Geschichte im Fragment - Augustana-Hochschule Neuendettelsau
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ebensowenig wie in der Naturwissenschaft absolut sichere Kausalgesetze geben kann“ 9 ,<br />
weil derartige Gesetze <strong>im</strong>mer hypothetischen Charakter haben und – wegen der Offenheit<br />
der <strong>Geschichte</strong> – allenfalls falsifiziert werden können. Wichtig ist die Kausalität für<br />
eine Arbeit an der <strong>Geschichte</strong>, weil sich für jedes Ereignis Ursachen angeben lassen.<br />
„Wer nach den Ursachen und Wirkungen geschichtlicher Ereignisse forscht, der akzeptiert<br />
das Kausalitätsprinzip.“ 10<br />
Ist also einerseits Kausalität als Kategorie zum Verstehen der <strong>Geschichte</strong> notwendig, so<br />
stellt sich andererseits die Frage nach der Bedeutung der Kategorie Zufall oder Kontingenz.<br />
11 Es gibt dabei Versuche der El<strong>im</strong>inierung des Zufalls mit folgender Argumentation.<br />
Erstens, Zufall sei nur die Umschreibung der Unwissenheit. Das mag sicher auf<br />
einige als Zufall bezeichnete Ereignisse zutreffen; obsolet wäre der Zufall aber nur aus<br />
der Perspektive eines allwissenden Beobachters oder in einer Situation, in der Neues<br />
nicht mehr auftreten kann. Dieses Argument leistet also keine vollständige Verabschiedung<br />
des Zufalls. Zweitens, Zufall sei eine Aussage über ein zufälliges Zusammentreffen<br />
zweier Kausalketten. Damit wird der Zufall aber auf einer anderen Ebene als<br />
Kategorie eingesetzt als Kausalität und ist letztlich eine Universalbehauptung für die<br />
<strong>Geschichte</strong> insgesamt. Der Zufall wird damit auf der Ebene der Verknüpfung von Kausalketten<br />
gerade ins Recht gesetzt. Schließlich wird der Zufall verstanden als Annahme<br />
von Ereignissen ohne Determinanten. Damit wird er zu einer Art „singulärer Randbedingung“<br />
innerhalb der kausalen Erklärungstheorien und ist <strong>im</strong>merhin als Grenzbegriff<br />
innerhalb von Kausaltheorien nötig.<br />
Kausale Erklärungstheorien allein decken auch nicht die geschichtliche Erfahrung ab,<br />
die <strong>im</strong>mer wieder, sei es lebensgeschichtlich oder politikgeschichtlich, von Ereignissen<br />
einer gewissen Unerklärbarkeit und Unbest<strong>im</strong>mbarkeit geprägt ist. Auf die Deutung dieser<br />
Erfahrungen mit der Kategorie Schicksal oder mit Gott bin ich oben bereits eingegangen.<br />
12<br />
Die Ambivalenz von Kausalität und Zufall führt nun zu einer differenzierten Betrachtung<br />
der <strong>Geschichte</strong>. Legt man mehr Beachtung auf den Zufall, so wird <strong>Geschichte</strong> pr<strong>im</strong>är<br />
als eine Abfolge von (einzelnen, singulären) Ereignissen gesehen. Erzählt wird eine<br />
Ereignisgeschichte. Legt man mehr Beachtung auf die Kausalität, also die Gründe und<br />
Ursachen, so wird man <strong>im</strong>mer wieder die Ereignisse bedingende Strukturen entdecken<br />
und also mehr eine Strukturgeschichte erzählen. Die Differenzierung von Ereignis- und<br />
Strukturgeschichte ergibt sich auch aus mit unterschiedlicher Intensität betrachteten<br />
Zeiträumen. Ereignisgeschichte sieht auf relativ kurze, in der Regel exakt zu beschreibende<br />
Zeiträume, während Strukturgeschichte vor allem langandauernde Zeiträume in<br />
den Blick n<strong>im</strong>mt. 13 Dabei stehen Ereignis und Struktur insofern in einem Verhältnis, als<br />
9 Faber, Theorie 77.<br />
10 Faber, Theorie 70.<br />
11 Vgl. dazu Reinhard Koselleck, Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung, in: ders.,<br />
Vergangene Zukunft 158ff; Ferdinand Fellmann, Das Ende des Laplaceschen Dämons, in: PH 5,<br />
115–138; Odo Marquard, Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, 117ff; sowie Faber, Theorie 83ff.<br />
12 Vgl. oben 1.3.3 und 1.4.2.<br />
13 Als wissenschaftlicher Terminus wurde der Ausdruck „Struktur“ an der Wende zum 20. Jahrhundert<br />
in der Psychologie eingeführt, dann in der Soziologie. In der Geschichtswissenschaft wurde er als<br />
Gegenbegriff zum ‚Ereignis‘ vor allem durch die französische Historikerschule der „Annales“ geprägt.<br />
Vgl. Faber, Theorie 101f; Philippe Ariès, Zeit und <strong>Geschichte</strong>, 234ff sowie Krysztof Pomian,<br />
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