Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

Sprache ist aber nicht nur etwas, das dem Menschen widerfährt, in die er hineinwächst, sondern Sprache hat auch gestaltende Potenz. Sprache kann nicht nur beschreiben und erklären, sie ermöglicht nicht nur Verstehen von Vorhandenem, sie kann auch herstellen. „Sprache zeigt nicht nur an, sie produziert auch. Sprache kann nicht nur etwas für gut oder böse erklären, sie kann auch gut oder böse herstellen. Sie kann befreien und fesseln, freisprechen und verurteilen, Hoffnung begründen und Träume zerstören. Sie kann Wirklichkeit herstellen, die nur erhofft war, und kann etwas vernichten, was schon Wirklichkeit war. (…) Die Tatsache, daß Menschen ‚Sprache haben‘, daß sie sich in Sprache ausdrücken und selbst entwerfen können, daß sie Erinnerungen nahebringen und sich selbst Hoffnungen projizieren können – das zeigt am deutlichsten das ‚Humanum‘ an.“ 6 Deshalb ist eigens über die Sprache der Geschichte zu handeln (6.3), bevor ich zusammenfasse (6.4). 6.2 Philosophische Aspekte zur Sprache 6.2.1 Zur Sprachphilosophie Die Wendung zur Sprachphilosophie baut auf die Überlegungen auf, die Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt angestellt haben. 7 An Hamann ist hervorzuheben, daß er auf die gesprochene Sprache in ihrer Vielfalt besonderes Gewicht legt und die Konstruktion oder Abstraktion einer idealen Sprache ablehnt. Während Hamann noch von einem göttlichen Ursprung der Sprache ausgeht, bettet Herder die menschliche Sprache in eine kreatürliche oder natürliche Sprache ein. Die menschliche Sprache unterscheidet sich von der Kommunikation der Kreaturen, weil der Mensch weniger instinktgeleitet und mehr auf die Welt als Ganze ausgerichtet ist. Denken und Sprache fallen dabei in eins. Humboldt betont darüber hinaus die geschichtliche und soziale Vermittlung und Gegebenheit von Sprache. Die mit diesen unterschiedlichen Ansätzen aufgeworfenen Probleme sind bis heute noch keiner einheitlichen Lösung zugeführt worden. Es handelt sich dabei um Fragen, die im philosophischen Diskurs schon früh virulent waren und immer wieder unter anderen Fragestellungen aufgebrochen sind. So ist in der Frage nach dem Erwerb der Sprachkompetenz, in der sich etwa lerntheoretische Konzepte des Behaviorismus und mentalistische Konzepte des Rationalismus gegenüberstehen, das Problem von Realismus oder Nominalismus verborgen. 8 Im 20. Jahrhundert arbeitete Martin Buber besonders den dialogischen Charakter der Sprache heraus, indem er darauf abhob, daß der Mensch erst im „Ich-Du“-Verhältnis, 6 Dietrich Ritschl in: ders. / Hugh O. Jones, „Story“ als Rohmaterial der Theologie, München 1976, 11. 7 Zu Herder und Humboldt vgl. Gottfried Seebaß, Das Problem von Sprache und Denken, Frank– furt/M. 1981, 17–83. Zu Hamann vgl. Karlfried Gründer, Sprache und Geschichte. Zu J.G. Hamanns „Metakritik über den Purismum der Vernunft“, in: ders., Reflexion der Kontinuitäten. Zum Geschichtsdenken der letzten Jahrzehnte, Göttingen 1982, 48–54. 8 2 Vgl. Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie, München: 1988 , 40f. Auf die phylo- und ontogenetischen Aspekte der Sprachentwicklung kann hier nicht weiter eingegangen werden, ebensowenig auf die (neuro-)physiologischen und (sozial-)psychologischen Aspekte dieser Frage. 108

also einer dialogischen Beziehung seine Menschlichkeit und sein Ichbewußtsein gewinnt. Diese dialogische Beziehung erschließt sich in und mit der Sprache. Martin Heidegger macht in seiner späteren Phase immer mehr die Sprache zum zentralen Thema. Anders als Herder und Humboldt geht er aber nicht vom sprechenden Menschen aus, sondern von der Sprache selbst, die dem Menschen als ontologische Größe voraus ist. 9 Über die Sprache können wir nur in und mit der Sprache sprechen. Hierin zeigt sich eine analoge Struktur zum Reden über die Zeit, das ebenfalls immer in der Zeit stattfindet. Die ontologische Qualität von Sprache zeigt sich nach Heidegger darin, daß die Sprache ins Sein ruft. „Das Nennen verteilt nicht Titel, verwendet nicht Wörter, sondern ruft ins Wort. Das Nennen ruft. Das Rufen bringt sein Gerufenes näher.“ 10 Lévinas gibt der Sprache in seinen meta-ontologischen Überlegungen eine spezifische Bedeutung für das Erkennen von Welt und Sein. Sprache gehört durch ihre amphibologische Struktur in die Ontologie. Zugleich ergibt sich aber das Problem, daß über die Sprache nur mit der Sprache verhandelt werden kann. Darin besteht die Analogie der Sprache mit der Zeit. Die Sprache hat zum Bewußtsein ein besonderes Verhältnis. „Denn bevor sie Gegenstand werden kann, ist sie das Organ, kraft dessen überhaupt Gegenstände vor das Bewußtsein treten. So fällt die Analyse der Sprache mit der Analyse des auf Gegenstände bezogenen Bewußtseins zusammen.“ 11 In Aufnahme der Überlegungen Husserls zur Intentionalität akzentuiert Lévinas die Sprache als die Dimension, in der das Erscheinen von Etwas als etwas deutlich wird. 12 Hans-Georg Gadamer verzichtet in seiner hermeneutischen Sprachtheorie auf eine ontologische Überhöhung der Sprache, ohne den Gedanken der Sprache als Vorgegebenes und Unverfügbares zu verzichten. 13 Gadamers Interesse gilt dem Verstehen, das sich in einer „Horizontverschmelzung“ vollzieht, deren Medium die Sprache ist. Jürgen Habermas zieht in seiner ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ aus der grundlegenden Funktion der Sprache Konsequenzen für die gesellschaftlich-politische Praxis. In der Verbindung seiner Konsensustheorie der Wahrheit und einer idealen Sprechsituation, auch herrschaftsfreier Diskurs genannt, spricht er der Sprache eine normative Funktion zu, wobei gilt: „Das normative Fundament sprachlicher Verständigung ist mithin beides: antizipiert, aber als antizipierte Grundlage auch wirksam (…) 9 Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache (GA I/12), Frankfurt/M. 1985. „Der Sprache nachdenken verlangt somit, daß wir auf das Sprechen der Sprache eingehen, um bei der Sprache, d.h. in ihrem Sprechen, nicht in unserem, den Aufenthalt zu nehmen“ (10). „Wir sprechen und sprechen von der Sprache. Das, wovon wir sprechen, die Sprache, ist uns stets schon voraus. Wir sprechen ihr ständig nur nach. So hängen wir fortwährend hinter dem zurück, was wir zuvor schon eingeholt haben müßten, um davon zu sprechen. Demnach bleiben wir, von der Sprache sprechend, in ein immerfort unzureichendes Sprechen verstrickt“ (168f). 10 Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache 18. 11 Wolfgang N. Krewani, Emmanuel Lévinas. Denker des Anderen, Freiburg/München 1992, 191. 12 Vgl. auch Krewani, Lévinas 208ff; Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München 1992 (frz. 1978). 13 Das eigentliche Gespräch ist „niemals das, das wir führen wollten. Vielmehr ist es im allgemeinen richtiger zu sagen, daß wir in ein Gespräch geraten, wenn nicht gar, daß wir uns in ein Gespräch verwickeln. Wie da ein Wort das andere gibt, wie das Gespräch seine Wendungen nimmt, seinen Fortgang und Ausgang findet, das mag sehr wohl eine Art Führung haben, aber in dieser Führung sind die Partner des Gesprächs weit weniger die Führenden als die Geführten. Was bei einem Gespräch ‚herauskommt‘, weiß keiner vorher. Die Verständigung oder ihr Mißlingen ist wie ein Geschehen, das sich an uns vollzogen hat“ (Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I, Tübingen 1986, 387). 109

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bevor ich zusammenfasse (6.4).<br />

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6.2.1 Zur Sprachphilosophie<br />

Die Wendung zur Sprachphilosophie baut auf die Überlegungen auf, die Johann Georg<br />

Hamann, Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt angestellt haben. 7 An<br />

Hamann ist hervorzuheben, daß er auf die gesprochene Sprache in ihrer Vielfalt besonderes<br />

Gewicht legt und die Konstruktion oder Abstraktion einer idealen Sprache ablehnt.<br />

Während Hamann noch von einem göttlichen Ursprung der Sprache ausgeht, bettet<br />

Herder die menschliche Sprache in eine kreatürliche oder natürliche Sprache ein. Die<br />

menschliche Sprache unterscheidet sich von der Kommunikation der Kreaturen, weil<br />

der Mensch weniger instinktgeleitet und mehr auf die Welt als Ganze ausgerichtet ist.<br />

Denken und Sprache fallen dabei in eins. Humboldt betont darüber hinaus die geschichtliche<br />

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Ansätzen aufgeworfenen Probleme sind bis heute noch keiner einheitlichen<br />

Lösung zugeführt worden. Es handelt sich dabei um Fragen, die <strong>im</strong> philosophischen<br />

Diskurs schon früh virulent waren und <strong>im</strong>mer wieder unter anderen Fragestellungen<br />

aufgebrochen sind. So ist in der Frage nach dem Erwerb der Sprachkompetenz,<br />

in der sich etwa lerntheoretische Konzepte des Behaviorismus und mentalistische<br />

Konzepte des Rationalismus gegenüberstehen, das Problem von Realismus oder Nominalismus<br />

verborgen. 8<br />

Im 20. Jahrhundert arbeitete Martin Buber besonders den dialogischen Charakter der<br />

Sprache heraus, indem er darauf abhob, daß der Mensch erst <strong>im</strong> „Ich-Du“-Verhältnis,<br />

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Dietrich Ritschl in: ders. / Hugh O. Jones, „Story“ als Rohmaterial der Theologie, München 1976,<br />

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Zu Herder und Humboldt vgl. Gottfried Seebaß, Das Problem von Sprache und Denken, Frank–<br />

furt/M. 1981, 17–83. Zu Hamann vgl. Karlfried Gründer, Sprache und <strong>Geschichte</strong>. Zu J.G. Hamanns<br />

„Metakritik über den Purismum der Vernunft“, in: ders., Reflexion der Kontinuitäten. Zum<br />

Geschichtsdenken der letzten Jahrzehnte, Göttingen 1982, 48–54.<br />

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Vgl. Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie, München: 1988 , 40f. Auf die phylo- und ontogenetischen<br />

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auf die (neuro-)physiologischen und (sozial-)psychologischen Aspekte dieser Frage.<br />

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