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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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zwischen den Zeiten, präziser: zwischen der schon angebrochenen und der vollendeten<br />

Gottesherrschaft. 18<br />

Wenn nun in Jesus Christus die Zeit Gottes der Zeit der Welt nicht nur synchron geworden<br />

ist, sondern die Präsenz Gottes in dieser Welt auch räumliche und leibhafte Implikationen<br />

hat, so wäre danach zu fragen, wie sich diese Implikationen <strong>im</strong> Blick auf die<br />

Zeit vorstellen lassen, nachdem, mythologisch gesprochen, Jesus Christus auferstanden<br />

und gen H<strong>im</strong>mel gefahren ist. Wie drückt sich die Synchronizität von Gottes Zeit und<br />

Weltzeit in der Erfahrung der Menschen aus? Wenn die Verknüpfung von Gottes Zeit<br />

mit der Zeit der Welt sich allein der Aktivität Gottes verdankt, dann ist die Erfahrung<br />

der „Fülle der Zeit“ für den Menschen passiv konstituiert. Sie widerfährt dem Menschen.<br />

In verschiedenen, <strong>im</strong> einzelnen auch gegensätzlichen theologischen Konzepten findet<br />

sich diese Vorstellung aufgenommen. So entwirft Karl Barth 19 , ausgehend davon, daß<br />

Gott Zeit für uns hat, einen Zeitbegriff, für den die Zeit als linearer Ablauf, als ein gerichtetes<br />

Nacheinander, als Fortschritt oder Verfall, als sich vollziehende <strong>Geschichte</strong><br />

eher unbedeutend ist. Entscheidend ist demgegenüber der gegenwärtige Augenblick und<br />

das jetzige Geschehen, das allerdings aus einer Vergangenheit her kommt und auf die<br />

Zukunft zuläuft.<br />

Dem entspricht in gewisser Weise, was Paul Tillich mit dem Begriff „Kairos“ meint. 20<br />

Tillich geht von der bekannten griechischen Unterscheidung von Chronos und Kairos<br />

aus und stellt fest, daß <strong>im</strong> neutestamentlichen Gebrauch Kairos auf ein einzigartiges Ereignis<br />

in der <strong>Geschichte</strong> bezogen wird, nämlich auf das Erscheinen des Christus in der<br />

Fülle der Zeit. „Kairos <strong>im</strong> biblischen Sinn ist für Tillich ‚erfüllte Zeit‘, in der die Bedingungen<br />

für die Aufnahme des Christus gegeben sind“ 21 . Der Kairos trifft als Vertikale<br />

auf die Horizontale der <strong>Geschichte</strong> und ist zugleich kein von der <strong>Geschichte</strong> isoliertes<br />

Ereignis; denn der eine große Kairos wird durch viele kleine Kairoi vorbereitet<br />

und bedarf ihrer, um „von der ihm folgenden Entwicklung rezipiert“ werden zu kön-<br />

nen. 22 Es ist hier in unserem Zusammenhang nicht nötig und möglich, auf weitere Einzelheiten<br />

des Verständnisses des Kairos bei Tillich, insbesondere die geschichtlichen<br />

Erscheinungen des Kairos etwa <strong>im</strong> Sozialismus, einzugehen. Für unseren Zusammenhang<br />

ist allein wichtig, daß der Kairos bei Tillich eine Zeitform ist, die den Punkt der<br />

Vernetzung von göttlicher und menschlicher Zeit bezeichnet.<br />

18 Vgl. dazu Christian Strecker, Die Zeitenwende bei Paulus, in: Zeitenwende – Zeitenende. Beiträge<br />

zur Apokalyptik und Eschatologie, hg. v. W. Sommer (Theologische Akzente 2), Stuttgart 1997, 45–<br />

63, der aus kulturanthropologischer Sicht die Existenz des Christen als l<strong>im</strong>inale versteht, d.h. als eine<br />

Zeit des Übergangs zwischen zwei Welten, als eine Transformation der Äonen.<br />

19 Karl Barth, KD I,2, 50ff; vgl. auch Friedrich Beißer, Hoffnung und Vollendung, Gütersloh 1993<br />

(HST 15), 123ff; dort sind auch die weiteren vielfältigen Aspekte von Barths Zeitverständnis dargestellt,<br />

auf die ich hier nicht weiter eingehe. Vgl. dazu auch Kjetil Hafstad, Wort und <strong>Geschichte</strong>. Das<br />

Geschichtsverständnis Karl Barths, München 1985, 203ff und Dieter Clausert, Theologischer Zeitbegriff<br />

und politisches Zeitbewußtsein in K. Barths Dogmatik, München 1982.<br />

20 Vgl. Paul Tillich, Der Widerstreit von Raum und Zeit (Gesammelte Werke VI), Stuttgart 1963 2 , bes.<br />

9–28, 29–41, 137–139; sowie Paul Tillich, Systematische Theologie Bd. 3, Stuttgart 1984 4 , 419ff.<br />

Zur Interpretation vgl. Eberhard Rolinck, <strong>Geschichte</strong> und Reich Gottes. Philosophie und Theologie<br />

der <strong>Geschichte</strong> bei Paul Tillich, Paderborn 1979 sowie Beißer, Hoffnung 150ff.<br />

21 Rolinck, <strong>Geschichte</strong> 81.<br />

22 Tillich, GW VI, 138; vgl. auch ST 3, 419ff.<br />

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