Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau
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kunftshorizont, der offen für Neues und Unbekanntes ist. 120 Dem entspricht, daß Moltmann<br />
den „Identitätspunkt“ Christi „extra se“ „in der Treue des Verheißungsgottes hat“,<br />
und daß dieses „extra se“ „auch für die <strong>Geschichte</strong> und das Geschichtssubjekt“ gilt. 121<br />
Die andere Linie macht den Menschen als Handlungssubjekt der <strong>Geschichte</strong> stark. Der<br />
Mensch, der in und aus der Hoffnung lebt, kann antizipierend die Zukunft gestalten. 122<br />
In der Kraft des Geistes und der Zuversicht der Hoffnung können Menschen für die<br />
Rechtsordnung und die Gesellschaftsordnung Verantwortung übernehmen. Es geht um<br />
die „aktive Partizipation an den ökonomischen, sozialen und politischen Einrichtungen“<br />
123 . Diese Partizipation und Veränderung der Welt muß allerdings „die Vision von<br />
der anderen Welt bei sich behalten“, um nicht <strong>im</strong> Vorletzten aufzugehen und darin den<br />
Grund der Hoffnung zu verraten. Wenn Verheißung eine grundlegende Kategorie von<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong> theologischen Verständnis ist, so ist Geschichtsbewußtsein Sendungsbewußtsein,<br />
„und das Wissen um <strong>Geschichte</strong> ist Veränderungswissen“ 124 . Der Begriff<br />
der Sendung verbindet dabei die Geschichtlichkeit des Subjekts und den universalgeschichtlichen<br />
Prozeß. Für Moltmann ist ein christlicher Geschichtsbegriff <strong>im</strong> Grunde<br />
nichts anderes „als ein Begriff der Sendung und der Herrschaft Christi angesichts des<br />
wirklichen Elends des Menschen und seiner Verhältnisse auf Erden“ 125 . Der Auftrag der<br />
Christen ist darum in der Nachfolge Christi der Einsatz für eine menschengerechte Welt,<br />
der in Solidarität mit der unerlösten Schöpfung getätigt wird. Damit ist <strong>Geschichte</strong> für<br />
ihr Subjekt ein Raum von Möglichkeiten der Gestaltung. Aus dieser Einsicht in die Gestaltungsmöglichkeiten<br />
und den Gestaltungsauftrag des Christen ergibt sich für Moltmann<br />
das Programm einer „Politischen Theologie“. 126<br />
Es läßt sich also feststellen, daß Moltmann einerseits der neuzeitlichen Zentrierung auf<br />
das Subjekt als Konstituens der <strong>Geschichte</strong> widerspricht, und damit eine subjektivitätskritische<br />
Tendenz an den Tag legt. Andererseits betont er die Fähigkeit des Menschen<br />
120 Vgl. Theologie der Hoffnung 173.<br />
121 Brauer, Theologie <strong>im</strong> Horizont der <strong>Geschichte</strong> 282. Vgl. auch Moltmann, Gott in der Schöpfung 226;<br />
dort weist Moltmann darauf hin, daß das Wesen des Menschen <strong>im</strong> Menschenverhältnis Gottes besteht<br />
und nicht in dieser oder jener Eigenschaft, die ihn von anderen Lebewesen unterscheidet. Ähnlich in<br />
Perspektiven der Theologie 153: „Nach biblischer Auffassung wird der Mensch in und durch die <strong>Geschichte</strong><br />
identifiziert und best<strong>im</strong>mt, in die er durch Gottes Bund und Verheißung verwickelt wird.<br />
Sein ‚Wesen‘, und d.h. seine Identität und Kontinuität, ist best<strong>im</strong>mt durch den Anruf Gottes, durch<br />
seine Berufung zum Bundespartner, durch das Geschehnis der Rechtfertigung.“<br />
122 „Die Christen sind die Menschen, die zu einer lebendigen Hoffnung wiedergeboren sind. Sie sind zur<br />
Zukunft Gottes bekehrte Menschen“ (Umkehr zur Zukunft 64). „‚Antizipieren‘, d.h. nicht länger<br />
warten und die Veränderungen nicht länger aufschieben, sondern jetzt schon tun, was morgen sein<br />
wird; heute schon die Möglichkeiten der messianischen Zeit realisieren; mitten <strong>im</strong> Kampf den kommenden<br />
Frieden praktizieren und die Zäune der Rassen und Klassen einreißen. ‚Antizipieren‘, d.h.<br />
heute schon mit der verheißenen und erhofften Zukunft anfangen und den Bann der Apathie und Resignation<br />
brechen“ (a.a.O. 66).<br />
123 Umkehr zur Zukunft 69.<br />
124 Theologie der Hoffnung 79.<br />
125 Jürgen Moltmann, Antwort auf die Kritik der Theologie der Hoffnung, in: Marsch (Hg.), Diskussion,<br />
201–238, hier 230.<br />
126 Vgl. u.a. Jürgen Moltmann, Politische Theologie – Politische Ethik, München/Mainz 1984.<br />
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