangener Ereignisse mit Hilfe von Schemata und geleitet durch Interessen. Sie ist mit ihrem<br />

Gegenstand nie deckungsgleich und prinzipiell durch die Subjektivität des Historikers best<strong>im</strong>mt. 19<br />

In den Geisteswissenschaften ergibt sich aus dem Überschreiten der neukantianischen Trennung von Erkenntnissubjekt<br />

und Geschichtsmaterial eine Fassung von <strong>Geschichte</strong>, die weiter als wissenschaftliche<br />

Historie ist. J. Huizinga definiert: „<strong>Geschichte</strong> ist die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit<br />

Rechenschaft gibt.“ Das „Erkennen historischer Wahrheit“ hängt von einer Aufnahmefähigkeit<br />

ab, „die wieder aus der Betrachtung der Historie entsteht. Die Historie selbst und das historische Bewußtsein<br />

werden ein integrierender Bestandteil der Kultur; Subjekt und Objekt sind in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit<br />

anerkannt.“ 20<br />

H.-G. Gadamer faßt <strong>Geschichte</strong> als das, was uns <strong>im</strong>mer schon vorausliegt: „Wir sind <strong>im</strong>mer schon mitten<br />

in der <strong>Geschichte</strong> darin“; „<strong>Geschichte</strong> ist, was wir je waren und sind. Sie ist das Verbindliche unseres<br />

15<br />

Scholtz 378.<br />

16<br />

J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. R. Stadelmann (o.J.), 31; zit. nach Scholtz 379.<br />

17 2<br />

K.R. Popper, Das Elend des Historismus, 1965 , bes.112ff; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde,<br />

1970 2 18<br />

, 2, 123, 323ff; zit. nach Scholtz.<br />

Vgl. Scholtz 395.<br />

19<br />

A.C. Danto: Analytische Philosophie der <strong>Geschichte</strong>, Frankfurt/M. 1980; ausführlicher dazu unten<br />

1.6.2.2.<br />

20<br />

J. Huizinga, Über eine Definition des Begriffs <strong>Geschichte</strong> (1929), in: ders., <strong>Geschichte</strong> und Kultur,<br />

Stuttgart 1954, 1–15, hier 13 und 15.<br />

22

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