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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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arer scheint mir ein Verständnis dieser neuen Zeit als einer kairologischen zu sein. Der<br />

Kairos kann mitten in der chronologischen Zeit aufbrechen, ihr eine neue Richtung<br />

geben, sie neu qualifizieren. 27 Kairologisch qualifiziert wird die Zeit dann, wenn sie die<br />

Struktur des Reiches Gottes aufweist. 28 Das Gottesreich naht und ist schon da; obwohl<br />

es erst naht, ist es doch schon herbeigekommen (Mk 1,15). Diese Nähe besitzt eine ganz<br />

eigene Zeitstruktur, denn das Gottesreich ist gegenwärtig und zukünftig zugleich, zukünftig<br />

als Verheißung und gegenwärtig als Erfüllung. Als zu erwartendes ist es nicht<br />

antizipierbar, aber seine „Gegenwart ist in sich seine Nähe und damit seine objektive<br />

Antizipation“. Die durch das Reich Gottes qualifizierte Gegenwart besitzt eine „proleptische<br />

Struktur, sofern das, was in ihr vorfällt, durch den Vorfall der Zukunft in sie<br />

best<strong>im</strong>mt ist“ 29 . Die in der christlichen Tradition oftmals vorherrschende Orientierung<br />

an der Zukunft des Heils hat diese proleptische Struktur mit ihrer Hervorhebung der<br />

Gegenwart weithin übersehen. 30 Dies mag mit einer pr<strong>im</strong>ären Orientierung an der<br />

chronologischen, linearen Zeit gelegen haben. Demgegenüber scheint mir der christliche<br />

Glaube eine stärkere Beachtung der Gegenwart nahezulegen. Die Signatur der Gegenwart<br />

<strong>im</strong> Lichte des Glaubens ist die Liebe. „Erst in der Liebe enthüllt sich (…) das volle<br />

Ausmaß der Präsenz, die der Glaubende als Gegenwärtigkeit der Zukunft erlebt.“ 31 In<br />

diesem Sinne ist die qualifizierte Gegenwart nicht pr<strong>im</strong>är als der Punkt des Jetzt auf<br />

einer Zeitlinie zu verstehen, sondern als der Augenblick, der die Zeit erst erschließt. 32<br />

Als solcher Augenblick ist die Gegenwart, genauer: die Geistes-Gegenwart, nicht ver-<br />

fügbar, sondern hat den Charakter eines Widerfahrnisses. Gott, der die Zeit erschaffen<br />

hat, qualifiziert die Zeit als Zeit der Fülle, indem er in die ambivalente lineare Zeit einbricht,<br />

diese aufbricht und durch die Geistes-Gegenwart die Zeit als erfüllte erscheinen<br />

läßt. Das Eingreifen Gottes ist vorzustellen <strong>im</strong> Modus der Erleuchtung; es ist ein pneumatologisches<br />

Geschehen, in dem Gott seine Gegenwart und die Synchronizität seiner<br />

Zeit mit der Zeit der Welt erschließt. 33 Die Betonung des kairologischen Moments in<br />

diesem theologischen Verständnis von Zeit bedeutet allerdings nicht, daß die lineare<br />

Zeit demgegenüber defizitär oder negativ zu qualifizieren wäre. Die Zeit des Heils<br />

bricht zwar in die lineare Zeit ein und diese auf, aber sie wird – je und je – in dieser<br />

Schöpfung innerhalb der linearen Zeitstruktur erfahrbar.<br />

27<br />

Vgl. die Überlegungen zu Chronos und Aion bei Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit,<br />

Frankfurt/M 1991, 300ff.<br />

28<br />

Vgl. zum folgenden Theunissen, Negative Theologie 326ff.<br />

29<br />

Theunissen, Negative Theologie 327.<br />

30<br />

Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, Göttingen 1988 entwickelt von einem Zeitverständnis<br />

her, das sowohl an der Ewigkeit Gottes als auch an der Bewegung als Konstitutionsbedingungen<br />

für Zeit orientiert ist, ein Verständnis der Gottesherrschaft, in deren Zukunft Zeit und<br />

Ewigkeit sich zusammenschließen. „In ihr [der Zukunft der Gottesherrschaft, KFG] schließt die<br />

Ewigkeit sich mit der Zeit zusammen. Sie ist der Ort der Ewigkeit selbst in der Zeit, der Ort Gottes in<br />

seinem Verhältnis zur Welt, Ausgangspunkt seines Handelns <strong>im</strong> Anbruch seiner Zukunft für seine<br />

Geschöpfe, Quelle der Kraftwirkungen seines Geistes“ (442).<br />

31<br />

Theunissen, Negative Theologie 356. Theunissen (356ff) arbeitet den Bezug von Glaube, Hoffnung<br />

und Liebe (1 Kor 13,13) zu den Zeitmodi sehr schön heraus.<br />

32<br />

Vgl. dazu auch Gerd Haeffner, In der Gegenwart leben. Auf der Spur eines Urphänomens, Stuttgart<br />

1996.<br />

33<br />

Zur näheren Best<strong>im</strong>mung des Eingreifens bzw. Handelns Gottes siehe unten Abschnitt 3.3.<br />

219

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