Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

wird dabei so fundiert, daß gegenüber Danto die Möglichkeit von zukunftsbezogenen Aussagen gegeben ist. Die Offenheit der Verknüpfung von Sätzen und Diskursen erschließt die Möglichkeit, auch von der Zukunft der Geschichte zu sprechen. Allerdings ist damit, anders als in der „substantialistischen“ oder idealistischen Geschichtsphilosophie noch nichts inhaltlich über diese Zukunft ausgesagt. 6.2.4 Sprache und Handeln Bereits im Abschnitt über Handeln und Geschichte wurde darauf hingewiesen, daß Handeln und Sprache zusammenhängen. 41 Während dort darauf hingewiesen wurde, daß Handeln auch Sprache ist, ist nun darauf zu verweisen, daß Sprache auch Handeln ist. Sprache als Handeln ist besonders von J.L. Austin in seiner Theorie der Sprechakte 42 herausgehoben worden. Für Austin ist jede sprachliche Äußerung eine Handlung. Er unterscheidet bekanntlich drei Sprechakte. 43 Der lokutionäre Akt ist die Handlung der Äußerung selbst, also genauer das Sprechen eines (sinnvollen) Satzes. Der illokutionäre Akt bezeichnet die Absicht, die der Sprecher mit seiner Äußerung verfolgt. Der perlokutionäre Akt schließlich bezeichnet die bei einem Hörer ausgelöste Reaktion. Dabei müssen Illokution und Perlokution nicht übereinstimmen. Sprechen hat also einen dreifachen Handlungsaspekt. Zum einen ist es ein Handeln des Sprechers selbst; zum zweiten intendiert es ein Handeln beim Hörer; zum dritten ruft es ein Handeln beim Hörer hervor, das nicht unbedingt mit dem intendierten Handeln kohärent sein muß. Dieser relativ einfache Sachverhalt läßt sich nun auf Geschichte als sprachliche Form übertragen. Dabei müßte unterschieden werden zwischen dem „Autor“ der Geschichte, dem Interesse, das er mit seiner Geschichte verfolgt, und dem, was diese Geschichte beim Rezipienten bewirkt. Weiter könnte differenziert werden, wie diese Geschichte sprachlich verfaßt ist (als Erzählung, Bericht, Liste, Genealogie usw.) und wie die Rezeptions- und Performationsprozesse ablaufen. 44 6.3 Zur Sprache der Geschichte Wer sich mit Geschichte befaßt, ist immer auch mit Sprache befaßt. 45 Das ergibt sich bereits daraus, daß die Gegenstände, mit denen sich die Geschichtswissenschaft beschäftigt, zu großen Teilen Texte sind. Aber auch andere Gegenstände der Geschichte sollen für die Gegenwart ‚zum Sprechen gebracht‘ werden. Dabei muß die Sprache der 41 Vgl. oben Kap. 1.3.4. 42 2 John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart 1979 . Auf die Weiterführung der Sprechakttheorie durch John R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, 1971 und die weiteren Diskussionen der Sprechakttheorie gehe ich hier nicht weiter ein, da es mir vor allem auf das „Daß“ des pragmatischen Aspekts der Sprache ankommt. 43 Austin entwickelt diese Sprechakttheorie ab der 8. Vorlesung in seinem Buch. 44 Zur Rezeptionsästhetik vgl. Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1979 2 . 45 Vgl. unter geschichtstheoretischem Aspekt dazu Hans-Jürgen Goertz, Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek 1995, 147ff. 122

Vergangenheit in die Sprache der Gegenwart übersetzt werden. Das setzt ein Verstehen der Sprache im doppelten Sinn voraus. Es geht um das einfache ‚Kennen‘ und um das hermeneutische ‚Sinnverstehen‘. 46 Mit dem ‚Kennen‘ einer Sprache ist die Beherrschung dieser Sprache gemeint, also das Wissen um und das Anwenden von Wortschatz, grammatikalischen und syntaktischen Regeln. Es wird Bezug genommen auf (mindestens) elementare sprachliche Kompetenz. Darüber hinaus meint ‚Sinnverstehen‘ denjenigen Aspekt des Verstehens, der einen Text neu zum Sprechen bringt, der sich von den Bedeutungspotentialen eines Textes anregen läßt. Diese hermeneutische Kompetenz kann erworben werden, sie kann aber auch einem Text selbst inhärent sein, sich mit dem Text selbst mitteilen. Vermutlich kann man einige Texte angeben, die sich durch ihre ‚Qualität‘ in dieser Hinsicht von anderen unterscheiden. 47 Die Texte der Geschichte sind davon nicht ausgenommen. Sie sind sehr pluriform, hinsichtlich der Gattungen als auch der Inhalte. 48 6.3.1 Beschreibung und Erzählung Geschichten werden erzählt und mit Geschichten wird etwas beschrieben. Erzählt werden Ereignisse als singuläre oder in einem Ereigniszusammenhang, um deren Besonderheit in Erinnerung zu behalten. Der Normalfall wird in der Regel nicht erzählt. Erzählung und Beschreibung lassen sich zwar unterscheiden, treten aber selten in Reinform auf. Man kann auch mit einer Beschreibung etwas erzählen und in einer Erzählung etwas beschreiben. Geschichte läßt sich jedenfalls nicht auf die eine oder andere Form reduzieren. Um nur zwei Beispiele aus dem Bereich der Bibel zu nehmen: die Erzählung von der Thronfolge Davids (2. Sam 10 – 1. Kön 2) beschreibt auch die Sozial- und Herrschaftsstruktur der Zeit um 1000 v.Chr. in Israel, und die Beschreibung der Heilungspraxis Jesu (Joh 9,6) erzählt etwas über magisch-kultische Praxis und das Verhältnis Jesu dazu. Erzählung und Beschreibung 49 weisen hin auf verschiedene Aspekte dessen, was in Geschichten vermittelt wird. Eine Erzählung, so kann man sagen, hebt tendenziell eher auf Ereignisse und Handlungen ab, eine Beschreibung auf Zustände und Strukturen. Beides zusammengenommen bildet eine Welt, die Welt einer Geschichte ab. Beschreibung und Erzählung stellen den Hörer in einen Raum und eine Zeit, sie führen ihm Ereignisse und Handlungen vor, beschreiben deren Voraussetzungen und Folgen und vermitteln dadurch Aspekte einer Daseins- und Handlungsorientierung, die zur Identitätsbildung bei- 46 Faber, Theorie 149. Zur Hermeneutik in der Geschichtswissenschaft vgl. ebd. 109–146, wo sich Faber vor allem mit Gadamer auseinandersetzt. 47 Die Bestimmung solcher Texte mit Erschließungspotentialen ist vermutlich auch kulturabhängig. Man kann aber wohl verschiedene religiöse Grundtexte aus den Weltreligionen und „klassische“ Texte aus der Weltliteratur dazuzählen. 48 So finden sich etwa neben Akten, Urkunden und Berichten auch Romane, Biographien und Texte, die ausdrücklich Geschichte weitergeben wollen. 49 Bzw. Besprechung, so der Ausdruck, den Harald Weinrich, Narrative Strukturen in der Geschichtsschreibung, in PH 5, 519–523, hier 521, verwendet; zu den Differenzierungen von Erzählung und Beschreibung vgl. Wolf-Dieter Stempel, Erzählung, Beschreibung und der historische Diskurs, in PH 5, 326–346, der 333 feststellt: „Der kategoriale Unterschied zwischen Erzählung und Beschreibung (…) kann über die engen Beziehungen zwischen beiden Operationen nicht hinwegtäuschen.“ 123

Vergangenheit in die Sprache der Gegenwart übersetzt werden. Das setzt ein Verstehen<br />

der Sprache <strong>im</strong> doppelten Sinn voraus. Es geht um das einfache ‚Kennen‘ und um das<br />

hermeneutische ‚Sinnverstehen‘. 46 Mit dem ‚Kennen‘ einer Sprache ist die Beherrschung<br />

dieser Sprache gemeint, also das Wissen um und das Anwenden von Wortschatz,<br />

grammatikalischen und syntaktischen Regeln. Es wird Bezug genommen auf<br />

(mindestens) elementare sprachliche Kompetenz. Darüber hinaus meint ‚Sinnverstehen‘<br />

denjenigen Aspekt des Verstehens, der einen Text neu zum Sprechen bringt, der sich<br />

von den Bedeutungspotentialen eines Textes anregen läßt. Diese hermeneutische Kompetenz<br />

kann erworben werden, sie kann aber auch einem Text selbst inhärent sein, sich<br />

mit dem Text selbst mitteilen. Vermutlich kann man einige Texte angeben, die sich<br />

durch ihre ‚Qualität‘ in dieser Hinsicht von anderen unterscheiden. 47 Die Texte der <strong>Geschichte</strong><br />

sind davon nicht ausgenommen. Sie sind sehr pluriform, hinsichtlich der Gattungen<br />

als auch der Inhalte. 48<br />

6.3.1 Beschreibung und Erzählung<br />

<strong>Geschichte</strong>n werden erzählt und mit <strong>Geschichte</strong>n wird etwas beschrieben. Erzählt werden<br />

Ereignisse als singuläre oder in einem Ereigniszusammenhang, um deren Besonderheit<br />

in Erinnerung zu behalten. Der Normalfall wird in der Regel nicht erzählt. Erzählung<br />

und Beschreibung lassen sich zwar unterscheiden, treten aber selten in Reinform<br />

auf. Man kann auch mit einer Beschreibung etwas erzählen und in einer Erzählung etwas<br />

beschreiben. <strong>Geschichte</strong> läßt sich jedenfalls nicht auf die eine oder andere Form<br />

reduzieren. Um nur zwei Beispiele aus dem Bereich der Bibel zu nehmen: die Erzählung<br />

von der Thronfolge Davids (2. Sam 10 – 1. Kön 2) beschreibt auch die Sozial- und Herrschaftsstruktur<br />

der Zeit um 1000 v.Chr. in Israel, und die Beschreibung der Heilungspraxis<br />

Jesu (Joh 9,6) erzählt etwas über magisch-kultische Praxis und das Verhältnis<br />

Jesu dazu.<br />

Erzählung und Beschreibung 49 weisen hin auf verschiedene Aspekte dessen, was in <strong>Geschichte</strong>n<br />

vermittelt wird. Eine Erzählung, so kann man sagen, hebt tendenziell eher auf<br />

Ereignisse und Handlungen ab, eine Beschreibung auf Zustände und Strukturen. Beides<br />

zusammengenommen bildet eine Welt, die Welt einer <strong>Geschichte</strong> ab. Beschreibung und<br />

Erzählung stellen den Hörer in einen Raum und eine Zeit, sie führen ihm Ereignisse und<br />

Handlungen vor, beschreiben deren Voraussetzungen und Folgen und vermitteln dadurch<br />

Aspekte einer Daseins- und Handlungsorientierung, die zur Identitätsbildung bei-<br />

46 Faber, Theorie 149. Zur Hermeneutik in der Geschichtswissenschaft vgl. ebd. 109–146, wo sich<br />

Faber vor allem mit Gadamer auseinandersetzt.<br />

47 Die Best<strong>im</strong>mung solcher Texte mit Erschließungspotentialen ist vermutlich auch kulturabhängig.<br />

Man kann aber wohl verschiedene religiöse Grundtexte aus den Weltreligionen und „klassische“<br />

Texte aus der Weltliteratur dazuzählen.<br />

48 So finden sich etwa neben Akten, Urkunden und Berichten auch Romane, Biographien und Texte,<br />

die ausdrücklich <strong>Geschichte</strong> weitergeben wollen.<br />

49 Bzw. Besprechung, so der Ausdruck, den Harald Weinrich, Narrative Strukturen in der Geschichtsschreibung,<br />

in PH 5, 519–523, hier 521, verwendet; zu den Differenzierungen von Erzählung und<br />

Beschreibung vgl. Wolf-Dieter Stempel, Erzählung, Beschreibung und der historische Diskurs, in PH<br />

5, 326–346, der 333 feststellt: „Der kategoriale Unterschied zwischen Erzählung und Beschreibung<br />

(…) kann über die engen Beziehungen zwischen beiden Operationen nicht hinwegtäuschen.“<br />

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