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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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Der Idealismus beansprucht, die Totalität dessen, was ist, aus einem Prinzip zu begreifen; er stellt sich das<br />

Problem, die spekulativ konzipierte <strong>Geschichte</strong> mit dem historischen Wissen zu vermitteln und beide aufeinander<br />

zu beziehen. Da auch <strong>Geschichte</strong> nur vermittels Vernunft zu haben ist, kann <strong>Geschichte</strong> auch die<br />

Begriffe „Vernunft“, „Geist“ und „Weltgeist“ ersetzen.<br />

Zum Beispiel reflektiert Hegel den Doppelsinn des Wortes <strong>Geschichte</strong> als historia rerum gestarum und<br />

als res gestae und unterscheidet diese Bedeutungen als „subjektive“ und „objektive“ Seite des Begriffs. 10<br />

Diese Doppeldeutigkeit ist kein Zufall, denn <strong>Geschichte</strong> thematisiert die über das Individuelle hinausgreifende<br />

Wirklichkeit. Hegel unterscheidet weiterhin drei Arten von <strong>Geschichte</strong>.<br />

In der „ursprünglichen“ <strong>Geschichte</strong> legt der Autor <strong>im</strong> wesentlichen das nieder, was er gesehen und erlebt<br />

hat; der Geist des Verfassers und der Geist der Handlungen ist ein und derselbe. Die „reflektierende“<br />

<strong>Geschichte</strong> setzt dagegen zeitlichen Abstand voraus; der Geist des Verfassers ist nicht der der Sache. Die<br />

„reflektierende“ <strong>Geschichte</strong> unterteilt sich a) in „allgemeine“ <strong>Geschichte</strong>, die große Zusammenhänge zusammenstellt<br />

und überschaubar macht; b) in „pragmatische“ <strong>Geschichte</strong>, die auf moralische Belehrung<br />

abzielt; c) in „kritische“ <strong>Geschichte</strong>, die als „<strong>Geschichte</strong> der <strong>Geschichte</strong>“ die Glaubwürdigkeit der Berichte<br />

untersucht, und d) in „Begriffs-<strong>Geschichte</strong>“, die zum Leitfaden ihrer Darstellung bereits „all-<br />

gemeine Gesichtspunkte“ (Kunst, Recht, Religion) n<strong>im</strong>mt und zur dritten Art der <strong>Geschichte</strong> überleitet,<br />

der „philosophischen“. 11 Diese thematisiert <strong>Geschichte</strong> als „Welt-<strong>Geschichte</strong>“ und verfolgt in ihr die<br />

logische Entwicklung der vernünftigen Substanz. Die <strong>Geschichte</strong> leistet die Verwirklichung der Freiheit.<br />

Dieser idealistischen Sicht der <strong>Geschichte</strong> wird jedoch bald mit Kritik begegnet. An prominenter Stelle<br />

sind dabei Karl Marx und Friedrich Engels zu nennen. Für sie ist die Wissenschaft der <strong>Geschichte</strong> die<br />

einzige Wissenschaft. 12 Jeder Geschichtskonzeption bisher fehlte es an der „irdischen Basis“. Ziel und<br />

Absicht ihrer Geschichtstheorie ist es, diese „Basis“ und die „wirkliche Grundlage“ der <strong>Geschichte</strong> aufzuweisen.<br />

Produktion und Reproduktion gelten als das in letzter Instanz best<strong>im</strong>mende Moment der <strong>Geschichte</strong>.<br />

Der Stand der Produktivkräfte hat jeweils seine Gesellschaftsform, die wiederum Entwicklungsstufen<br />

in der <strong>Geschichte</strong> der Menschheit bezeichnen, die „progressiven Epochen“ (als solche gelten die<br />

[asiatische,] antike, feudale und bürgerliche Gesellschaft). Revolutionen markieren den Fortschritt der<br />

Produktivkräfte; es sind soziale Revolutionen, da alle bisherigen Produktionsverhältnisse Klassengegensätze<br />

einschlossen. Deshalb gilt der zentrale Satz des kommunistischen Manifests: „Die <strong>Geschichte</strong> aller<br />

bisherigen Gesellschaft ist die <strong>Geschichte</strong> von Klassenkämpfen.“ Der auch geographisch universale Zusammenhang<br />

der Menschen und Gesellschaften, die „Weltgeschichte“ hingegen, resultiert aus dem sich<br />

ausbreitenden Prozeß der Arbeitsteilung, besonders der maschinellen Produktionsweise, des Warenaustausches<br />

und des Verkehrs. Der <strong>Geschichte</strong> als „einziger Wissenschaft“ steht die Naturwissenschaft nicht<br />

entgegen, da auch Natur <strong>Geschichte</strong> hat. Natur kann als <strong>Geschichte</strong>, <strong>Geschichte</strong> als Natur begriffen werden.<br />

Eine noch grundsätzlichere Kritik am historischen Denken äußert Friedrich Nietzsche. Er sieht <strong>im</strong><br />

„historischen Sinn“ eine Krankheit, ein typisches Zeichen des Verfalls. Der historische Forschungstrieb<br />

erstickt seine eigene Bedingung, das Leben selbst: Begehren, Instinkt und Tatkraft. Nietzsche konzipiert<br />

drei Formen der <strong>Geschichte</strong>, die dem „Lebendigen“ dienen können: a) Die „monumentalische Historie“<br />

zeigt mit ihren Beispielen dem „Tätigen und Strebenden“, daß das Große und Menschliche möglich ist; b)<br />

die „antiquarische Historie“ bewahrt das geschichtlich Gewordene und vergewissert den Einzelnen seines<br />

Horizontes, seines Volkes, seiner Tradition; c) die „kritische Historie“ befreit den „Leidenden“ von belastenden,<br />

ihn niederdrückenden Überlieferungen. 13 Nietzsche hat damit eine Wende vollzogen, die sich bei<br />

Feuerbach schon andeutete: „Gegenwart und Leben werden nicht mehr an der Tradition und ihren Maßstäben<br />

gemessen, sondern was überhaupt als substanzieller Inhalt der <strong>Geschichte</strong> zu gelten hat, best<strong>im</strong>mt<br />

sich aus dem gegenwärtigen, wirklichen Leben.“ 14 Damit ist die <strong>Geschichte</strong> verabschiedet zugunsten des<br />

10 Alle Zitate <strong>im</strong> Text nach Scholtz 364ff.<br />

11 Anders als Hegel könnte man die 3. Art der <strong>Geschichte</strong> so füllen, daß sie als Rückführung der 2. Art<br />

in die 1. Art verstanden wird; d.h. als Rückführung der Reflexion in die Geschichtlichkeit, so daß<br />

sich Reflexion selbst als geschichtlich versteht.<br />

12 Vgl. Scholtz 374ff.<br />

13 Die Nietzsche-Zitate nach Scholtz 377f.<br />

14 Scholtz 377f.<br />

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