Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

02.12.2012 Aufrufe

tragen. 50 Das gilt ganz elementar für die Entwicklung der Identität eines Individuums in einer Familie, die durch die Geschichten, die in und von dieser Familie erzählt werden, geprägt wird. 51 Das gilt aber auch für die Identität größerer sozialer Gebilde wie Institutionen, Staaten und Nationen. Und letztlich ist die Rede von „der Menschheit“ nur möglich, indem diese zum Referenzsubjekt einer eigenen Geschichte wird. Erzählungen halten dabei das Bleibende im Wandel fest. Identität meint hier also nicht ein gleichbleibendes Wesen oder eine Substanz, sondern dasjenige, was über die Veränderungen und den Wandel hinweg die (Wieder-) Erkennbarkeit möglich macht. Identität muß dabei immer wieder neu gefunden werden. Dies geschieht durch die Selbstbeschreibung oder Zuschreibung von Typischem und (mehr oder weniger) Gleichbleibendem. Die sprachliche Form, in der sich dieser Vorgang vollzieht, ist die Narration oder Erzäh- lung. 52 Erzählung ist somit die konstitutive und genuine Sprachform von Geschichten und Geschichte. Reden (und Schreiben) über Geschichte oder von Geschichte begründet einen anderen Diskurs, ist eine mögliche Verknüpfung im Anschluß an eine Geschichte. Aufgabe der Geschichte ist es, so Danto, die Vergangenheit zu organisieren. Da die Sätze einer Geschichte aber immer auch einen perlokutionären Aspekt mit sich tragen, ist die Erzählung einer Geschichte nie nur rückwärts gewandt, sondern erzeugt beim Hörer und beim Erzähler eine Wirkung. Diesen Vorgang kann man rezeptionsästhetisch analysieren und deuten. 53 Die Rezipienten einer Geschichte sind aktiv beteiligt an dieser Geschichte bzw. an diesem Text. Aus der Perspektive der Rezeptionsästhetik muß ein Text oder eine Geschichte als offen aufgefaßt werden. Er trägt in sich ein Potential des Fortführens. Das „wie“ dieser Verknüpfung ist offen. Es scheint aber Texte oder Erzählungen zu geben, die sich einer bestimmten Lesart verweigern, indem sie bei einer bestimmten Lesart durch bestimmte Rezipienten eine andere, alternative oder widerstreitende Lesart provozieren. Es sind dies Texte, Stories oder Erzählungen, die implizit oder explizit Daseins- und Handlungsorientierung tradieren. Man wird vermuten dürfen, daß Texte der Geschichte oder Geschichten, sofern sie mehr sind als die Aufzählung von Daten, dieses Potential besitzen, insofern sie als Beispiele, als Exempel gelesen werden. Die Auflösung des topos der historia magistra vitae 54 ist gegen dieses Verständnis der Geschichte kein Einwand, sondern bestätigt es sogar, als es sich gegen eine exklusive und totalitäre Lesart der Geschichte wendet. 50 Vgl. Michael von Engelhardt, Biographie und Identität. Die Rekonstruktion und Präsentation von Identität im mündlichen autobiographischen Erzählen, in: Walter Sparn (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990, 197–247. 51 Angela Keppler, Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien, Frankfurt/M. 1994 zeigt allerdings, daß Familienkonversation nicht primär der Vermittlung von Werten und Einstellungen dient, sondern vor allem der Einübung in die Praxis kommunikativen Verhaltens. 52 Vgl. Dietrich Ritschl / Hugh O. Jones, „Story“ als Rohmaterial der Theologie, München 1976, bes. 11–18. 53 2 Vgl. wiederum Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1979 . 54 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft 38ff. 124

6.3.2 Rezeption und Produktion Der performative Aspekt von Sprache sowie das Verständnis von Sprache als Handeln legen es nahe, im Blick auf die Geschichte den produktiven Charakter der Sprache zu betonen. Sprache macht Geschichte. Zugleich vermag Sprache Welt und Geschichte zu transzendieren und somit einen Gesamtzusammenhang zu entwickeln. Die Geschichtsphilosophien des deutschen Idealismus, aber auch alle anderen Gesamtanschauungen der Welt verdanken sich diesem produktiven Charakter der Sprache. Die Möglichkeiten der Sprache erlauben aber nicht nur ein „Daß“ der Entwicklung von Gesamtanschauungen, sondern in ihrer Vielgestaltigkeit und Wandelbarkeit kann auch das „Wie“ dieser Geschichtserzählungen variieren. Die Sprache des Mythos ist eine andere als die der Geschichtsphilosophie. Dennoch sind diese Unterschiede nicht gänzlich kontingent; sie sind geschichtlich in dem Sinne, daß sie an Raum und Zeit gebunden sind, daß Geschehen und der Geist einer Zeit sich seine Sprache und Gestalt zur Formulierung seiner Geschichte und Anschauung sucht. Dem produktiven Aspekt der Sprache korrespondiert darum ein rezeptiver. Der Sprache ist ihr „Material“ über die unmittelbaren Impressionen immer schon vorgegeben; sie ist ein Reflex. Durch den sprachlichen Zugriff auf diese Impressionen werden diese aber auch gestaltet. Die Dialektik von Rezeption und Produktion betrifft nicht nur die Sprache, sondern auch die Sprechenden. Sie verwenden immer schon eine Sprache, die sie vorfinden; im Gebrauch dieser Sprache aber gestalten sie diese auch, finden und erfinden neue Ausdrücke und Ausdrucksformen. Auf die Geschichte angewendet bedeutet dieser Sachverhalt, daß Veränderungen, Ereignisse, Geschehen der Sprache vorläufig sind. Sie werden Geschichte durch ihre sprachliche Gestaltung, primär als Erzählung. Die Formulierung von Geschichte(n) unterliegt der Dialektik von Rezeption und Produktion. Und dies sowohl auf der Ebene dessen, was man als Erfahrung von Geschichte bezeichnen könnte, womit ich das Erleben dessen meine, was in der Geschichte dann formuliert und formatiert wird, als auch auf der Ebene der Formatierung dieser Erfahrungen in der Formulierung von Geschichte(n). 6.4 Zusammenfassung 1. Die Überlegungen der Sprach- und Bewußtseinsphilosophie haben gezeigt, daß Sprache ein anthropologisches Grunddatum ist, das ein Verstehen und Verhalten des Menschen erst ermöglicht. Sprache hat darin eine philosophisch fundamentale Bedeutung. Die Überlegungen im Blick auf eine ontologische Bestimmung der Sprache weisen darauf hin, daß Sprache die Bedingung der Möglichkeit einer Relationsontologie ist. Sie ist das notwendige Medium, in dem Welt erfahren und gestaltet werden kann. 2. Die Erörterungen der analytischen Geschichtsphilosophie führen zu der Einsicht, daß die Frage nach der Verifikation von historischen Aussagen von der Frage nach dem Sinn dieser Aussagen unterschieden werden muß. Weiter wurde deutlich, daß die wesentliche Funktion von Sätzen über Vergangenheit die Organisation gegenwärtiger Erfahrung ist. Dabei ist das „Daß“ der Vergangenheit unhintergehbar. „Wie“ Vergangenheit aber or- 125

tragen. 50 Das gilt ganz elementar für die Entwicklung der Identität eines Individuums in<br />

einer Familie, die durch die <strong>Geschichte</strong>n, die in und von dieser Familie erzählt werden,<br />

geprägt wird. 51 Das gilt aber auch für die Identität größerer sozialer Gebilde wie Institutionen,<br />

Staaten und Nationen. Und letztlich ist die Rede von „der Menschheit“ nur<br />

möglich, indem diese zum Referenzsubjekt einer eigenen <strong>Geschichte</strong> wird. Erzählungen<br />

halten dabei das Bleibende <strong>im</strong> Wandel fest. Identität meint hier also nicht ein gleichbleibendes<br />

Wesen oder eine Substanz, sondern dasjenige, was über die Veränderungen<br />

und den Wandel hinweg die (Wieder-) Erkennbarkeit möglich macht. Identität muß dabei<br />

<strong>im</strong>mer wieder neu gefunden werden. Dies geschieht durch die Selbstbeschreibung<br />

oder Zuschreibung von Typischem und (mehr oder weniger) Gleichbleibendem. Die<br />

sprachliche Form, in der sich dieser Vorgang vollzieht, ist die Narration oder Erzäh-<br />

lung. 52 Erzählung ist somit die konstitutive und genuine Sprachform von <strong>Geschichte</strong>n<br />

und <strong>Geschichte</strong>. Reden (und Schreiben) über <strong>Geschichte</strong> oder von <strong>Geschichte</strong> begründet<br />

einen anderen Diskurs, ist eine mögliche Verknüpfung <strong>im</strong> Anschluß an eine <strong>Geschichte</strong>.<br />

Aufgabe der <strong>Geschichte</strong> ist es, so Danto, die Vergangenheit zu organisieren. Da die<br />

Sätze einer <strong>Geschichte</strong> aber <strong>im</strong>mer auch einen perlokutionären Aspekt mit sich tragen,<br />

ist die Erzählung einer <strong>Geschichte</strong> nie nur rückwärts gewandt, sondern erzeugt be<strong>im</strong><br />

Hörer und be<strong>im</strong> Erzähler eine Wirkung. Diesen Vorgang kann man rezeptionsästhetisch<br />

analysieren und deuten. 53 Die Rezipienten einer <strong>Geschichte</strong> sind aktiv beteiligt an dieser<br />

<strong>Geschichte</strong> bzw. an diesem Text. Aus der Perspektive der Rezeptionsästhetik muß ein<br />

Text oder eine <strong>Geschichte</strong> als offen aufgefaßt werden. Er trägt in sich ein Potential des<br />

Fortführens. Das „wie“ dieser Verknüpfung ist offen. Es scheint aber Texte oder Erzählungen<br />

zu geben, die sich einer best<strong>im</strong>mten Lesart verweigern, indem sie bei einer<br />

best<strong>im</strong>mten Lesart durch best<strong>im</strong>mte Rezipienten eine andere, alternative oder widerstreitende<br />

Lesart provozieren. Es sind dies Texte, Stories oder Erzählungen, die <strong>im</strong>plizit<br />

oder explizit Daseins- und Handlungsorientierung tradieren. Man wird vermuten dürfen,<br />

daß Texte der <strong>Geschichte</strong> oder <strong>Geschichte</strong>n, sofern sie mehr sind als die Aufzählung<br />

von Daten, dieses Potential besitzen, insofern sie als Beispiele, als Exempel gelesen<br />

werden. Die Auflösung des topos der historia magistra vitae 54 ist gegen dieses Verständnis<br />

der <strong>Geschichte</strong> kein Einwand, sondern bestätigt es sogar, als es sich gegen eine<br />

exklusive und totalitäre Lesart der <strong>Geschichte</strong> wendet.<br />

50<br />

Vgl. Michael von Engelhardt, Biographie und Identität. Die Rekonstruktion und Präsentation von<br />

Identität <strong>im</strong> mündlichen autobiographischen Erzählen, in: Walter Sparn (Hg.), Wer schreibt meine<br />

Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge,<br />

Gütersloh 1990, 197–247.<br />

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Angela Keppler, Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel<br />

der Konversation in Familien, Frankfurt/M. 1994 zeigt allerdings, daß Familienkonversation nicht<br />

pr<strong>im</strong>är der Vermittlung von Werten und Einstellungen dient, sondern vor allem der Einübung in die<br />

Praxis kommunikativen Verhaltens.<br />

52<br />

Vgl. Dietrich Ritschl / Hugh O. Jones, „Story“ als Rohmaterial der Theologie, München 1976, bes.<br />

11–18.<br />

53 2<br />

Vgl. wiederum Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1979 .<br />

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Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft 38ff.<br />

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