Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau
Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau
Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
zunächst mit Achtner/Kunz/Walter festzuhalten, daß es be<strong>im</strong> Bedenken der transzendenten<br />
Zeit nur um das Betrachten von menschlicher Zeiterfahrung gehen kann, in<br />
der diese D<strong>im</strong>ension der Zeit zum Ausdruck kommt. Man kann dabei mystische, prophetische<br />
und epiphane Zeiterfahrung unterscheiden. Die mystische Zeiterfahrung meint<br />
dabei eine „spezifische Form der Erfahrung der Zeitlosigkeit als einer Form völligen<br />
zeitenthobenen Gegenwärtigseins, wie sie von den Mystikern aller Religionen beschrieben<br />
wird“ 13 . Die prophetische Zeiterfahrung ist eine Mischform von endogener,<br />
also auf den Selbstbezug des Menschen bezogener Zeit und transzendenter Zeit. Epiphane<br />
Zeit meint „das wirkliche, in der Bibel bezeugte Einbrechen göttlicher Zeitfülle<br />
und göttlicher Zeitmöglichkeiten in menschliche Erfahrung“ 14 . Abgesehen von der mystischen<br />
Zeiterfahrung, die als religiöses Phänomen einen stärker anthropologischen<br />
Charakter hat, sind die prophetische und die epiphane Zeit gekennzeichnet von einer<br />
Begegnung der göttlichen Zeit mit der menschlichen Zeit. In die menschliche Zeit bricht<br />
die göttliche Zeit herein in einer Gottesoffenbarung, die sich durchaus unterschiedlich<br />
vollziehen kann. 15 Immer jedoch war diese Offenbarung auf eine Deutung angewiesen.<br />
Die Erfahrung der göttlichen Zeit in der menschlichen Zeit ist <strong>im</strong>mer passiv konstituiert,<br />
sie widerfährt, wird empfangen.<br />
Für den christlichen Glauben verbindet sich mit dem Auftreten und Geschick Jesu von<br />
Nazareth eine besondere, einmalige Art und Weise der Verbindung von göttlicher und<br />
menschlicher Zeit. Die Rede von der Inkarnation Gottes in Jesus Christus bedeutet nicht<br />
nur eine Verbindung menschlicher und göttlicher Zeit, sondern in der <strong>Geschichte</strong> des<br />
Jesus von Nazareth wird die menschliche Zeit selbst neu qualifiziert, werden in der Zeit<br />
neue Möglichkeiten eröffnet. In Jesus Christus partizipiert Gott selbst gleichsam an der<br />
menschlichen Zeit und ihren Bedingungen. Er entäußert sich seiner göttlichen Zeit und<br />
unterwirft sich der Zeit der Welt. 16 Von Gott her wird damit in Jesus Christus die Diastase<br />
von göttlicher und menschlicher Zeit aufgehoben. Daß damit auch die Zeit der<br />
Welt mit ihren Möglichkeiten neu qualifiziert ist, wird deutlich an der Verkündigung<br />
Jesu von der Nähe des Gottesreiches und an seinem Geschick in Kreuz und Auferstehung.<br />
Die Verkündigung der Nähe des Gottesreiches zielt auf ein neues Verständnis<br />
der Existenz in dieser Welt hin. In der Zeit der anbrechenden Gottesherrschaft orientieren<br />
sich die Menschen nicht an der Vergangenheit, sondern an dem, was verheißen und<br />
schon angebrochen ist. Es zählt nicht mehr das Alte, das vergangen ist, sondern das<br />
Neue, das bereits geworden ist und herbeikommt. Die Signatur der Weltzeit verändert<br />
sich. Mit dem Anbruch des Gottesreiches ist die Zeit Gottes der Weltzeit synchron geworden.<br />
In dieser Hinsicht kann man die geschichtliche Zeit des Jesus von Nazareth als<br />
„Mitte der Zeit“ bezeichnen. 17 Zugleich wird die geschichtliche Zeit <strong>im</strong> Glauben verstanden<br />
als eine Zeit zwischen den Äonen. Geschichtliche Existenz wird zur Existenz<br />
13 Achtner, Kunz, Walter, D<strong>im</strong>ensionen 9.<br />
14 Achtner, Kunz, Walter, D<strong>im</strong>ensionen 11.<br />
15 Die alttestamentlichen Propheten haben diese Offenbarungen etwa in Auditionen, in Visionen und,<br />
seltener, in einer Epiphanie empfangen.<br />
16 Ich nehme damit den Gedanken von Phil 2,6ff auf und wende ihn auf die Zeit an. Zugleich stehen die<br />
Anregungen aus der Lehre von der Kenosis <strong>im</strong> Hintergrund.<br />
17 Vgl. Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, Tübingen 1964 5 . Auf<br />
die durch dieses Buch angeregte Diskussion einzugehen, würde hier zu weit führen.<br />
216