Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

02.12.2012 Aufrufe

2 Zu Methode und Aufbau dieser Arbeit „Man kann Geschichte nur in rigoroser Auswahl darstellen, was oft nur deshalb nicht auffällt, weil man die Lücken des Wissens um das Geschehene nicht bemerkt. Das Kriterium der Auswahl ist aber außerordentlich schwankend, weil das Leben selbst, obwohl äußerlich ein Ganzes und Fertiges, ein Fragment ist, dazu in einer Runenschrift, die weithin unentzifferbar ist.“ 14 Was Gerhard Ebeling so zu Biographien schreibt, gilt auch für eine wissenschaftliche Arbeit. Fragestellungen und Themen der Arbeit am Begriff Geschichte sind kaum übersehbar und verlangen eine Auswahl. Daher bleibt auch eine wissenschaftliche Arbeit ein Fragment. Aber im Fragment, als Torso oder als Ruine, sind doch Ahnungen eines Ganzen enthalten, auch wenn das Ganze nie ganz darstellbar ist. So kann es hier nicht um eine ausgeführte Geschichtstheologie gehen, sondern um ausgewählte Aspekte, die eine Theologie der Geschichte an der Wende zum 3. Jahrtausend, in Zeiten der ausgehenden Moderne oder der Postmoderne m.E. zu berücksichtigen gut tut. Seit es ein Bewußtsein von Geschichte und Geschichtlichkeit gibt, wurde diese Dimension menschlicher Existenz in vielfältiger Weise bearbeitet. Diese Arbeit ist gespeichert in Texten und Traditionen. Das Feld dieser Texte ist nahezu unübersehbar, und wer über dieses Feld wandert, sieht aus seiner Perspektive eine je eigene Landschaft. Man kann den Blick über dieses Feld schweifen lassen, um einen Eindruck der Oberfläche dieser Arbeit an der Geschichte zu bekommen. Man kann an der einen oder anderen Stelle das Graben beginnen, um zu entdecken, was durch die Zeiten hindurch zu der wahrgenommenen Gestalt der Landschaft geführt hat. Man kann diese Grabungen an verschiedenen Stellen durchführen und dabei mehr oder weniger fündig werden. Das Geschäft der Archäologie hat bei aller Methodik immer auch etwas Zufälliges. Vielleicht wäre es lohnender, an einer anderen Stelle zu graben – doch wer will das im Vorhinein wissen. Aus den jeweiligen Grabungsergebnissen ergibt sich ein je eigenes perspektivisches Bild von der Arbeit an der Geschichte und daraus eine je eigene Vorstellung von dem, was Geschichte ist und bedeutet. Jede Erkenntnis ist relativ zu dem, der sie sich erarbeitet oder aneignet; sie ist fragmentarisch in Relation zu dem, was man möglicherweise noch erkennen könnte. Und sie ist offen für Erweiterung, für Neues. In diesem Sinn sind auch die „Grabungen“ in den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit zu verstehen. In keinem Fall erschließen sie ihren Gegenstand vollständig – was m. E. auch gar nicht möglich ist. Die Stellen, an denen ich tiefer grabe, haben sich mir als interessant und verheißungsvoll versprochen. Daß sie, gerade sie, das taten, hängt mit den Einsichten und Perspektiven zusammen, die sich mit dieser Arbeit einstellten; freilich geschah dies auf dem Hintergrund schon bestehender Einsichten. Abgesehen davon, daß es nicht die Aufgabe der Theologie sein kann, einen Begriff von Geschichte zu definieren, sollte sie sich der Probleme des Begriffs „Geschichte“ und 14 Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. 1, Tübingen 1982 2 , 284f. 16

seiner Definition bewußt sein. 15 Zur Verdeutlichung seien zwei Definitionen genannt. Johan Huizinga definiert: „Geschichte ist die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft ablegt.“ 16 Und Rainer Piepmeier schreibt: „Geschichte ist die jeweils gegenwärtige, symbolisch vermittelte Rekonstruktion vergangenen Geschehens.“ 17 Ohne auf Problematik und Leistungsfähigkeit der Definitionen einzugehen, lassen sich an ihnen doch Aspekte ablesen, die für einen Begriff von Geschichte konstitutiv sind. Es geht erstens um eine Inbeziehungsetzung von vergangenem Geschehen und Gegenwart. Damit ist die Zeit als konstitutiv für Geschichte thematisiert. Ein Nachdenken über Geschichte impliziert ein Nachdenken über die Zeit. Es geht zweitens um Geschehen; bei Huizinga ist das im Ausdruck „Vergangenheit“ eingeschlossen. Dieses Geschehen kann aus Handlungen oder Ereignissen bestehen. Damit ist jedenfalls der Begriff der Handlung für ein Verständnis von Geschichte relevant. Handlungen aber werden, so darf man vorläufig annehmen, von Subjekten begangen. Die Frage nach der Geschichte impliziert die Frage nach dem Subjekt. Da Geschichte sich aber nicht nur auf Handlungen bezieht, sondern auf Geschehen, das auch als Ereignis oder Widerfahrnis verstanden werden kann, und dieses in seiner Zeitlichkeit thematisiert wird, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Ereignis und Struktur. Schließlich geht es um die „symbolisch vermittelte Rekonstruktion“ bzw. das „sich Rechenschaft geben“ in einer „geistigen Form“. Damit ist die Art und Weise angesprochen, in der in der Gegenwart Geschichte wahrgenommen bzw. rekonstruiert wird. Dies aber geschieht durch Sprache. Zeit, Handlung, Subjekt, Ereignis und Struktur sowie Sprache bilden also wesentliche Aspekte eines Begriffs von Geschichte. Geschichte ist auf „Welt“ als phänomenaler und ontologischer Voraussetzung bezogen. Bearbeitet man Geschichte als Teil der „Welt“, so müssen ihre ontologischen und epistemologischen Bedingungen unterschieden werden. Zeit (und Raum), Subjekt und Sprache lassen sich dabei als ontologische und epistemologische Möglichkeitsbedingungen zugleich namhaft machen, Ereignis und Struktur sowie Handlungen als epistemologische. Die genannten Aspekte von Geschichte sind somit ineinander verschränkt und in gewisser Weise interdependent. Diesen Aspekten werde ich mich in dieser Arbeit widmen. Sie geben die Gliederung für die Teile 1 und 3 ab sowie die Themen, auf die hin ich in Teil 2 die verhandelten theologischen Positionen insbesondere befragen will. 18 Die Relevanz, Interdependenz und notwendige Kohärenz dieser Aspekte wird an Ort und Stelle jeweils noch ausführlicher thematisiert. 15 Vgl. Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, München 1982 5 , 23ff. 16 Johan Huizinga, Über eine Definition des Begriffs Geschichte (1929/1935), in: ders., Geschichte und Kultur, Stuttgart 1954, 1–15, hier 13 (im Original kursiv). Zur Diskussion der Definition Huizingas vgl. Faber, Theorie 26, 31ff. 17 Rainer Piepmeier, Einleitung I, in: Willi Oelmüller, Ruth Dölle-Oelmüller, Rainer Piepmeier, Philosophische Arbeitsbücher 4. Diskurs: Geschichte, Paderborn 1983 2 , 9–50, hier 10. 18 Damit sind auch einige der Themen aufgenommen, die Wolfhart Pannenberg als Ansätze für ein neuerliches Gespräch zwischen Theologie und historischer Theoriereflexion nennt; vgl. Wolfhart Pannenberg, Art. Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VIII. Systematisch-theologisch, in: TRE 12 (1984), 658–674, hier 667ff. 17

seiner Definition bewußt sein. 15 Zur Verdeutlichung seien zwei Definitionen genannt.<br />

Johan Huizinga definiert: „<strong>Geschichte</strong> ist die geistige Form, in der sich eine Kultur über<br />

ihre Vergangenheit Rechenschaft ablegt.“ 16 Und Rainer Piepmeier schreibt: „<strong>Geschichte</strong><br />

ist die jeweils gegenwärtige, symbolisch vermittelte Rekonstruktion vergangenen Geschehens.“<br />

17 Ohne auf Problematik und Leistungsfähigkeit der Definitionen einzugehen,<br />

lassen sich an ihnen doch Aspekte ablesen, die für einen Begriff von <strong>Geschichte</strong> konstitutiv<br />

sind. Es geht erstens um eine Inbeziehungsetzung von vergangenem Geschehen<br />

und Gegenwart. Damit ist die Zeit als konstitutiv für <strong>Geschichte</strong> thematisiert. Ein Nachdenken<br />

über <strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong>pliziert ein Nachdenken über die Zeit. Es geht zweitens um<br />

Geschehen; bei Huizinga ist das <strong>im</strong> Ausdruck „Vergangenheit“ eingeschlossen. Dieses<br />

Geschehen kann aus Handlungen oder Ereignissen bestehen. Damit ist jedenfalls der<br />

Begriff der Handlung für ein Verständnis von <strong>Geschichte</strong> relevant. Handlungen aber<br />

werden, so darf man vorläufig annehmen, von Subjekten begangen. Die Frage nach der<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong>pliziert die Frage nach dem Subjekt. Da <strong>Geschichte</strong> sich aber nicht nur auf<br />

Handlungen bezieht, sondern auf Geschehen, das auch als Ereignis oder Widerfahrnis<br />

verstanden werden kann, und dieses in seiner Zeitlichkeit thematisiert wird, stellt sich<br />

die Frage nach dem Verhältnis von Ereignis und Struktur. Schließlich geht es um die<br />

„symbolisch vermittelte Rekonstruktion“ bzw. das „sich Rechenschaft geben“ in einer<br />

„geistigen Form“. Damit ist die Art und Weise angesprochen, in der in der Gegenwart<br />

<strong>Geschichte</strong> wahrgenommen bzw. rekonstruiert wird. Dies aber geschieht durch Sprache.<br />

Zeit, Handlung, Subjekt, Ereignis und Struktur sowie Sprache bilden also wesentliche<br />

Aspekte eines Begriffs von <strong>Geschichte</strong>. <strong>Geschichte</strong> ist auf „Welt“ als phänomenaler und<br />

ontologischer Voraussetzung bezogen. Bearbeitet man <strong>Geschichte</strong> als Teil der „Welt“,<br />

so müssen ihre ontologischen und epistemologischen Bedingungen unterschieden<br />

werden. Zeit (und Raum), Subjekt und Sprache lassen sich dabei als ontologische und<br />

epistemologische Möglichkeitsbedingungen zugleich namhaft machen, Ereignis und<br />

Struktur sowie Handlungen als epistemologische. Die genannten Aspekte von<br />

<strong>Geschichte</strong> sind somit ineinander verschränkt und in gewisser Weise interdependent.<br />

Diesen Aspekten werde ich mich in dieser Arbeit widmen. Sie geben die Gliederung für<br />

die Teile 1 und 3 ab sowie die Themen, auf die hin ich in Teil 2 die verhandelten<br />

theologischen Positionen insbesondere befragen will. 18 Die Relevanz, Interdependenz<br />

und notwendige Kohärenz dieser Aspekte wird an Ort und Stelle jeweils noch<br />

ausführlicher thematisiert.<br />

15 Vgl. Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, München 1982 5 , 23ff.<br />

16 Johan Huizinga, Über eine Definition des Begriffs <strong>Geschichte</strong> (1929/1935), in: ders., <strong>Geschichte</strong> und<br />

Kultur, Stuttgart 1954, 1–15, hier 13 (<strong>im</strong> Original kursiv). Zur Diskussion der Definition Huizingas<br />

vgl. Faber, Theorie 26, 31ff.<br />

17 Rainer Piepmeier, Einleitung I, in: Willi Oelmüller, Ruth Dölle-Oelmüller, Rainer Piepmeier, Philosophische<br />

Arbeitsbücher 4. Diskurs: <strong>Geschichte</strong>, Paderborn 1983 2 , 9–50, hier 10.<br />

18 Damit sind auch einige der Themen aufgenommen, die Wolfhart Pannenberg als Ansätze für ein<br />

neuerliches Gespräch zwischen Theologie und historischer Theoriereflexion nennt; vgl. Wolfhart<br />

Pannenberg, Art. <strong>Geschichte</strong>/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie VIII. Systematisch-theologisch,<br />

in: TRE 12 (1984), 658–674, hier 667ff.<br />

17

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!