1 Dr. Erdmut Jost Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ... - IZEA

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1Dr. Erdmut JostMartin-Luther-Universität Halle-WittenbergInterdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA)Einführungsvortrag zur IZEA-Vortragsreihe im SS 2010, „In tiefster Devotion ersterbeich…“. Briefkultur der Aufklärung, 28.04.2010Meine sehr verehrten Damen und Herren,„In tiefster Devotion ersterbe ich…“ – so lautet die Schlussformel des bekannten AntwortschreibensImmanuel Kants vom Oktober 1794 an den preußischen König Friedrich Wilhelm II.,der ihn zuvor brieflich wegen Verstoßes gegen das Woellnersche Religionsedikt gemaßregelt hatte.Beide Briefe zeigen, so möchte ich im Folgenden in aller gebotenen Kürze darlegen, exemplarischden Weg, den der Brief als eine der wesentlichen literarischen Gattungen der Aufklärung imLaufe des 18. Jahrhunderts genommen hat: Er wurde, mit Georg Jappe, zum „Instrument derFreiheit“. 1Zunächst einige Worte zur Vorgeschichte. 1788 trat in Preußen ein Religionsedikt in Kraft, dasallen geistlichen wie nichtgeistlichen Lehrkräften bei Strafe untersagte, die Glaubensdoktrinen derprotestantischen Religion kritisch zu hinterfragen. Autor war der einflussreiche preußische Justizministerund Chef des geistlichen Departements in religiösen Angelegenheiten, Johann Christophvon Woellner. An den Universitäten regte sich schnell Widerstand, gipfelnd insbesondere inden landesweiten Studentenunruhen der frühen 1790er Jahre. 1793 veröffentlichte dann Kantseine Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 2 und erregte damit denZorn Woellners. Er veranlasste König Friedrich Wilhelm, Kant per „Specialbefehl“ 3 zurechtzuweisen,worauf am 1. Oktober 1794 ein entsprechendes Schreiben an diesen erging. Verfasser –im Namen des Königs – war Woellner selbst.Oberflächlich betrachtet, halten sich die Briefpartner an die Regeln der Korrespondenz zwischenHohen und Niedrigen, wie sie seit dem 17. Jahrhundert bestanden und die beispielsweise GottfriedSchmotther 1752 in seinem Dreßdnisch-Cantzleymäßigen Schreiber und Rechner 4 zusammengestellthat. Woellner verfasst ein sogenanntes solennes 5 Schreiben, er bedient sich in derAnrede des vollen Titels „Von Gottes Gnaden Friedrich Wilhelm, König von Preußen“ 6 undbenutzt durchgehend den pluralis majestatis („Unsere höchste Person hat schon seit geraumerZeit mit großem Mißfallen ersehen“). 7 Er lässt Friedrich Wilhelm als gnädig-herablassenden Landesvaterzu seinem, wie er schreibt, „lieben, getreuen“, 8 aber leider unbotmäßigen Landeskindsprechen, dem er drakonische Maßnahmen androht, sollte es seine Befehle missachten und seine„Renitenz“ 9 fortsetzen.Kant antwortet ebenfalls epistolographisch schulmäßig: Er verwendet die standardisierten Ehrerbietungsformeln(„devoteste Pflicht“, „allerunterthänigster Gehorsam“) 10 nicht nur in der Anrede,sondern „sowohl vor- als in- und nach dem contextu“, 11 wie es bei Schmotther heißt, arbeitetdie beiden ‚Befehle’ des Königs, nämlich erstens, sich wegen seiner Verirrungen zu rechtfertigenund zweitens seiner Renitenz abzuschwören, gewissenhaft ab und endet mit der „submission“, 12der Unterwerfungsgeste am Schluss, eben jener eingangs zitierten Wendung. Damit hat er formaldem König den schuldigen Respekt erwiesen. Bleibt Woellner, der eigentliche Urheber und (Mit-)Unterzeichner des Briefes.

1<strong>Dr</strong>. <strong>Erdmut</strong> <strong>Jost</strong><strong>Martin</strong>-<strong>Luther</strong>-Universität <strong>Halle</strong>-<strong>Wittenberg</strong>Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (<strong>IZEA</strong>)Einführungsvortrag zur <strong>IZEA</strong>-Vortragsreihe im SS 2010, „In tiefster Devotion ersterbeich…“. Briefkultur der Aufklärung, 28.04.2010Meine sehr verehrten Damen und Herren,„In tiefster Devotion ersterbe ich…“ – so lautet die Schlussformel des bekannten AntwortschreibensImmanuel Kants vom Oktober 1794 an den preußischen König Friedrich Wilhelm II.,der ihn zuvor brieflich wegen Verstoßes gegen das Woellnersche Religionsedikt gemaßregelt hatte.Beide Briefe zeigen, so möchte ich im Folgenden in aller gebotenen Kürze darlegen, exemplarischden Weg, den der Brief als eine der wesentlichen literarischen Gattungen der Aufklärung imLaufe des 18. Jahrhunderts genommen hat: Er wurde, mit Georg Jappe, zum „Instrument derFreiheit“. 1Zunächst einige Worte zur Vorgeschichte. 1788 trat in Preußen ein Religionsedikt in Kraft, dasallen geistlichen wie nichtgeistlichen Lehrkräften bei Strafe untersagte, die Glaubensdoktrinen derprotestantischen Religion kritisch zu hinterfragen. Autor war der einflussreiche preußische Justizministerund Chef des geistlichen Departements in religiösen Angelegenheiten, Johann Christophvon Woellner. An den Universitäten regte sich schnell Widerstand, gipfelnd insbesondere inden landesweiten Studentenunruhen der frühen 1790er Jahre. 1793 veröffentlichte dann Kantseine Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 2 und erregte damit denZorn Woellners. Er veranlasste König Friedrich Wilhelm, Kant per „Specialbefehl“ 3 zurechtzuweisen,worauf am 1. Oktober 1794 ein entsprechendes Schreiben an diesen erging. Verfasser –im Namen des Königs – war Woellner selbst.Oberflächlich betrachtet, halten sich die Briefpartner an die Regeln der Korrespondenz zwischenHohen und Niedrigen, wie sie seit dem 17. Jahrhundert bestanden und die beispielsweise GottfriedSchmotther 1752 in seinem <strong>Dr</strong>eßdnisch-Cantzleymäßigen Schreiber und Rechner 4 zusammengestellthat. Woellner verfasst ein sogenanntes solennes 5 Schreiben, er bedient sich in derAnrede des vollen Titels „Von Gottes Gnaden Friedrich Wilhelm, König von Preußen“ 6 undbenutzt durchgehend den pluralis majestatis („Unsere höchste Person hat schon seit geraumerZeit mit großem Mißfallen ersehen“). 7 Er lässt Friedrich Wilhelm als gnädig-herablassenden Landesvaterzu seinem, wie er schreibt, „lieben, getreuen“, 8 aber leider unbotmäßigen Landeskindsprechen, dem er drakonische Maßnahmen androht, sollte es seine Befehle missachten und seine„Renitenz“ 9 fortsetzen.Kant antwortet ebenfalls epistolographisch schulmäßig: Er verwendet die standardisierten Ehrerbietungsformeln(„devoteste Pflicht“, „allerunterthänigster Gehorsam“) 10 nicht nur in der Anrede,sondern „sowohl vor- als in- und nach dem contextu“, 11 wie es bei Schmotther heißt, arbeitetdie beiden ‚Befehle’ des Königs, nämlich erstens, sich wegen seiner Verirrungen zu rechtfertigenund zweitens seiner Renitenz abzuschwören, gewissenhaft ab und endet mit der „submission“, 12der Unterwerfungsgeste am Schluss, eben jener eingangs zitierten Wendung. Damit hat er formaldem König den schuldigen Respekt erwiesen. Bleibt Woellner, der eigentliche Urheber und (Mit-)Unterzeichner des Briefes.


2Zwei Punkte fallen an dessen Schreiben auf: Zum einen verzichtet Woellner, bei allem geäußertenMissfallen, nicht auf die Ehrentitel Kants, nämlich „Würdiger und Hochgelahrter, lieber Getreuer“.13 Zum anderen setzt er die Ansprüche des Königs, als er Kant seine Pflichtwidrigkeitvorwirft, nicht an die erste, sondern erst an die zweite Stelle: „Ihr selbst [müsst] einsehen […],wie unverantwortlich Ihr […] gegen Eure Pflicht als Lehrer der Jugend und gegen Unsere Euchsehr wohl bekannte landesväterliche Absichten handelt“. 14 Daraus spricht deutlich die VerunsicherungWoellners, der sich dem populären Königsberger Gelehrten, selbst im Namen des Königs,nicht zu befehlen getraut, wie er das bei einem weniger bekannten ‚Sünder’ sicherlich getanhätte – und getan hat. 15 Er fürchtet Kant gerade als Lehrer der Jugend; zum Zeitpunkt seinesSchreibens haben die Studentenunruhen ihren Höhepunkt erreicht.Kant weiß dies sehr genau. Und er nutzt die Gelegenheit, mit der Beantwortung des Briefes desKönigs zugleich das Woellnersche Religionsedikt, dessen Vorwurf einer „gemißbrauchten […]Aufklärung“ 16 insgesamt zu überprüfen, dabei in Kauf nehmend, dass er über die Kritik Woellnersimmer auch den König trifft. Zunächst zitiert Kant in der Einleitung seines Briefes breit ausdem „königlichen Specialbefehl“, 17 wodurch er klarstellt, dass er sich die dort geäußerten Vorwürfedurchaus nicht zu eigen macht und nur seiner Pflicht als besoldeter Untertan des Königsnachkommt. In der Folge greift er dann wesentliche Passagen des Ediktes – so § 2 über die Einheitder christlichen Konfessionen, § 7 über die Bedeutung der Offenbarungslehre und § 8 überdie Beachtung der Lehrbegriffe der Konfessionen – auf, 18 diskutiert sie im Rahmen seiner Vernunftlehreund bekräftigt damit am Ende, wovon er doch lassen soll: das Prinzip der absolutenDenk-, Forschungs- und Bewertungsfreiheit der Philosophie, gerade in Bezug auf religiöse Fragen.Zum krönenden Abschluss teilt Kant Friedrich Wilhelm – bzw. dem Theologen Woellner –dann auch noch mit, dass er, bei seinem fortgeschrittenen Alter, gewiss bald vor der höchstenInstanz, nämlich Gott als „Weltrichter“, 19 stehen werde, und keine Scheu habe, bei dieser „diegegenwärtige mir wegen meiner Lehre abgeforderte Verantwortung als mit völliger Gewissenhaftigkeitabgefaßt freimüthig“ einzureichen. 20Selbst die am Ende des Briefes ausgesprochene Selbstverpflichtung, dem vom König befohlenenPublikationsverbot Folge zu leisten – „so halte ich […] für das Sicherste, als Ew. Königl. Maj.getreuester Unterthan, feierlichst zu erklären: dass ich mich fernerhin aller öffentlichen Vorträgedie Religion betreffend […] gänzlich enthalten werde“ 21 – hebelt Kant 1798 bei der Veröffentlichungder beiden Briefe in der Vorrede zum Streit der Fakultäten aus: Er versieht nämlich denzitierten Passus mit einer Fußnote: „[D]iesen Ausdruck [getreuester Unterthan] wählte ich vorsichtig,damit ich nicht der Freiheit meines Urteils in diesem Religionsproceß auf immer, sondernnur solange Se. Maj. am Leben wäre, entsagte“. 22 Der Tod des Königs im November 1797und die kurz darauf erfolgte Entlassung Woellners entbanden ihn von seinem Versprechen.Kants Brief steht deutlich in der Tradition des aufklärerischen Gelehrten- wie des bürgerlichenPrivatbriefes. Aus ihm spricht das gewachsene Selbstbewusstsein seines Standes; er urteilt freimütigüber die ihm gemachten Vorstellungen und unterwirft sie einzig der eigenen Vernunft alsRichter. Gegenüber Friedrich Wilhelms bzw. Woellners Adressierung als (unmündiges) ‚Landeskind’behauptet er den Status des freien und mündigen Weltbürgers, der es nicht nötig hat, dasfürstliche Geheimhaltungsgebot zu respektieren, sondern, im Gegenteil, Öffentlichkeit herstelltdurch die – wenn auch zeitlich spätere – Publikation beider Briefe. Auch stilistisch enthält er sich


3– bis auf die notwendigsten Floskeln – jeder Formelhaftigkeit und bedient sich, mit Walter Benjamin,konsequent seiner typisch Kantischen ‚Kunstprosa’, damit Karl Philipp Moritz’ Postulatvon der „ausdrucksmäßigen individuellen Originalität“ des Briefstils aus dem Allgemeinen deutschenBriefsteller von 1793 folgend. 23 Woellners Brief dagegen offenbart, wie sehr sich, vor allemnach der französischen Revolution, die Machtkonstellationen zugunsten des Bürgertums verschobenhatten.Die Gattung Brief bildet so, wie ich zu zeigen versucht habe, zentrale Umbildungsprozesse derAufklärung ab. Und so möchte unsere kleine Vortragsreihe wesentlichen, aber auch ungewöhnlichenStationen der Genese des Briefes der europäischen Aufklärung als zentraler Gattung gelehrterKommunikation wie als Medium der Durchsetzung neuer Denk- und Verhaltensmuster nachspüren.Im gleich anschließenden Vortrag untersucht <strong>Dr</strong>. Robert Vellusig die Ausbildung der Briefkulturim 18. Jahrhundert als ‚Strukturwandel der Schriftkultur’: „Wenn das Herz zu schreiben beginnt,verlernt es zu sprechen“. Am 19. Mai wird uns dann <strong>Dr</strong>. Roman Lach über die ‚dunkle’ Seite derEntwicklung berichten; sein Thema sind die ‚bösen, infamen und gestelzten’ Briefe. <strong>Dr</strong>. FrankGrunert, der ab dem 1. Mai die Edition des Christian-Thomasius-Briefwechsels am <strong>IZEA</strong> leitet,gibt uns anschließend am 2. Juni einen ersten Einblick in die ‚klugen Episteln’ des halleschenPhilosophen. Und am 16. Juni können Sie dann, wenn Sie mögen, mich selbst hören zum ThemaEmpfehlungsbrief oder: Wie verschafft man sich Zutritt zu den kulturellen Kreisen Europas?Die politische Seite der Briefkultur kommt am 30. Juni mit Prof. <strong>Dr</strong>. Iwan-MichelangeloD’Apriles Vortrag über Friedrich Buchholz, einen der zentralen ‚Netzwerker’ der Spätaufklärung,zur Sprache. Schließlich wird uns Prof. <strong>Dr</strong>. Antony McKenna am 7. Juli über editorische Fragenim Zusammenhang mit Briefen am Beispiel Pierre Bayles informieren.Ich danke Ihnen!1 Georg Jappe: Vom Briefwechsel zum Schriftwechsel. In: Merkur 23 (1969), S.351-362, S.355f.2 Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Königsberg 1793.3 Ders.: Der Streit der Fakultäten. In: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademieder Wissenschaften, Abt. 1, Bd. 7: Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Nachdr. derAusg. 1917, Berlin 1969, S.6. Im folgenden zitiert als: Streit der Fakultäten.4 Gottfried Schmotther: Gottfried Schmotthers <strong>Dr</strong>eßdnisch-Cantzleymässigen wie auch zu Rechnungs-Sachen sichanschickenden Schreibers und Rechners, <strong>Dr</strong>esden 1752. Im folgenden zitiert als: Schmotther 1752.5 Vgl. ebd., S.9f.6 Streit der Fakultäten, S.6.7 Ebd.8 Ebd., S.7.9 Ebd., S.6.10 Ebd., S.7.11 Schmotther 1752, S.10.12 Ebd.13 Streit der Fakultäten, S.6.14 Ebd.15 So im Falle des <strong>Halle</strong>schen Theologen Carl Friedrich Bahrdt (1741-1792), der 1789 durch sein Theaterstück „DasReligionsedikt. Ein Lustspiel“ ins Visier Woellners geriet. Nach achtmonatiger Untersuchungshaft wurde Bahrdt zueinem Jahr Festungshaft in Magdeburg verurteilt, die er zur Hälfte auch verbüßte.16 Edict, die Religionsverfassung in den Preußischen Staaten betreffend. De Dato Potsdam, den 9. Julii 1788. In:Dirk Kemper (Hrsg.): Mißbrauchte Aufklärung? Schriften zum preußischen Religionsedikt vom 9. Juli 1788. 118


Schriften auf 202 Mikrofiches. Begleitband, Hildesheim 1996, S.226-234, S.230. Im folgenden zitiert als: PreußischesReligionsedikt.17 Streit der Fakultäten, S.6.18 Vgl. ebd., S.8f.; Preußisches Religionsedikt, S.227f., S.229ff.19 Streit der Fakultäten, S.9.20 Ebd., S.10.21 Ebd.22 Ebd.23 Reinhard M. G. Nickisch: Brief, Stuttgart 1991, S.82.4

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