Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

Das naturwissenschaftliche, insbesondere physikalische Zeitverständnis hat sich im Zusammenhang mit der Entstehung unterschiedlicher grundlegender Theorien verändert. 3 So herrschte in der klassischen Physik, die vom Modell der Mechanik geprägt war, der Begriff der linearen Zeit vor. Die Thermodynamik zeigte für makroskopische Systeme, daß die Zeit eine irreversible Richtung hat, die man an der Entropievermehrung ablesen kann. Die spezielle Relativitätstheorie impliziert die Negation einer absoluten Universalzeit und ersetzt diese durch die Vorstellung von relativen Eigenzeiten von Objekten; zugleich wird die Zeit an die Grenze der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit gekoppelt, so daß ein unüberschreitbarer Horizont der Zeit vorgestellt werden muß. Die Allgemeine Relativitätstheorie verknüpft darüber hinaus die Zeit mit der Materie dergestalt, daß in der Nähe von Materie die Zeit subjektiv langsamer verstreicht. Schließlich führten Überlegungen zur Chaostheorie zu der Einsicht, daß sich selbst organisierende, dynamische Systeme eine Eigenzeit haben mit einer Plastizität und Elastizität hinsichtlich ihrer Stabilität. Störungen der Stabilität, die sich außerhalb der Zeitplastizität des Systems verorten lassen, führen zum Kollaps des Systems oder einer Veränderung der Eigenzeit. Störungen innerhalb der Zeitplastizität des Systems können durch Selbstregulierung behoben werden und zur erneuten Einstellung auf die Eigenzeit führen. Diese Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen (physikalischen und mathematischen) Forschung bedeuten für den Zeitbegriff eine Öffnung von einem linearen Verständnis der Zeit hin zu einem komplexen und strukturreicheren Verständnis. Auch in philosophischer Sicht wurde und wird das Zeitverständnis intensiv diskutiert. Allerdings läßt sich in dieser Diskussion weniger eine kontinuierliche Entwicklung feststellen als im naturwissenschaftlichen Zeitverständnis. Geprägt ist die neuere philosophische Beschäftigung mit der Zeit von der gemeinsamen Einsicht, daß das Thema der Zeit ein verschiedene Wissenschaftszweige verbindendes darstellt. Auf diesem Hintergrund wird die Zeit jedoch extrem unterschiedlich eingeschätzt. Auf der einen Seite wird aus der Verzeitlichung aller Lebensvollzüge eine neue holistische Zeitsensibilität herausgelesen und verkündet. Auf der anderen Seite wird der Umgang mit der Zeit, der als technologisch bestimmt verstanden wird, als Abgesang, Tod und Ende der Zeit verstanden. 4 In der neueren philosophischen Diskussion kann man darüber hinaus drei Grundtendenzen feststellen. 5 Die eine Tendenz der Vereinheitlichung sieht im Zeitaspekt den Punkt, an dem sich die Integration von alltäglicher Selbst- und Welterfahrung und wissenschaftlichen Theorien ebenso erkennen läßt wie die Verbindung naturwissenschaftlicher und philosophischer Zeittheorien. Die Grundtendenz der Pluralisierung sieht demgegenüber in der Frage der Zeit gerade den Punkt, an dem die Inkommensurabilität heterogener Zeitkonzepte deutlich wird. Dabei sind beide Grundtendenzen derart ausgerichtet, daß sie die Zeit in ontologischen Kategorien zu begreifen suchen. Die dritte Grundtendenz ist dagegen pragmatisch ausgerichtet und weist auf die Relativierung und Historisierung der Zeit hin. Sie beruht auf der Einsicht, daß die Zeit 3 Vgl. Wolfgang Achtner, Stefan Kunz, Thomas Walter, Dimensionen der Zeit, Darmstadt 1998, 115– 141, bes. 139f. 4 Vgl. Walther Chr. Zimmerli / Mike Sandbothe (Hg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 1993, 13f. 5 Mike Sandbothe, Die Verzeitlichung der Zeit in der modernen Philosophie, in: Gimmler/Sandbothe/ Zimmerli (Hg.), Wiederentdeckung, 41–62, hier 41ff. 212

eflexiv verstanden wird. Das heißt, daß die Zeit keine subjektunabhängige Realität besitzt, sondern konstitutiv auf das Subjekt von Zeiterfahrung und Zeitreflexion bezogen ist. 6 Auf dem Hintergrund dieses komplexen, reflexiven und auf Erfahrung bezogenen Zeitbegriffs ist ein theologisches Verständnis der Zeit zu entfalten. Aus theologischer Perspektive müssen dabei unterschiedliche Fragestellungen berücksichtigt werden. Dazu zählt die Frage nach dem Ursprung der Zeit, also das Verhältnis von Zeit und Gott als dem Schöpfer der Welt; dazu zählt weiter die Fragestellung, wie sich Zeit und Ewigkeit zueinander verhalten und ob Gott eine „Eigenzeit“ zugeschrieben werden kann. 7 Damit bewegen wir uns im Feld der Bedingungen der Möglichkeit von Zeit in theologischer Sicht. Dann ist zu thematisieren, wie theologisch die Zeit des Menschen, seine Geschichtszeit zu bestimmen ist und wie sich diese Zeit der Menschen zu der Zeit Gottes verhält. Schließlich soll erörtert werden, was ein theologisches Verständnis der Zeit für das Thema der Geschichte austrägt. 2.2 Theo-logische Signatur der Zeit In diesem Abschnitt soll die Zeit in theo-logischer Perspektive betrachtet werden, das heißt in ihrer Beziehung zu Gott. Diese Betrachtung gerät leicht in die Gefahr, spekulativ zu geraten, denn es kann natürlich niemand die Perspektive Gottes in einem authentischen Sinn einnehmen. Aussagen über Gott und die Zeit haben daher in einem erhöhten Maße hypothetischen Charakter. Dennoch ist es unerläßlich, zu dieser Frage Aussagen zu machen, setzt man, wie es der christliche Glaube tut, Gott als den Grund der Wirklichkeit voraus. Aussagen über Gott und die Zeit sind Aussagen, die über die Wirklichkeit als einer von Gott begründeten und bestimmten gemacht werden. Sie kommen zustande, indem auf Erfahrungen, die in Texten und Zeugnissen geronnen sind, Bezug genommen wird, die Menschen in der Zeit und mit der Zeit gemacht haben. 2.2.1 Zeit Gottes und Zeit der Welt – eine Verhältnisbestimmung Zunächst läßt sich feststellen, daß nach dem Zeugnis der biblischen Schriften Gott den Menschen und der Welt Zeit gibt. „Am Anfang“ schuf Gott Himmel und Erde, kreierte den Rhythmus von Tag und Nacht. In seinem Schöpfungshandeln legte Gott sowohl den Grund für die zyklische wie die lineare Zeiterfahrung der Menschen. Die Zyklizität der Zeit wird etwa im Noahbund von Gott erneuert. Die lineare Zeit wird in den Erzählungen von Abraham, dem Exodus und der Landnahme sowie der Geschichte des Volkes Israel erkennbar. 8 Gott gab die Zeit, von daher kann man zurückschließen, daß Gott selbst auch Zeit hat. Die Zeit Gottes als eine die Zeit der Schöpfung und der Men- 6 Mit dieser Einsicht werden Überlegungen etwa Kants, McTaggarts und Heideggers aufgenommen. Vgl. Sandbothe, Verzeitlichung, hier 45ff. 7 Vgl. zu diesen Fragen auch Christian Link, Schöpfung. Schöpfungstheologie angesichts der Herausforderungen des 20. Jahrhunderts (HST 7/2), Gütersloh 1991, 408ff und 446ff. 8 Vgl. Siegfried Herrmann, Zeit und Geschichte, Stuttgart 1977, 96ff. 213

Das naturwissenschaftliche, insbesondere physikalische Zeitverständnis hat sich <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit der Entstehung unterschiedlicher grundlegender Theorien verändert. 3<br />

So herrschte in der klassischen Physik, die vom Modell der Mechanik geprägt war, der<br />

Begriff der linearen Zeit vor. Die Thermodynamik zeigte für makroskopische Systeme,<br />

daß die Zeit eine irreversible Richtung hat, die man an der Entropievermehrung ablesen<br />

kann. Die spezielle Relativitätstheorie <strong>im</strong>pliziert die Negation einer absoluten Universalzeit<br />

und ersetzt diese durch die Vorstellung von relativen Eigenzeiten von Objekten;<br />

zugleich wird die Zeit an die Grenze der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit gekoppelt,<br />

so daß ein unüberschreitbarer Horizont der Zeit vorgestellt werden muß. Die<br />

Allgemeine Relativitätstheorie verknüpft darüber hinaus die Zeit mit der Materie dergestalt,<br />

daß in der Nähe von Materie die Zeit subjektiv langsamer verstreicht. Schließlich<br />

führten Überlegungen zur Chaostheorie zu der Einsicht, daß sich selbst organisierende,<br />

dynamische Systeme eine Eigenzeit haben mit einer Plastizität und Elastizität hinsichtlich<br />

ihrer Stabilität. Störungen der Stabilität, die sich außerhalb der Zeitplastizität des<br />

Systems verorten lassen, führen zum Kollaps des Systems oder einer Veränderung der<br />

Eigenzeit. Störungen innerhalb der Zeitplastizität des Systems können durch Selbstregulierung<br />

behoben werden und zur erneuten Einstellung auf die Eigenzeit führen. Diese<br />

Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen (physikalischen und mathematischen) Forschung<br />

bedeuten für den Zeitbegriff eine Öffnung von einem linearen Verständnis der<br />

Zeit hin zu einem komplexen und strukturreicheren Verständnis.<br />

Auch in philosophischer Sicht wurde und wird das Zeitverständnis intensiv diskutiert.<br />

Allerdings läßt sich in dieser Diskussion weniger eine kontinuierliche Entwicklung feststellen<br />

als <strong>im</strong> naturwissenschaftlichen Zeitverständnis. Geprägt ist die neuere philosophische<br />

Beschäftigung mit der Zeit von der gemeinsamen Einsicht, daß das Thema<br />

der Zeit ein verschiedene Wissenschaftszweige verbindendes darstellt. Auf diesem Hintergrund<br />

wird die Zeit jedoch extrem unterschiedlich eingeschätzt. Auf der einen Seite<br />

wird aus der Verzeitlichung aller Lebensvollzüge eine neue holistische Zeitsensibilität<br />

herausgelesen und verkündet. Auf der anderen Seite wird der Umgang mit der Zeit, der<br />

als technologisch best<strong>im</strong>mt verstanden wird, als Abgesang, Tod und Ende der Zeit verstanden.<br />

4 In der neueren philosophischen Diskussion kann man darüber hinaus drei<br />

Grundtendenzen feststellen. 5 Die eine Tendenz der Vereinheitlichung sieht <strong>im</strong> Zeitaspekt<br />

den Punkt, an dem sich die Integration von alltäglicher Selbst- und Welterfahrung<br />

und wissenschaftlichen Theorien ebenso erkennen läßt wie die Verbindung naturwissenschaftlicher<br />

und philosophischer Zeittheorien. Die Grundtendenz der Pluralisierung<br />

sieht demgegenüber in der Frage der Zeit gerade den Punkt, an dem die<br />

Inkommensurabilität heterogener Zeitkonzepte deutlich wird. Dabei sind beide Grundtendenzen<br />

derart ausgerichtet, daß sie die Zeit in ontologischen Kategorien zu begreifen<br />

suchen. Die dritte Grundtendenz ist dagegen pragmatisch ausgerichtet und weist auf die<br />

Relativierung und Historisierung der Zeit hin. Sie beruht auf der Einsicht, daß die Zeit<br />

3<br />

Vgl. Wolfgang Achtner, Stefan Kunz, Thomas Walter, D<strong>im</strong>ensionen der Zeit, Darmstadt 1998, 115–<br />

141, bes. 139f.<br />

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Vgl. Walther Chr. Z<strong>im</strong>merli / Mike Sandbothe (Hg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt<br />

1993, 13f.<br />

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Mike Sandbothe, Die Verzeitlichung der Zeit in der modernen Philosophie, in: G<strong>im</strong>mler/Sandbothe/<br />

Z<strong>im</strong>merli (Hg.), Wiederentdeckung, 41–62, hier 41ff.<br />

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