Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

nistische Theologie gegenwärtige brisante Gesprächsfäden auf und verbindet sie mit den jeweiligen Fragestellungen seiner „Beiträge zur Systematischen Theologie“. Darin zeigt sich, daß Moltmanns theologisches Arbeiten auf die jeweils veränderten intellektuellen, kulturellen und politischen Gegebenheiten reagiert und er nicht von einem Gesamtprogramm ausgeht, das je weiter zu entfalten wäre, wie es etwa bei Pannenberg der Fall ist. Nicht nur im Blick auf einzelne Fragestellungen, sondern hinsichtlich seiner gesamten Arbeit zeigt Moltmann so eine große Sensibilität für das, was an der Zeit ist. 151 3.7.2 Zum Zeitverständnis Jürgen Moltmann gelingt es in der Entwicklung seines Verständnisses von Zeit, viele Dimensionen und Aspekte zu integrieren. Seine Differenzierungen der irdischen, geschichtlichen Zeit erhellen die lebensweltlichen und psychologischen Erfahrungen von Zeit und nehmen Einsichten aus unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Disziplinen und philosophischen Ansätzen auf. Seine Verhältnisbeschreibung von Zeit und Ewigkeit spannt einen Bogen von der Schöpfung zur Vollendung bzw. Erlösung, die die Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung als einen kontinuierlichen Prozeß begreifen läßt, dessen Kontinuität durch den Heilswillen und die Treue Gottes konstituiert wird. Moltmann entwickelt dabei ein symmetrisches Bild der Geschichte im ganzen. Dem ursprünglichen Augenblick korrespondiert der eschatologische Augenblick. Über die Topoi Kairos und Augenblick wird die ursprüngliche und eschatische Ewigkeit mit der Zeit denkerisch vermittelbar. Während vor Beginn und am Ende der Zeit ein zyklisches Zeitverständnis, der Zeitkreis behauptet wird, ist die irdische, geschichtliche Zeit vom Zeitpfeil, einem linearen Zeitverständnis beherrscht. Tendenziell scheint es dabei so, als ob die zyklische Zeit, die Ewigkeit eine Prävalenz vor der irdischen, geschichtlichen und linearen Zeit hat. Die Fülle der Zeit bzw. des Lebens ist der aionischen Zeit vor der Schöpfung und der neuen Schöpfung am Ende der Zeit zu eigen, während sie in der irdischen Zeit nur fragmentarisch, in Zeiten des Kairos aufscheinen kann. Insofern erscheint die irdische Zeit gegenüber der ursprünglichen und eschatologischen Zeit etwas abgewertet zu werden – trotz aller Bemühungen Moltmanns, die Zeit der Geschichte als Zeit der Gestaltung, als Zeit der Möglichkeit mit ihrer ontologischen Prävalenz gegenüber der Wirklichkeit zu verstehen. Die Zeit der Geschichte ist eine relative Zeit, besonders in der Erfahrung des denkenden Subjekts. Die Gleichzeitigkeit von Erinnerung und Erwartung indiziert eine relative Ewigkeit in der geschichtlichen Zeit, die Ewigkeit als andere Seite der Gegenwart indiziert eine relative Gleichzeitigkeit. Ewigkeit im Vollsinn des Wortes kommt jedoch allein Gott zu. Die irdische, geschichtliche Zeit in ihren Differenzierungen und Vernetzungen ist eingespannt zwischen die Pole der ursprünglichen und eschatischen Ewigkeit. Dadurch entsteht der Eindruck, daß bei aller Betonung der Zyklizität letztlich doch ein lineares Modell der Zeit vorherrscht. Die irdische, differenzierte Zeit erscheint als ein Durchgangsstadium von Ewigkeit zu Ewigkeit. Man kann dies dann auch als eine Abwertung der geschichtlichen Zeit verstehen, die durch ihren Mangel an der Fülle der Ewigkeit gekennzeichnet ist. Es kommt 151 Vgl. dazu jetzt auch Jürgen Moltmann, Erfahrungen theologischen Denkens. Wege und Formen christlicher Theologie, Gütersloh 1999, bes. 11–18. 196

„zum Verlust des Eigengewichts der Geschichte und zu ihrer Reduktion auf die bloße Vorgeschichte einer verheißenen Zukunft, von der ihr bleibender Wert vollständig abhängt“ 152 . Dieser Tendenz bei Moltmann steht aber zur Seite, daß er im Verlauf seines theologischen Nachdenkens die Gewichte von der Zukunft auf die Gegenwart verlagert. Seine Überlegungen etwa zum erfüllten Augenblick machen die Aspekte einer präsentischen Eschatologie stärker, als dies in der „Theologie der Hoffnung“ zu erkennen ist. Die kontinuierliche Arbeit Moltmanns am Zeitverständnis versucht eine Integration futurischer und präsentischer Eschatologie ebenso, wie eine Verbindung von Ewigkeit und Zeitlichkeit. 3.7.3 Die Möglichkeiten der Geschichte Im Blick auf den Ablauf der Geschichte und deren Möglichkeiten nach Moltmanns Vorstellung entsteht ein widersprüchlicher Eindruck. Dieser beruht auf drei unterschiedlichen Aspekten, die von Moltmann relativ unvermittelt nebeneinander immer wieder betont werden. Der erste Aspekt ist der des Neuen. Moltmann sieht Geschichte als Raum und Reservoir von Möglichkeiten. Gestaltung und Veränderung von Geschichte und Wirklichkeit sind dem Menschen durch den Schöpfungsauftrag angetragen und dem Christen durch die Sendung aufgetragen. Weiter gibt es für Moltmann einen ontologischen Vorrang der Möglichkeit vor der Wirklichkeit. 153 Daneben taucht bei Moltmann aber auch die Vorstellung des göttlich Möglichen auf, das aus der Zukunft der Geschichte in diese hineinragt und der Geschichte selbst erst Zukunft eröffnet, sie zugleich aber auch bestimmt. Es wird nicht ganz klar, wie sich dieses göttlich Mögliche und die Möglichkeiten der Geschichte zueinander verhalten. Das göttlich Mögliche ist gebunden an die göttlichen Verheißungen. Die Möglichkeiten der Geschichte sind theologisch als im von den Verheißungen eröffneten Raum der Geschichte vorzustellen. Ist also das geschichtlich Mögliche eine Folge des göttlich Möglichen, und dieses proleptisch in Christus wirklich geworden, so ist geschichtlich nicht alles möglich. Das Neue der Geschichte kann nur sein, was dem göttlich Möglichen entspricht. Der zweite Aspekt betrifft die Frage nach dem Leiden in der Geschichte. Moltmann nimmt in seinen Überlegungen die Schattenseiten der Geschichte, ihre Katastrophen und das Leiden in und an ihr auf. Er verbindet dies in seiner Kreuzestheologie mit dem Leiden Christi und der Vorstellung des trinitarischen Leidens Gottes am Kreuz. 154 Aus dem Kreuzesgeschehen, aus der Geschichte des Kreuzes heraus, ist zu entwickeln, was unter „Gott“ zu verstehen ist. Dieser am Kreuz orientierten Bestimmung Gottes und der Geschichte steht die Bestimmung der Zukunft der Geschichte und der Zukunft Christi an der Seite, die am Ereignis der Auferweckung orientiert ist. Was in der Geschichte von Kreuz und Auferstehung als historisch lineare Folge erzählt wird, wird bei Moltmann auf den Gang der Geschichte der Welt und der Geschichte Gottes selbst übertragen. 152 Brauer, Theologie im Horizont der Geschichte 309. 153 Zur Aufnahme und Problematik der Blochschen Kategorie des Möglichen vgl. G. Sauter, Angewandte Eschatologie, in: W.-D. Marsch, Diskussion, 106–121, hier 115ff. 154 Vgl. Der gekreuzigte Gott 231ff. 197

nistische Theologie gegenwärtige brisante Gesprächsfäden auf und verbindet sie mit den<br />

jeweiligen Fragestellungen seiner „Beiträge zur Systematischen Theologie“. Darin zeigt<br />

sich, daß Moltmanns theologisches Arbeiten auf die jeweils veränderten intellektuellen,<br />

kulturellen und politischen Gegebenheiten reagiert und er nicht von einem Gesamtprogramm<br />

ausgeht, das je weiter zu entfalten wäre, wie es etwa bei Pannenberg der Fall ist.<br />

Nicht nur <strong>im</strong> Blick auf einzelne Fragestellungen, sondern hinsichtlich seiner gesamten<br />

Arbeit zeigt Moltmann so eine große Sensibilität für das, was an der Zeit ist. 151<br />

3.7.2 Zum Zeitverständnis<br />

Jürgen Moltmann gelingt es in der Entwicklung seines Verständnisses von Zeit, viele<br />

D<strong>im</strong>ensionen und Aspekte zu integrieren. Seine Differenzierungen der irdischen, geschichtlichen<br />

Zeit erhellen die lebensweltlichen und psychologischen Erfahrungen von<br />

Zeit und nehmen Einsichten aus unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Disziplinen<br />

und philosophischen Ansätzen auf. Seine Verhältnisbeschreibung von Zeit und Ewigkeit<br />

spannt einen Bogen von der Schöpfung zur Vollendung bzw. Erlösung, die die <strong>Geschichte</strong><br />

Gottes mit seiner Schöpfung als einen kontinuierlichen Prozeß begreifen läßt,<br />

dessen Kontinuität durch den Heilswillen und die Treue Gottes konstituiert wird. Moltmann<br />

entwickelt dabei ein symmetrisches Bild der <strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong> ganzen. Dem ursprünglichen<br />

Augenblick korrespondiert der eschatologische Augenblick. Über die Topoi<br />

Kairos und Augenblick wird die ursprüngliche und eschatische Ewigkeit mit der<br />

Zeit denkerisch vermittelbar. Während vor Beginn und am Ende der Zeit ein zyklisches<br />

Zeitverständnis, der Zeitkreis behauptet wird, ist die irdische, geschichtliche Zeit vom<br />

Zeitpfeil, einem linearen Zeitverständnis beherrscht. Tendenziell scheint es dabei so, als<br />

ob die zyklische Zeit, die Ewigkeit eine Prävalenz vor der irdischen, geschichtlichen<br />

und linearen Zeit hat. Die Fülle der Zeit bzw. des Lebens ist der aionischen Zeit vor der<br />

Schöpfung und der neuen Schöpfung am Ende der Zeit zu eigen, während sie in der irdischen<br />

Zeit nur fragmentarisch, in Zeiten des Kairos aufscheinen kann. Insofern erscheint<br />

die irdische Zeit gegenüber der ursprünglichen und eschatologischen Zeit etwas<br />

abgewertet zu werden – trotz aller Bemühungen Moltmanns, die Zeit der <strong>Geschichte</strong> als<br />

Zeit der Gestaltung, als Zeit der Möglichkeit mit ihrer ontologischen Prävalenz gegenüber<br />

der Wirklichkeit zu verstehen. Die Zeit der <strong>Geschichte</strong> ist eine relative Zeit, besonders<br />

in der Erfahrung des denkenden Subjekts. Die Gleichzeitigkeit von Erinnerung und<br />

Erwartung indiziert eine relative Ewigkeit in der geschichtlichen Zeit, die Ewigkeit als<br />

andere Seite der Gegenwart indiziert eine relative Gleichzeitigkeit.<br />

Ewigkeit <strong>im</strong> Vollsinn des Wortes kommt jedoch allein Gott zu. Die irdische, geschichtliche<br />

Zeit in ihren Differenzierungen und Vernetzungen ist eingespannt zwischen die<br />

Pole der ursprünglichen und eschatischen Ewigkeit. Dadurch entsteht der Eindruck, daß<br />

bei aller Betonung der Zyklizität letztlich doch ein lineares Modell der Zeit vorherrscht.<br />

Die irdische, differenzierte Zeit erscheint als ein Durchgangsstadium von Ewigkeit zu<br />

Ewigkeit. Man kann dies dann auch als eine Abwertung der geschichtlichen Zeit verstehen,<br />

die durch ihren Mangel an der Fülle der Ewigkeit gekennzeichnet ist. Es kommt<br />

151 Vgl. dazu jetzt auch Jürgen Moltmann, Erfahrungen theologischen Denkens. Wege und Formen<br />

christlicher Theologie, Gütersloh 1999, bes. 11–18.<br />

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