Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

Golo Manns 1 treffen nicht nur auf die Geschichtsschreibung zu, sondern auch auf geschichtsphilosophische und geschichtstheologische Überlegungen. Das Millennium fordert dazu geradezu heraus. „Wie kommen wir ins nächste Jahrtausend?“ fragt etwa Hermann Timm 2 , und behauptet zugleich, dieses nächste Jahrtausend wäre das des Geistes. Andere äußern die Vermutung „Das Jahr 2000 findet nicht statt“ 3 , denn in der Geschichte wären schon alle möglichen Varianten aufgetaucht, in Zukunft würden Ideen und Konstellationen der Geschichte recycelt, neu arrangiert und verknüpft, aber Neues wäre nicht mehr vorstellbar. Wir lebten dann in einer Zeit, die die Signatur des Nach oder Post trägt, nicht aber in einer Zeit Vor. Wir hätten eine Vergangenheit, aber keine Zukunft. Der christliche Glaube hat sich, in jüdischer Tradition, von Anfang an zu Zeit und Geschichte in ein Verhältnis gesetzt. Er existiert in der Erwartung des wiederkommenden Herrn, in der Erwartung des Reiches Gottes. Er existiert zugleich, weil das Reich Gottes schon nahe herbeigekommen ist, bereits angebrochen und mitten unter uns. Der christliche Glaube findet sich darin zwischen den Zeiten vor. Er existiert in der Geschichte und als Geschichte. Er ist dabei in Beziehung gesetzt zur „allgemeinen“ Geschichte, ist ein Teil dieser Geschichte. 4 Das Nachdenken über diesen Sachverhalt wird in der Theologie unter dem Titel „Theologie der Geschichte“ vollzogen. Die „Theologie der Geschichte“ hat ihre eigene Geschichte und diese nachzuzeichnen wäre ein gewaltiges Unterfangen – für eine Dissertation kaum zu leisten und auch mehr ein historisches als ein systematisches Unternehmen. Sie hatte ihre Konjunktur, etwa die heilsgeschichtliche Theologie des 19. Jahrhunderts, und ihre Krise, etwa in der Reduktion der Geschichte auf Geschichtlichkeit. Die „Theologie der Geschichte“ stand immer vor der Herausforderung, das, was sie theologisch zur Geschichte zu sagen hatte, in ein Verhältnis zu setzen zu dem, was die profane Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie zu sagen hatte. Dies beeinflußte ihren Diskurs ebenso wie die sonstige theologische und geisteswissenschaftliche Großwetterlage. Abzulesen ist das auch den letzten größeren Entwürfen mit geschichtstheologischem Impetus, dem Programm der „Offenbarung als Geschichte“ 5 und der „Theologie der Hoffnung“ 6 . Beide Entwürfe lösten zu ihrer Zeit lebhafte Diskussionen aus. Dabei kam es zu Präzisierungen, aber im Laufe der Zeit auch zur Veränderung der Diskussionslage. 7 Mit der Krise der Geschichtsphilosophie 8 geriet auch die Geschichtstheologie in eine Krise. Eine neue Un- 1 Golo Mann, Einleitung, in: Propyläen Weltgeschichte Bd. 8, Berlin 1986, 13–28, hier 13. 2 Hermann Timm, Wie kommen wir ins nächste Jahrtausend? Die Theologie vor dem Millennium des Geistes, Hannover 1998. 3 Jean Baudrillard, Das Jahr 2000 findet nicht statt, Berlin 1990. 4 Vgl. Achim Dunkel, Christlicher Glaube und historische Vernunft. Eine interdisziplinäre Untersuchung über die Notwendigkeit eines theologischen Geschichtsverständnisses, Göttingen 1988. 5 W. Pannenberg (Hg.), Offenbarung als Geschichte (1961), Göttingen 1983, 5. Auflage; darin: Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, 91–114; vgl. unten 2.2. 6 Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie (1964), München 1980 11 ; vgl. unten 2.3. 7 Vgl. zu Pannenberg etwa James M. Robinson und John B. Cobb Jr. (Hg.), Theologie als Geschichte (Neuland in der Theologie Bd. 3), Zürich/Stuttgart 1967; zu Moltmann etwa Wolf-Dieter Marsch (Hg.), Diskussion über die „Theologie der Hoffnung“, München 1967. 8 Vgl. Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 1973; Hans Michael Baumgartner, Freiheit als Prinzip der Geschichte, in: ders. (Hg.) Prinzip Freiheit, Freiburg/ 14

übersichtlichkeit griff auch auf diesem Felde um sich. 9 Wenn man sich von der Diskussion um die Postmoderne 10 beeinflussen läßt, stellt sich die Frage, ob ein christliches Verständnis der Geschichte noch als „große Erzählung“ einer „Theologie der Geschichte“ entfaltet werden kann. Oder ob der christliche Glaube nicht in sich selbst etwas trägt, das sich gegen totalisierende Beschreibungen von Geschichte sperrt. Wie also läßt sich Geschichte theologisch am Ende des 20. Jahrhunderts begreifen? Diese Frage steht hinter dieser Arbeit. Daneben steht die Überzeugung, daß es durchaus einen Nutzen der Historie für den christlichen Glauben wie das christliche Leben gibt. Auch wenn der Topos der historia magistra vitae in den Hintergrund getreten ist, 11 kann die Erzählung von Geschichte(n) als Vergewisserung der Herkunft Zukunft eröffnen. 12 Christlicher Glaube vergewissert sich seiner selbst im Blick auf seine Geschichte; er erfährt beim Betrachten der Schattenseiten der Geschichte auch seine Anfechtung und führt sich Beispiele des Umgangs damit vor Augen. Er kann in einem Rezeptionsprozeß seiner Geschichten und Geschichte ein neues Verständnis seiner selbst gewinnen. Dies gilt analog auch für die Praxis des christlichen Lebens. 13 Doch wäre immer erst herauszuarbeiten, wie dieser Nutzen zu Tage gefördert werden kann. München 1979, 299–321, zieht 301f folgende ernüchternde Bilanz: „Die aus dem theoretischen Scheitern einer Philosophie der Freiheitsgeschichte des Geistes ebenso wie aus der Geschichtserfahrung der Welt des 20. Jahrhunderts erworbene Einsicht in die Problematik gleichermaßen der Freiheitsvorstellung wie eines spekulativen Begreifens von Geschichte führte über viele Vermittlungen, beispielsweise den Historismus, die pessimistische Geschichtsphilosophie des Verhängnisses und Untergangs, die Theorie der Kulturzyklen und der Interaktion von Zivilisationen zu einer Auflösung der materialen Geschichtsphilosophie überhaupt. Die Geschichtsphilosophie der Gegenwart befindet sich daher verständlicherweise in einem desolaten Zustand. Traditionen des deutschen Idealismus konkurrieren mit Rekonstruktionen des historischen Materialismus, mit diesen Ansätzen wiederum positivistische und kritisch rationalistische Konzepte der Destruktion geschichtsphilosophischer Ansprüche. Daneben finden sich analytische Philosophien der Geschichte, die sich dem Vokabular und der Form historischer Aussagen zuwenden, die existenziale und hermeneutische Philosophie der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins, und ebenso die vielfältigen, von Historikern und Philosophen zum Teil gemeinsam unternommenen Versuche, aus der sowohl systematischen wie auch geschichtlichen Selbstreflexion der Historie als Wissenschaft und der Tätigkeit des Historikers eine Geschichtstheorie zu entwickeln, die formalanalytischen Kriterien ebenso zu genügen versucht wie der Idee, daß Geschichte trotz des (anerkannten) Scheiterns einer Wesensphilosophie der Geschichte mehr ist als die Zusammenstellung und Erzählung beliebiger vergangener Ereignisse. Nicht nur für den Uneingeweihten ist die Situation so verwirrend, daß die Frage nach einem sich möglicherweise abzeichnenden verbindlichen Ergebnis der Auseinandersetzungen nur mit einer hilflosen Gebärde des Vertröstens beantwortet werden kann.“ 9 „Geschichtstheologie hat viele Gesichter“, schreibt Gerhard Sauter, Einführung in die Eschatologie, Darmstadt 1995, 13 und führt einige Varianten vor. 10 Vgl. Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne, Schlüsseltexte der Postmoderne–Diskussion, Weinheim 1988. 11 2 Vgl. Reinhard Koselleck, Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 1992 , 38ff. 12 Vgl. Odo Marquard, Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, 125. 13 Vgl. Günter Stemmler, Vom Nutzen der Historie für das christliche Leben. Geschichtsbewußtsein und kirchliche Identität, in: KZG 7/1994, 129–136; siehe auch Friedrich-Wilhelm Marquard, Geschichte und kirchliche Verkündigung, in: Antwort. Karl Barth zum 70. Geburtstag, Zürich 1956, 620–629 und Walter Sparn, Inquisition oder Prophetie. Über den Umgang mit der Geschichte, in: EvTh 44/1984, 440–463. 15

übersichtlichkeit griff auch auf diesem Felde um sich. 9 Wenn man sich von der Diskussion<br />

um die Postmoderne 10 beeinflussen läßt, stellt sich die Frage, ob ein christliches<br />

Verständnis der <strong>Geschichte</strong> noch als „große Erzählung“ einer „Theologie der <strong>Geschichte</strong>“<br />

entfaltet werden kann. Oder ob der christliche Glaube nicht in sich selbst etwas<br />

trägt, das sich gegen totalisierende Beschreibungen von <strong>Geschichte</strong> sperrt. Wie also<br />

läßt sich <strong>Geschichte</strong> theologisch am Ende des 20. Jahrhunderts begreifen? Diese Frage<br />

steht hinter dieser Arbeit. Daneben steht die Überzeugung, daß es durchaus einen Nutzen<br />

der Historie für den christlichen Glauben wie das christliche Leben gibt. Auch wenn<br />

der Topos der historia magistra vitae in den Hintergrund getreten ist, 11 kann die Erzählung<br />

von <strong>Geschichte</strong>(n) als Vergewisserung der Herkunft Zukunft eröffnen. 12 Christlicher<br />

Glaube vergewissert sich seiner selbst <strong>im</strong> Blick auf seine <strong>Geschichte</strong>; er erfährt<br />

be<strong>im</strong> Betrachten der Schattenseiten der <strong>Geschichte</strong> auch seine Anfechtung und führt<br />

sich Beispiele des Umgangs damit vor Augen. Er kann in einem Rezeptionsprozeß seiner<br />

<strong>Geschichte</strong>n und <strong>Geschichte</strong> ein neues Verständnis seiner selbst gewinnen. Dies gilt<br />

analog auch für die Praxis des christlichen Lebens. 13 Doch wäre <strong>im</strong>mer erst herauszuarbeiten,<br />

wie dieser Nutzen zu Tage gefördert werden kann.<br />

München 1979, 299–321, zieht 301f folgende ernüchternde Bilanz: „Die aus dem theoretischen<br />

Scheitern einer Philosophie der Freiheitsgeschichte des Geistes ebenso wie aus der Geschichtserfahrung<br />

der Welt des 20. Jahrhunderts erworbene Einsicht in die Problematik gleichermaßen der<br />

Freiheitsvorstellung wie eines spekulativen Begreifens von <strong>Geschichte</strong> führte über viele Vermittlungen,<br />

beispielsweise den Historismus, die pess<strong>im</strong>istische Geschichtsphilosophie des Verhängnisses<br />

und Untergangs, die Theorie der Kulturzyklen und der Interaktion von Zivilisationen zu einer Auflösung<br />

der materialen Geschichtsphilosophie überhaupt. Die Geschichtsphilosophie der Gegenwart befindet<br />

sich daher verständlicherweise in einem desolaten Zustand. Traditionen des deutschen Idealismus<br />

konkurrieren mit Rekonstruktionen des historischen Materialismus, mit diesen Ansätzen wiederum<br />

positivistische und kritisch rationalistische Konzepte der Destruktion geschichtsphilosophischer<br />

Ansprüche. Daneben finden sich analytische Philosophien der <strong>Geschichte</strong>, die sich dem<br />

Vokabular und der Form historischer Aussagen zuwenden, die existenziale und hermeneutische<br />

Philosophie der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins, und ebenso die vielfältigen, von Historikern<br />

und Philosophen zum Teil gemeinsam unternommenen Versuche, aus der sowohl systematischen<br />

wie auch geschichtlichen Selbstreflexion der Historie als Wissenschaft und der Tätigkeit des<br />

Historikers eine Geschichtstheorie zu entwickeln, die formalanalytischen Kriterien ebenso zu genügen<br />

versucht wie der Idee, daß <strong>Geschichte</strong> trotz des (anerkannten) Scheiterns einer Wesensphilosophie<br />

der <strong>Geschichte</strong> mehr ist als die Zusammenstellung und Erzählung beliebiger vergangener Ereignisse.<br />

Nicht nur für den Uneingeweihten ist die Situation so verwirrend, daß die Frage nach einem<br />

sich möglicherweise abzeichnenden verbindlichen Ergebnis der Auseinandersetzungen nur mit einer<br />

hilflosen Gebärde des Vertröstens beantwortet werden kann.“<br />

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„Geschichtstheologie hat viele Gesichter“, schreibt Gerhard Sauter, Einführung in die Eschatologie,<br />

Darmstadt 1995, 13 und führt einige Varianten vor.<br />

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Vgl. Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne, Schlüsseltexte der Postmoderne–Diskussion,<br />

Weinhe<strong>im</strong> 1988.<br />

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Vgl. Reinhard Koselleck, Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 1992 , 38ff.<br />

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Vgl. Odo Marquard, Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, 125.<br />

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Vgl. Günter Stemmler, Vom Nutzen der Historie für das christliche Leben. Geschichtsbewußtsein<br />

und kirchliche Identität, in: KZG 7/1994, 129–136; siehe auch Friedrich-Wilhelm Marquard, <strong>Geschichte</strong><br />

und kirchliche Verkündigung, in: Antwort. Karl Barth zum 70. Geburtstag, Zürich 1956,<br />

620–629 und Walter Sparn, Inquisition oder Prophetie. Über den Umgang mit der <strong>Geschichte</strong>, in:<br />

EvTh 44/1984, 440–463.<br />

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