Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau
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die nicht von den Wohltaten der Demokratie und der Marktwirtschaft profitieren, ist<br />
dies keine heitere Aussicht.<br />
Allerdings, das „Ende der <strong>Geschichte</strong>“ wurde schon vor dem (vorläufigen?) Ende des<br />
Sozialismus beschworen. Arnold Gehlen exponierte sich 1963 seiner Meinung nach<br />
„mit der Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist, und daß wir <strong>im</strong> Posthistoire<br />
angekommen sind, so daß der Rat, den Gottfried Benn dem einzelnen gab, nämlich<br />
‚Rechne mit deinen Beständen‘, nunmehr der Menschheit als ganzer zu erteilen ist.<br />
Die Erde wird demnach in der gleichen Epoche, in der sie optisch und informatorisch<br />
übersehbar ist, in der kein unbeachtetes Ereignis von größerer Wichtigkeit mehr vorkommen<br />
kann, auch in der genannten Hinsicht [Gehlen denkt an religiöse und zivilisatorische<br />
Basisideologien, KFG] überraschungslos.“ 6 Posthistoire 7 oder das Ende der<br />
<strong>Geschichte</strong> wird dabei gedacht als Ende des Zuwachses von neuen Möglichkeiten in der<br />
<strong>Geschichte</strong>. Aufgenommen wird dabei der Gedanke Nietzsches von der „Wiederkehr<br />
des ewig Gleichen“ 8 , allerdings ohne die zyklischen Implikationen, die Nietzsche anspricht.<br />
Einen weiteren Hinweis kann Jean Baudrillard mit seiner Schrift „Das Jahr 2000 findet<br />
nicht statt“ geben. 9 Baudrillard will damit nicht den physischen Weltuntergang vorhersagen,<br />
sondern darauf hinweisen, daß <strong>Geschichte</strong> durch S<strong>im</strong>ulation verschwindet, sich<br />
sozusagen verflüchtigt. Künstliche, medial vermittelte Wirklichkeiten verwischen den<br />
Zugang zur tatsächlichen Realität. S<strong>im</strong>ulierte Wirklichkeit löst tatsächliche Wirklichkeit<br />
ab. Baudrillard zeigt das Phänomen solcher Verflüchtigung an drei „Analogien“ 10 , der<br />
Beschleunigung, die einen orbitalen Körper aus seiner Umlaufbahn und also aus dem<br />
Zusammenhang von Wirklichkeit, Sinn und <strong>Geschichte</strong> löst; <strong>im</strong> Blick auf die Masse die<br />
Verlangsamung bis zur Nichtwahrnehmung von Veränderung; und schließlich den Verlust<br />
der Musik durch überperfektionierte HiFi-Wiedergabe, durch Speicherung zu vieler<br />
Informationen. Dieses Phänomen läßt sich auch <strong>im</strong> Blick auf Begriff und Bedeutung<br />
von <strong>Geschichte</strong> verfolgen.<br />
Ist bei Gehlen und deutlicher bei Fukuyama ein epochales Geschehen angesprochen, so<br />
lehnt Peter Sloterdijk <strong>im</strong> Blick auf die Postmoderne einen „Epochenbegriff mit Anspruch<br />
auf geschichtsphilosophische Substantialität ab“ und sieht in der Vorsilbe „nach“<br />
die Andeutung, daß „kein ‚Geschichtsbild‘ mehr zur Verfügung steht, daß es der Gegenwart<br />
erlaubt, sich zu datieren“. 11 So beschreibt er die „spezifische Zeitstruktur des<br />
6<br />
Arnold Gehlen, Über kulturelle Kristallisation, in: ders., Studien zur Anthropologie und Soziologie,<br />
Neuwied/Berlin 1963, 311–328, Zitat 323f; gekürzt auch in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der<br />
Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinhe<strong>im</strong> 1988, 133–143; Zitat dort 141.<br />
7<br />
Zu Begriff und Gehalt von „Posthistoire“ vgl. Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die <strong>Geschichte</strong> zu<br />
Ende?, Reinbek 1989. Sein Text wurde wohl zur gleichen Zeit wie der Fukuyamas fertiggestellt. Zum<br />
Verhältnis beider Texte vgl. Anderson, Ende 7ff.<br />
8<br />
Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der<br />
Historie für das Leben (1874), in: ders., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe Bd. 1, hg. v.<br />
Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, 243–334. Zum Verhältnis von Wiederkehr<br />
und Wiederholung vgl. Reiner Wiehl, Wiederkehr der <strong>Geschichte</strong>? in: NHP 34/1993, 85–105.<br />
9<br />
Jean Baudrillard, Das Jahr 2000 findet nicht statt, Berlin 1990; vgl. auch Niethammer, Posthistoire<br />
37ff.<br />
10<br />
Zum Begriff der Analogie vgl. Joach<strong>im</strong> Track, Art. Analogie, in TRE 2, 625–650.<br />
11<br />
Peter Sloterdijk, Nach der <strong>Geschichte</strong>, in: Welsch, Wege 262–273, Zitat 262. (Zuerst erschienen in:<br />
Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt/M. 1989, 266–293; Zitat<br />
dort 266f.)<br />
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