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Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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Oberhand über andere Zeitvorstellungen. Die linear-zeitliche Ordnung der Wahrnehmung<br />

strukturiert die <strong>Geschichte</strong> und konstruiert damit die geschichtliche Zeit.<br />

Daneben gibt es längerfristige Strukturen, die nicht in der strikten Abfolge von einmal<br />

erfahrenen Ereignissen aufgehen. Sie beziehen sich auf die mittel- und langfristige<br />

Ebene; die D<strong>im</strong>ension der „Schichtung“ <strong>im</strong> Wort „<strong>Geschichte</strong>“ weist darauf hin. Dabei<br />

ist die Randschärfe chronologischer Best<strong>im</strong>mungen offenbar weniger wichtig. Strukturelle<br />

Vorgegebenheiten gehen zwar in die jeweils momentanen Ereignisse ein, liegen<br />

ihnen aber in anderer Weise voraus als in einem chronologischen Sinn des Zuvor. Ereignisse<br />

werden von best<strong>im</strong>mbaren Subjekten ausgelöst oder erlitten, während Strukturen<br />

als solche überindividuell und intersubjektiv sind. Eine Lebensgeschichte vollzieht<br />

sich in den geschichtlich vorgegebenen Strukturen wie etwa Familie, Staat, Gesellschaft.<br />

„Strukturen und deren Wandel sind empirisch einlösbar, solange Zeitspannen nicht über<br />

die Erinnerungseinheit der jeweils lebenden Generation hinausreichen.“ 20<br />

Ereignisse und Strukturen haben also <strong>im</strong> Erfahrungsraum geschichtlicher Bewegung<br />

verschiedene zeitliche Erstreckungen. Strukturen bedingen Beschreibung, Ereignisse<br />

Erzählung; dennoch bleiben beide aufeinander verwiesen. 21<br />

Erzählung und Beschreibung verzahnen sich, wobei das Ereignis zur Voraussetzung<br />

strukturaler Aussagen wird. Andererseits sind Strukturen Bedingungen möglicher Ereignisse.<br />

Es gibt <strong>im</strong> Hinblick auf einzelne Ereignisse also strukturelle Bedingungen, die<br />

ein Ereignis in seinem Verlauf ermöglichen. „Dieses Aufstufungs- und Abschichtungsverfahren<br />

läßt sich vom Einzelereignis bis zur Weltgeschichte durchführen. Je strenger<br />

der systematische Zusammenhang, je langfristiger die strukturalen Aspekte, desto weniger<br />

sind sie in einem strikt chronologischen Vorher und Nachher erzählbar. Gleichwohl<br />

kann auch ‚Dauer‘ historiographisch zu einem Ereignis werden.“ 22 „Der Prozeßcharakter<br />

neuzeitlicher <strong>Geschichte</strong> ist gar nicht anders erfaßbar als durch wechselseitige Erklärung<br />

von Ereignissen durch Strukturen und umgekehrt.“ 23 Andererseits darf die Verschränkung<br />

von Ereignis und Struktur nicht zur Verwischung ihrer Unterschiede führen,<br />

wenn anders sie ihren Erkenntniszweck beibehalten solle, die Mehrschichtigkeit aller<br />

<strong>Geschichte</strong> aufzuschlüsseln. „Bezieht man also die Darstellungsweisen methodisch auf<br />

die ihnen vorgeordneten zeitlichen Erstreckungen <strong>im</strong> ‚Gegenstandsbereich‘ der <strong>Geschichte</strong>,<br />

so ergibt sich dreierlei: erstens gehen die Zeitebenen, so sehr sie sich bedingen,<br />

nie ineinander auf; zweitens kann – je nach Wechsel der erfragten Ebene – ein Ereignis<br />

strukturelle Bedeutung gewinnen; sowie drittens auch ‚Dauer‘ zum Ereignis werden.“ 24<br />

Bei all dem ist die erkenntnistheoretische Relation von Ereignis und Struktur zu beachten;<br />

dabei geht es um das Problem des Ebenenwechsels. Alles kann begründet werden,<br />

20 Dieser Sachverhalt wird etwa bestätigt durch die Probleme, die Menschen haben, die nach 1945 geboren<br />

sind, Haltung und Verhalten <strong>im</strong> Nationalsozialismus zu verstehen.<br />

21 Auf ontologischer Ebene hat dieser Sachverhalt seine Entsprechung in der Figur des Sich-Ereignen<br />

des Seins als Seiendem; das Sein entspricht der Struktur, das Seiende wird aufgefaßt als Ereignis des<br />

Seins, so z.B. bei Heidegger; vgl. oben 1.2.2.5.<br />

22 Koselleck, Vergangene Zukunft 150. Er nennt als Beispiel die merkantile Ständeordnung, die als<br />

Struktur „mittlerer Reichweite als ein einziger Ereigniskomplex in größere Ereigniszusammenhänge<br />

eingebracht werden“ kann. „Einmal analysierte und beschriebene Strukturen werden dann erzählbar,<br />

nämlich als Faktor übergreifender Ereigniszusammenhänge.“<br />

23 Koselleck, Vergangene Zukunft 150.<br />

24 Koselleck, Vergangene Zukunft 152.<br />

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