Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

02.12.2012 Aufrufe

stellung bezeichnet, die sich von der ursprünglichen römischen Geschichtsschreibung nach Jahrbüchern unterscheidet und dadurch auch den Begriff „Geschichte“ erhält. 2 Im Mittelalter bewahrt Historie als Literaturgattung das Denkwürdige der Vergangenheit in der Erinnerung; in der Rhetorik wird Historie eng an den Begriff der narratio gerückt, der den wahrheitsgetreuen Bericht eines Tatbestandes bezeichnet, und im weiteren die Funktion zugeschrieben bekommt, das Geschehene zu sammeln 3 und den Späteren zur Unterweisung weiterzugeben. 4 Im 16. und 17. Jahrhundert weitet sich das Gegenstandsfeld aus, und zwar in räumlicher Hinsicht durch die „Entdeckung“ der asiatischen Geschichte und der neuen Erdteile, und in zeitlicher Hinsicht durch die fehlgeschlagenen Versuche, eine Weltzeit zu finden; diesem Problem entgeht man, indem man vor und nach Christi Geburt zählt. 5 Die Ausweitung des Gegenstandsbereiches von Geschichte stellt die Frage nach der Einheit der Geschichte neu. Sie wird beantwortet mit einem erneuten Universalitätsanspruch, der sich unter anderem in Missionierungsversuchen äußert, die oftmals totalitäre und terroristische Züge trugen. 6 Die Ausweitung des Gegenstandsbereiches der Geschichte führt auch zu neuen, umfassenden Differenzierungen. Dennoch bleibt Geschichte eine Hilfswissenschaft. Heils- und Profangeschichte werden getrennt. Im Blick auf die Etymologie läßt sich feststellen, daß der Wortinhalt von Geschichte zunächst „das momentane, zufällige Ereignis, den Anfang irgendeines Geschehens“ 7 bezeichnet und erst allmählich auch einen größeren Ereigniszusammenhang. Die Begriffe Geschichte und Historie nähern ihre Bedeutungen einander an. Der Verlust der evidenten Wahrheit von Geschichtsberichten durch die nicht mehr voraussetzbare und einklagbare Übereinstimmung mit dem christlichen Glauben nötigt im Blick auf die Wahrheitsfrage zu neuen wissenschaftstheoretischen und methodischen Überlegungen. Gott als Garant der Einheit der Geschichte wird zunehmend fraglich und zugleich taucht die Frage nach dem auf, was die zunehmend aufscheinende Vielfalt der Geschichte gewähren kann. Es beginnt eine erneute Beschränkung des Begriffs Geschichte auf einzelne Begebenheiten und Tatsachen. Damit wird „Historie“ der gängige Begriff für das Ganze des Erfahrungswissens. 8 Gegenstand der Geschichte ist die von Menschen gemachte und erlittene Erfahrung. „An die Stelle der theologisch bestimmten Universalg(eschichte) tritt die G(eschichte) der Menschheit als Zivilisationsprozeß und universale Kulturentwicklung.“ 9 Damit scheidet Gott als Referenzsubjekt, tendenziell auch als Handlungssubjekt, von Geschichte aus und die Menschheit wird zum exklusiven Referenzsubjekt von Geschichte. 2 Vgl. F.P. Hager, Art. Geschichte, Historie I, in: HWP 3, 344f. 3 Dabei kann es schlicht um das öffentliche Gerücht (fama) gehen, oder das Gerücht soll von der gesicherten Nachricht unterschieden werden; weitere Kriterien sind kontinuierlicher Zusammenhang, Wichtigkeit und Würdigkeit des Stoffes und der Personen, die Fähigkeit, Vorbilder und Beispiele für christliches Leben abzugeben oder die Eitelkeit der Welt aufzuweisen. 4 Vgl. G. Scholtz, Art. Geschichte, Historie II–VI, in: HWP 3, 345–398, hier 348f. 5 Vgl. Hans Maier, Die christliche Zeitrechnung, Freiburg 1991. 6 Als Beispiel sei nur die Conquista Lateinamerikas genannt. 7 H. Rupp und O. Köhler: H.G. Saeculum 2 (1951), 629; zit. nach Scholtz 352. 8 Vgl. Scholtz 354. Dazu F. Kambartel, Erfahrung und Struktur, 1968, 50–86. 9 Scholtz 357. 20

Der Idealismus beansprucht, die Totalität dessen, was ist, aus einem Prinzip zu begreifen; er stellt sich das Problem, die spekulativ konzipierte Geschichte mit dem historischen Wissen zu vermitteln und beide aufeinander zu beziehen. Da auch Geschichte nur vermittels Vernunft zu haben ist, kann Geschichte auch die Begriffe „Vernunft“, „Geist“ und „Weltgeist“ ersetzen. Zum Beispiel reflektiert Hegel den Doppelsinn des Wortes Geschichte als historia rerum gestarum und als res gestae und unterscheidet diese Bedeutungen als „subjektive“ und „objektive“ Seite des Begriffs. 10 Diese Doppeldeutigkeit ist kein Zufall, denn Geschichte thematisiert die über das Individuelle hinausgreifende Wirklichkeit. Hegel unterscheidet weiterhin drei Arten von Geschichte. In der „ursprünglichen“ Geschichte legt der Autor im wesentlichen das nieder, was er gesehen und erlebt hat; der Geist des Verfassers und der Geist der Handlungen ist ein und derselbe. Die „reflektierende“ Geschichte setzt dagegen zeitlichen Abstand voraus; der Geist des Verfassers ist nicht der der Sache. Die „reflektierende“ Geschichte unterteilt sich a) in „allgemeine“ Geschichte, die große Zusammenhänge zusammenstellt und überschaubar macht; b) in „pragmatische“ Geschichte, die auf moralische Belehrung abzielt; c) in „kritische“ Geschichte, die als „Geschichte der Geschichte“ die Glaubwürdigkeit der Berichte untersucht, und d) in „Begriffs-Geschichte“, die zum Leitfaden ihrer Darstellung bereits „all- gemeine Gesichtspunkte“ (Kunst, Recht, Religion) nimmt und zur dritten Art der Geschichte überleitet, der „philosophischen“. 11 Diese thematisiert Geschichte als „Welt-Geschichte“ und verfolgt in ihr die logische Entwicklung der vernünftigen Substanz. Die Geschichte leistet die Verwirklichung der Freiheit. Dieser idealistischen Sicht der Geschichte wird jedoch bald mit Kritik begegnet. An prominenter Stelle sind dabei Karl Marx und Friedrich Engels zu nennen. Für sie ist die Wissenschaft der Geschichte die einzige Wissenschaft. 12 Jeder Geschichtskonzeption bisher fehlte es an der „irdischen Basis“. Ziel und Absicht ihrer Geschichtstheorie ist es, diese „Basis“ und die „wirkliche Grundlage“ der Geschichte aufzuweisen. Produktion und Reproduktion gelten als das in letzter Instanz bestimmende Moment der Geschichte. Der Stand der Produktivkräfte hat jeweils seine Gesellschaftsform, die wiederum Entwicklungsstufen in der Geschichte der Menschheit bezeichnen, die „progressiven Epochen“ (als solche gelten die [asiatische,] antike, feudale und bürgerliche Gesellschaft). Revolutionen markieren den Fortschritt der Produktivkräfte; es sind soziale Revolutionen, da alle bisherigen Produktionsverhältnisse Klassengegensätze einschlossen. Deshalb gilt der zentrale Satz des kommunistischen Manifests: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ Der auch geographisch universale Zusammenhang der Menschen und Gesellschaften, die „Weltgeschichte“ hingegen, resultiert aus dem sich ausbreitenden Prozeß der Arbeitsteilung, besonders der maschinellen Produktionsweise, des Warenaustausches und des Verkehrs. Der Geschichte als „einziger Wissenschaft“ steht die Naturwissenschaft nicht entgegen, da auch Natur Geschichte hat. Natur kann als Geschichte, Geschichte als Natur begriffen werden. Eine noch grundsätzlichere Kritik am historischen Denken äußert Friedrich Nietzsche. Er sieht im „historischen Sinn“ eine Krankheit, ein typisches Zeichen des Verfalls. Der historische Forschungstrieb erstickt seine eigene Bedingung, das Leben selbst: Begehren, Instinkt und Tatkraft. Nietzsche konzipiert drei Formen der Geschichte, die dem „Lebendigen“ dienen können: a) Die „monumentalische Historie“ zeigt mit ihren Beispielen dem „Tätigen und Strebenden“, daß das Große und Menschliche möglich ist; b) die „antiquarische Historie“ bewahrt das geschichtlich Gewordene und vergewissert den Einzelnen seines Horizontes, seines Volkes, seiner Tradition; c) die „kritische Historie“ befreit den „Leidenden“ von belastenden, ihn niederdrückenden Überlieferungen. 13 Nietzsche hat damit eine Wende vollzogen, die sich bei Feuerbach schon andeutete: „Gegenwart und Leben werden nicht mehr an der Tradition und ihren Maßstäben gemessen, sondern was überhaupt als substanzieller Inhalt der Geschichte zu gelten hat, bestimmt sich aus dem gegenwärtigen, wirklichen Leben.“ 14 Damit ist die Geschichte verabschiedet zugunsten des 10 Alle Zitate im Text nach Scholtz 364ff. 11 Anders als Hegel könnte man die 3. Art der Geschichte so füllen, daß sie als Rückführung der 2. Art in die 1. Art verstanden wird; d.h. als Rückführung der Reflexion in die Geschichtlichkeit, so daß sich Reflexion selbst als geschichtlich versteht. 12 Vgl. Scholtz 374ff. 13 Die Nietzsche-Zitate nach Scholtz 377f. 14 Scholtz 377f. 21

stellung bezeichnet, die sich von der ursprünglichen römischen Geschichtsschreibung nach Jahrbüchern<br />

unterscheidet und dadurch auch den Begriff „<strong>Geschichte</strong>“ erhält. 2<br />

Im Mittelalter bewahrt Historie als Literaturgattung das Denkwürdige der Vergangenheit in der Erinnerung;<br />

in der Rhetorik wird Historie eng an den Begriff der narratio gerückt, der den wahrheitsgetreuen<br />

Bericht eines Tatbestandes bezeichnet, und <strong>im</strong> weiteren die Funktion zugeschrieben bekommt, das Geschehene<br />

zu sammeln 3 und den Späteren zur Unterweisung weiterzugeben. 4<br />

Im 16. und 17. Jahrhundert weitet sich das Gegenstandsfeld aus, und zwar in räumlicher Hinsicht durch<br />

die „Entdeckung“ der asiatischen <strong>Geschichte</strong> und der neuen Erdteile, und in zeitlicher Hinsicht durch die<br />

fehlgeschlagenen Versuche, eine Weltzeit zu finden; diesem Problem entgeht man, indem man vor und<br />

nach Christi Geburt zählt. 5<br />

Die Ausweitung des Gegenstandsbereiches von <strong>Geschichte</strong> stellt die Frage nach der<br />

Einheit der <strong>Geschichte</strong> neu. Sie wird beantwortet mit einem erneuten Universalitätsanspruch,<br />

der sich unter anderem in Missionierungsversuchen äußert, die oftmals totalitäre<br />

und terroristische Züge trugen. 6 Die Ausweitung des Gegenstandsbereiches der <strong>Geschichte</strong><br />

führt auch zu neuen, umfassenden Differenzierungen. Dennoch bleibt <strong>Geschichte</strong><br />

eine Hilfswissenschaft. Heils- und Profangeschichte werden getrennt.<br />

Im Blick auf die Etymologie läßt sich feststellen, daß der Wortinhalt von <strong>Geschichte</strong><br />

zunächst „das momentane, zufällige Ereignis, den Anfang irgendeines Geschehens“ 7<br />

bezeichnet und erst allmählich auch einen größeren Ereigniszusammenhang. Die Begriffe<br />

<strong>Geschichte</strong> und Historie nähern ihre Bedeutungen einander an.<br />

Der Verlust der evidenten Wahrheit von Geschichtsberichten durch die nicht mehr voraussetzbare<br />

und einklagbare Übereinst<strong>im</strong>mung mit dem christlichen Glauben nötigt <strong>im</strong><br />

Blick auf die Wahrheitsfrage zu neuen wissenschaftstheoretischen und methodischen<br />

Überlegungen. Gott als Garant der Einheit der <strong>Geschichte</strong> wird zunehmend fraglich und<br />

zugleich taucht die Frage nach dem auf, was die zunehmend aufscheinende Vielfalt der<br />

<strong>Geschichte</strong> gewähren kann. Es beginnt eine erneute Beschränkung des Begriffs <strong>Geschichte</strong><br />

auf einzelne Begebenheiten und Tatsachen. Damit wird „Historie“ der gängige<br />

Begriff für das Ganze des Erfahrungswissens. 8<br />

Gegenstand der <strong>Geschichte</strong> ist die von Menschen gemachte und erlittene Erfahrung.<br />

„An die Stelle der theologisch best<strong>im</strong>mten Universalg(eschichte) tritt die G(eschichte)<br />

der Menschheit als Zivilisationsprozeß und universale Kulturentwicklung.“ 9 Damit<br />

scheidet Gott als Referenzsubjekt, tendenziell auch als Handlungssubjekt, von <strong>Geschichte</strong><br />

aus und die Menschheit wird zum exklusiven Referenzsubjekt von <strong>Geschichte</strong>.<br />

2 Vgl. F.P. Hager, Art. <strong>Geschichte</strong>, Historie I, in: HWP 3, 344f.<br />

3 Dabei kann es schlicht um das öffentliche Gerücht (fama) gehen, oder das Gerücht soll von der gesicherten<br />

Nachricht unterschieden werden; weitere Kriterien sind kontinuierlicher Zusammenhang,<br />

Wichtigkeit und Würdigkeit des Stoffes und der Personen, die Fähigkeit, Vorbilder und Beispiele für<br />

christliches Leben abzugeben oder die Eitelkeit der Welt aufzuweisen.<br />

4 Vgl. G. Scholtz, Art. <strong>Geschichte</strong>, Historie II–VI, in: HWP 3, 345–398, hier 348f.<br />

5 Vgl. Hans Maier, Die christliche Zeitrechnung, Freiburg 1991.<br />

6 Als Beispiel sei nur die Conquista Lateinamerikas genannt.<br />

7 H. Rupp und O. Köhler: H.G. Saeculum 2 (1951), 629; zit. nach Scholtz 352.<br />

8 Vgl. Scholtz 354. Dazu F. Kambartel, Erfahrung und Struktur, 1968, 50–86.<br />

9 Scholtz 357.<br />

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