Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau

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02.12.2012 Aufrufe

„Ereignisse oder – noch allgemeiner – Tatsachen das Grundgerüst der geschichtlichen Strukturen bilden“ und „‚Struktur‘ und ‚Ereignis‘ in keinem absoluten Gegensatz zueinanderstehen“. 14 Eine Struktur kann man verstehen als eine besondere Spielart des Simultantypus, 15 da sie eine Merkmalskombination darstellt, in der sich die konstitutive Merkmalskombination zum einen wiederholt, zum anderen die die Struktur aufbauenden Elemente funktional aufeinander bezogen sind. 16 Man kann auch sagen, daß ein Gebilde (Staat, Gesellschaft, etc.) eine Struktur hat, aber einem Typus angehört. Im Blick auf die Sprachformen, mit denen man Ereignis und Struktur darstellen kann, hat man nun dahingehend unterschieden, daß Ereignisse erzählt, Strukturen aber beschrieben werden. 5.4 Zeitaspekt und sprachliche Darstellung Reinhard Koselleck 17 unterscheidet verschiedene Ebenen zeitlicher Erstreckung und weist ihnen unterschiedliche Darstellungsformen, nämlich erzählende oder beschreibende, zu. 18 Er setzt dabei voraus, daß Geschichte immer schon außersprachlich vorgeformt ist. Kosellecks These lautet nun, „in der Praxis läßt sich eine Grenze zwischen Erzählung und Beschreibung nicht einhalten, in der Theorie historischer Zeiten aber lassen sich die Ebenen verschiedenen zeitlicher Erstreckung nicht gänzlich aufeinander beziehen“. Zunächst ist also davon auszugehen, daß „Ereignisse“ nur erzählt, „Strukturen“ nur beschrieben werden können. Ereignisse sind für Koselleck nachträglich aus der Fülle der Begebenheiten als Ereigniszusammenhang, etwa als Sinneinheit, darstellbar. Der Rahmen ist zunächst die naturale Chronologie. Es gibt im Blick auf die Zeit eine „Schwelle der Zerkleinerung“, unterhalb derer sich ein Ereignis auflöst. Das Vorher und Nachher konstituiert den Sinnhorizont einer Erzählung. 19 Aber: Die naturale Chronologie als solche ist geschichtlich bedeutungsblind. Daher forderte Kant, daß die Chronologie sich nach der Geschichte und nicht umgekehrt, die Geschichte nach der Chronologie sich zu richten habe. Um geschichtliche Chronologie zu eruieren, bedarf es ihrer „Strukturierung“, d.h. einer diachronen Struktur, aus der diachrone Ereignisstrukturen folgen. Dabei gewinnt ein lineares Zeitmodell, sei es Früher – Später oder Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, die Die Geschichte der Strukturen, in: J. LeGoff / R. Chartier / J. Revel (Hg.), Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt/M. 1990, 166–200. 14 Faber, Theorie 103. Philippe Ariès definiert eine Tatsache als „Element einer vergangenen Struktur, welches in der Struktur des Beobachters, in der Gegenwart des Historikers, nicht mehr existiert“, in: ders., Zeit und Geschichte 248 (im Original kursiv). Zum Verständnis von Struktur vgl. ebd. 245ff. 15 Faber, Theorie 90ff, unterscheidet Typus und Struktur, wobei er den Typus differenziert in Typen und Kryptotypen (90–94), Simultan- oder Strukturtypus und Kausal- oder Verlaufstypus (94–96), Gestalttypus (96–98), Ideal- und Realtypus (98–100). 16 Faber, Theorie 102. 17 Reinhart Koselleck, Darstellung, Ereignis und Struktur, in: Braudel, Historiker 113–125; auch in ders., Vergangene Zukunft 144–157 und unter dem Titel „Ereignis und Struktur“ in PH 5, 560–571. 18 Auf die verschiedenen historischen Sprachformen werde ich unten (1.6) eingehen. 19 Vgl. das oben zur Zeit Gesagte, vor allem Zeitwahrnehmung(1.2.2.2) und Husserl (1.2.2.4). 102

Oberhand über andere Zeitvorstellungen. Die linear-zeitliche Ordnung der Wahrnehmung strukturiert die Geschichte und konstruiert damit die geschichtliche Zeit. Daneben gibt es längerfristige Strukturen, die nicht in der strikten Abfolge von einmal erfahrenen Ereignissen aufgehen. Sie beziehen sich auf die mittel- und langfristige Ebene; die Dimension der „Schichtung“ im Wort „Geschichte“ weist darauf hin. Dabei ist die Randschärfe chronologischer Bestimmungen offenbar weniger wichtig. Strukturelle Vorgegebenheiten gehen zwar in die jeweils momentanen Ereignisse ein, liegen ihnen aber in anderer Weise voraus als in einem chronologischen Sinn des Zuvor. Ereignisse werden von bestimmbaren Subjekten ausgelöst oder erlitten, während Strukturen als solche überindividuell und intersubjektiv sind. Eine Lebensgeschichte vollzieht sich in den geschichtlich vorgegebenen Strukturen wie etwa Familie, Staat, Gesellschaft. „Strukturen und deren Wandel sind empirisch einlösbar, solange Zeitspannen nicht über die Erinnerungseinheit der jeweils lebenden Generation hinausreichen.“ 20 Ereignisse und Strukturen haben also im Erfahrungsraum geschichtlicher Bewegung verschiedene zeitliche Erstreckungen. Strukturen bedingen Beschreibung, Ereignisse Erzählung; dennoch bleiben beide aufeinander verwiesen. 21 Erzählung und Beschreibung verzahnen sich, wobei das Ereignis zur Voraussetzung strukturaler Aussagen wird. Andererseits sind Strukturen Bedingungen möglicher Ereignisse. Es gibt im Hinblick auf einzelne Ereignisse also strukturelle Bedingungen, die ein Ereignis in seinem Verlauf ermöglichen. „Dieses Aufstufungs- und Abschichtungsverfahren läßt sich vom Einzelereignis bis zur Weltgeschichte durchführen. Je strenger der systematische Zusammenhang, je langfristiger die strukturalen Aspekte, desto weniger sind sie in einem strikt chronologischen Vorher und Nachher erzählbar. Gleichwohl kann auch ‚Dauer‘ historiographisch zu einem Ereignis werden.“ 22 „Der Prozeßcharakter neuzeitlicher Geschichte ist gar nicht anders erfaßbar als durch wechselseitige Erklärung von Ereignissen durch Strukturen und umgekehrt.“ 23 Andererseits darf die Verschränkung von Ereignis und Struktur nicht zur Verwischung ihrer Unterschiede führen, wenn anders sie ihren Erkenntniszweck beibehalten solle, die Mehrschichtigkeit aller Geschichte aufzuschlüsseln. „Bezieht man also die Darstellungsweisen methodisch auf die ihnen vorgeordneten zeitlichen Erstreckungen im ‚Gegenstandsbereich‘ der Geschichte, so ergibt sich dreierlei: erstens gehen die Zeitebenen, so sehr sie sich bedingen, nie ineinander auf; zweitens kann – je nach Wechsel der erfragten Ebene – ein Ereignis strukturelle Bedeutung gewinnen; sowie drittens auch ‚Dauer‘ zum Ereignis werden.“ 24 Bei all dem ist die erkenntnistheoretische Relation von Ereignis und Struktur zu beachten; dabei geht es um das Problem des Ebenenwechsels. Alles kann begründet werden, 20 Dieser Sachverhalt wird etwa bestätigt durch die Probleme, die Menschen haben, die nach 1945 geboren sind, Haltung und Verhalten im Nationalsozialismus zu verstehen. 21 Auf ontologischer Ebene hat dieser Sachverhalt seine Entsprechung in der Figur des Sich-Ereignen des Seins als Seiendem; das Sein entspricht der Struktur, das Seiende wird aufgefaßt als Ereignis des Seins, so z.B. bei Heidegger; vgl. oben 1.2.2.5. 22 Koselleck, Vergangene Zukunft 150. Er nennt als Beispiel die merkantile Ständeordnung, die als Struktur „mittlerer Reichweite als ein einziger Ereigniskomplex in größere Ereigniszusammenhänge eingebracht werden“ kann. „Einmal analysierte und beschriebene Strukturen werden dann erzählbar, nämlich als Faktor übergreifender Ereigniszusammenhänge.“ 23 Koselleck, Vergangene Zukunft 150. 24 Koselleck, Vergangene Zukunft 152. 103

„Ereignisse oder – noch allgemeiner – Tatsachen das Grundgerüst der geschichtlichen<br />

Strukturen bilden“ und „‚Struktur‘ und ‚Ereignis‘ in keinem absoluten Gegensatz zueinanderstehen“.<br />

14 Eine Struktur kann man verstehen als eine besondere Spielart des S<strong>im</strong>ultantypus,<br />

15 da sie eine Merkmalskombination darstellt, in der sich die konstitutive<br />

Merkmalskombination zum einen wiederholt, zum anderen die die Struktur aufbauenden<br />

Elemente funktional aufeinander bezogen sind. 16 Man kann auch sagen, daß ein<br />

Gebilde (Staat, Gesellschaft, etc.) eine Struktur hat, aber einem Typus angehört. Im<br />

Blick auf die Sprachformen, mit denen man Ereignis und Struktur darstellen kann, hat<br />

man nun dahingehend unterschieden, daß Ereignisse erzählt, Strukturen aber beschrieben<br />

werden.<br />

5.4 Zeitaspekt und sprachliche Darstellung<br />

Reinhard Koselleck 17 unterscheidet verschiedene Ebenen zeitlicher Erstreckung und<br />

weist ihnen unterschiedliche Darstellungsformen, nämlich erzählende oder beschreibende,<br />

zu. 18 Er setzt dabei voraus, daß <strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong>mer schon außersprachlich vorgeformt<br />

ist.<br />

Kosellecks These lautet nun, „in der Praxis läßt sich eine Grenze zwischen Erzählung<br />

und Beschreibung nicht einhalten, in der Theorie historischer Zeiten aber lassen sich die<br />

Ebenen verschiedenen zeitlicher Erstreckung nicht gänzlich aufeinander beziehen“. Zunächst<br />

ist also davon auszugehen, daß „Ereignisse“ nur erzählt, „Strukturen“ nur beschrieben<br />

werden können.<br />

Ereignisse sind für Koselleck nachträglich aus der Fülle der Begebenheiten als Ereigniszusammenhang,<br />

etwa als Sinneinheit, darstellbar. Der Rahmen ist zunächst die naturale<br />

Chronologie. Es gibt <strong>im</strong> Blick auf die Zeit eine „Schwelle der Zerkleinerung“, unterhalb<br />

derer sich ein Ereignis auflöst. Das Vorher und Nachher konstituiert den Sinnhorizont<br />

einer Erzählung. 19 Aber: Die naturale Chronologie als solche ist geschichtlich bedeutungsblind.<br />

Daher forderte Kant, daß die Chronologie sich nach der <strong>Geschichte</strong> und<br />

nicht umgekehrt, die <strong>Geschichte</strong> nach der Chronologie sich zu richten habe. Um geschichtliche<br />

Chronologie zu eruieren, bedarf es ihrer „Strukturierung“, d.h. einer diachronen<br />

Struktur, aus der diachrone Ereignisstrukturen folgen. Dabei gewinnt ein lineares<br />

Zeitmodell, sei es Früher – Später oder Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, die<br />

Die <strong>Geschichte</strong> der Strukturen, in: J. LeGoff / R. Chartier / J. Revel (Hg.), Die Rückeroberung des<br />

historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt/M. 1990, 166–200.<br />

14 Faber, Theorie 103. Philippe Ariès definiert eine Tatsache als „Element einer vergangenen Struktur,<br />

welches in der Struktur des Beobachters, in der Gegenwart des Historikers, nicht mehr existiert“, in:<br />

ders., Zeit und <strong>Geschichte</strong> 248 (<strong>im</strong> Original kursiv). Zum Verständnis von Struktur vgl. ebd. 245ff.<br />

15 Faber, Theorie 90ff, unterscheidet Typus und Struktur, wobei er den Typus differenziert in Typen<br />

und Kryptotypen (90–94), S<strong>im</strong>ultan- oder Strukturtypus und Kausal- oder Verlaufstypus (94–96),<br />

Gestalttypus (96–98), Ideal- und Realtypus (98–100).<br />

16 Faber, Theorie 102.<br />

17 Reinhart Koselleck, Darstellung, Ereignis und Struktur, in: Braudel, Historiker 113–125; auch in<br />

ders., Vergangene Zukunft 144–157 und unter dem Titel „Ereignis und Struktur“ in PH 5, 560–571.<br />

18 Auf die verschiedenen historischen Sprachformen werde ich unten (1.6) eingehen.<br />

19 Vgl. das oben zur Zeit Gesagte, vor allem Zeitwahrnehmung(1.2.2.2) und Husserl (1.2.2.4).<br />

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