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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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mann nennt diese alle erinnerten, erfahrenen und noch zu erfahrenden Gegenwarten<br />

transzendierende Zukunft „eschatologische Zukunft“, die „nicht als zukünftige <strong>Geschichte</strong>,<br />

sondern als die Zukunft der <strong>Geschichte</strong> aufzufassen“ ist. 42<br />

Moltmann weist darauf hin, daß es in der Physik zwei grundsätzlich differente Verständnisse<br />

der Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt. Zum einen ist dies<br />

die Zeitvorstellung der klassischen Physik, die Bewegungsabläufe als reversible und<br />

symmetrische betrachtet. Es ist die Verlaufsform zyklischer Vorgänge. „Reversible Zeit<br />

ist eine Art zeitlose Zeit, denn diese Zeitform ist selbst zeitlos wie die absolute Zeit<br />

Newtons.“ 43 Demgegenüber hat der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik den Begriff<br />

der irreversiblen Zeit eingeführt. Energieflüsse sind gerichtet und in der Zeit irreversibel.<br />

Entropie ist daher auch ein Maß für die Nichtumkehrbarkeit von Vorgängen. Moltmann<br />

diskutiert nun die mit diesen gegensätzlichen Auffassungen entstehenden Fragen<br />

nicht weiter, sondern weist darauf hin, daß in der Erfahrung geschichtlicher Zeit „die<br />

Zeitmodi nicht auf Zeitlinien eingetragen, sondern den Seinsmodalitäten zugeordnet“<br />

werden. „Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft entsprechen dem notwendigen – dem<br />

wirklichen – dem möglichen Sein.“ 44 Erfahrung als Erkenntnisbedingung geschichtlicher<br />

Zeit ermöglicht also den Überschritt von einem abstrakten physikalischen Zeitverständnis<br />

zu einem ontologischen. Zugleich wird mit der Kategorie der Erfahrung<br />

notwendig das Modell der irreversiblen Zeit, des Zeitpfeils also, gesetzt. „Aus Möglichkeit<br />

wird Wirklichkeit, wie aus Zukunft Vergangenheit wird. Die Zeitmodi sind nicht<br />

isomorph. Alles zeitliche Geschehen ist unumkehrbar, unwiederholbar und unaufhaltsam.<br />

Die Zeitmodi sind asymmetrisch und verschiedenartigen Seinsqualitäten zugeordnet.<br />

Möglichkeit und Wirklichkeit sind unterscheidbare Seinsweisen und unser Umgang<br />

mit ihnen ist verschieden. Entsprechend gehen wir mit Vergangenheit und Zukunft<br />

verschieden um. Erinnerte Vergangenheit ist etwas anderes als erwartete Zukunft. Ist<br />

Wirklichkeit ver-wirklichte Möglichkeit, dann muß die Möglichkeit ontologisch höher<br />

stehen als die Wirklichkeit. Wird aus Zukunft Vergangenheit, aber aus Vergangenheit<br />

nicht wieder Zukunft, dann muß die Zukunft unter den Zeitmodi den Vorrang haben.“ 45<br />

Während also <strong>im</strong> Blick auf das Verhältnis von Sein und Zeit unter den Zeitmodi die Gegenwart<br />

eine ausgezeichnete Position einn<strong>im</strong>mt, tut dies <strong>im</strong> Blick auf die Seinsmoda-<br />

42 Gott in der Schöpfung 140.<br />

43 Das Kommen Gottes 314.<br />

44 Das Kommen Gottes 315.<br />

45 Das Kommen Gottes 315. Unklar ist in diesem Zitat, was mit „höher“ gemeint sein kann. Zum einen<br />

könnte man vermuten, daß <strong>im</strong> Hintergrund eine platonische Ontologie steht, nach der die Idee der<br />

Wirklichkeit übergeordnet ist. Es könnte auch ein rechtfertigungsontologischer Gedanke Jüngels aufgenommen<br />

sein, der besagt, daß die Möglichkeiten Gottes <strong>im</strong>mer mehr und höher sind als die Wirklichkeit<br />

der Sünder. Da Moltmann sonst auf eine relationale Ontologie rekurriert, wäre es sachlich<br />

wohl angemessener, hier von einem „Vorrang“ der Möglichkeit vor der Wirklichkeit zu sprechen.<br />

Anders müßte man sich die Wirklichkeit als ver-wirklichte Möglichkeit, als defiziente Möglichkeit<br />

vorstellen. Wirklichkeit und Möglichkeit liegen aber nicht auf der gleichen Ebene, sondern stehen in<br />

einem Bedingungsverhältnis, das dialektisch zu denken ist. Vgl. dazu Eberhard Jüngel, Die Welt als<br />

Möglichkeit und Wirklichkeit. Zum ontologischen Ansatz der Rechtfertigungslehre, in: ders., Unterwegs<br />

zur Sache, München 1972, 206–233; siehe auch Paul Tillich, Systematische Theologie Bd. 1,<br />

Stuttgart 1956, 273ff; zu Tillich vgl. auch Joach<strong>im</strong> Track, Der theologische Ansatz Paul Tillichs,<br />

Göttingen 1975, bes. 61ff und 335ff.<br />

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