Zwanglos sozial engagiert - BruderhausDiakonie
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<strong>sozial</strong><br />
Magazin für Politik, Kirche und Gesellschaft in Baden-Württemberg<br />
Zivildienst ersetzen<br />
Nach dem Wegfall der Wehr-<br />
pflicht und des Zivildienstes<br />
setzt die Diakonie auf Freiwilligendienste.<br />
Y Seite 4<br />
Der Zivildienst kann Lebenswege<br />
verändern. Drei Fachleute aus<br />
dem Sozialbereich berichten von<br />
Ihren Erfahrungen.<br />
Y Seite 6<br />
Ausgrenzung abwehren<br />
Muslime gelten vielen als<br />
integrationsunwillig. Beim<br />
Jugendmigrationsdienst<br />
wird das anders erlebt.<br />
Y Seite 10<br />
Ausgabe 4 | 2010<br />
<strong>Zwanglos</strong> <strong>sozial</strong> <strong>engagiert</strong><br />
Perspektiven finden<br />
Tagesbetreuung bieten<br />
Neue Wege geht die Diakoniegesellschaft<br />
Münsinger Alb mit<br />
einer Ganztagesbetreuung für<br />
Demenzkranke .<br />
Y Seite 11
2<br />
EDITORIAL<br />
<strong>Zwanglos</strong> <strong>sozial</strong> <strong>engagiert</strong><br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
Rainer Hub, Experte für Freiwilliges Engagement und<br />
Zivildienst beim Diakonischen Werk in Berlin, hat es<br />
unmissverständlich formuliert: Wenn der Wehrdienst<br />
weg ist, ist auch der Zivildienst weg, sagte Hub im<br />
Interview mit dem Magazin „Sozial“ auf Seite 4. Nach<br />
der Änderung des Wehrpflichtgesetzes im Bundestag<br />
steht einer Aussetzung des Wehrdienstes nichts<br />
mehr im Weg. Anstelle des Zivildienstes soll es ab<br />
1. Juli 2011 einen Bundesfreiwilligendienst geben.<br />
Die Folgen für Einrichtungen und Dienste der Diakonie<br />
und der anderen großen Sozialverbände in<br />
Deutschland sind im Detail noch nicht abzusehen.<br />
Für sie sind die Zivildienstleistenden nicht nur eine<br />
wertvolle Hilfe im Pflege- und Betreuungsalltag. Der<br />
Zivildienst ist auch die wichtigste Plattform für die<br />
Gewinnung von männlichem Nachwuchs. Auf den<br />
Seiten 6 und 7 stellen wir Ihnen drei Männer vor,<br />
deren Lebensweg sich durch den Zivildienst komplett<br />
verändert hat. Um auch in Zukunft junge Männer<br />
für den <strong>sozial</strong>en Bereich zu begeistern, werden die<br />
Inhalt<br />
TITELTHEMA<br />
3 Die Zivis werden uns fehlen<br />
4 Freiwilligendienste ausbauen<br />
6 Wie der Zivildienst<br />
Lebenswege verändern kann<br />
8 Freiwilliges Engagement<br />
statt Zivildienst<br />
KOLUMNE<br />
9 Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender<br />
<strong>BruderhausDiakonie</strong>:<br />
Orte für den Dienst an der<br />
Gemeinschaft erhalten<br />
AKTUELL<br />
10 Integrationsunfähig oder<br />
ausgegrenzt?<br />
REGIONEN<br />
11 Münsingen:<br />
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 4 | 2010<br />
Sozialverbände in punkto Freiwilligenwerbung neue<br />
Wege gehen müssen und auch gehen. Das Freiwillige<br />
Soziale Jahr wird an Bedeutung gewinnen, der Bundesfreiwilligendienst<br />
muss sich erst noch bewähren.<br />
Viel debattiert wurde in jüngerer Zeit auch über die<br />
umstrittenen Äußerungen von Thilo Sarrazin, die in<br />
Deutschland lebenden Muslime seien auch aufgrund<br />
ihres religiösen Hintergrundes nicht integrationswillig<br />
genug. Fachleute des Jugendmigrationsdienstes<br />
der <strong>BruderhausDiakonie</strong> machen in ihrer Arbeit andere<br />
Erfahrungen (Seite 10).<br />
Ein weiteres interessantes Thema finden Sie auf<br />
Seite 11. Als Novum in Baden-Württemberg bietet<br />
die Diakoniegesellschaft Münsinger Alb eine Ganztagesbetreuung<br />
für Menschen mit Demenz an.<br />
Wir wünschen Ihnen gewinnbringende Lektüre, ein<br />
friedliches Weihnachtsfest und einen guten Start ins<br />
neue Jahr<br />
Ihre „Sozial“-Redaktion<br />
Ausweg für die Angehörigen<br />
12 Pfullingen:<br />
Weiter Weg in die<br />
Selbstständigkeit<br />
13 Friedrichshafen:<br />
Strahlende Augen und<br />
schöne Erlebnisse<br />
NACHRICHTEN<br />
14 Aus der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />
DIAKONISCHER IMPULS<br />
16 Dekan Bernd Liebendörfer:<br />
Ein wichtiges Element im<br />
Sozialsystem<br />
Impressum<br />
ISSN 1861-1281<br />
<strong>BruderhausDiakonie</strong><br />
Stiftung Gustav Werner und Haus am Berg<br />
Ringelbachstraße 211, 72762 Reutlingen<br />
Telefon 07121 278-225, Telefax 07121 278-955<br />
Mail redaktion@bruderhausdiakonie.de<br />
Herausgeber<br />
Pfarrer Lothar Bauer<br />
Vorstandsvorsitzender<br />
Redaktion<br />
Martin Schwilk (msk), Karin Waldner (kaw),<br />
Mitarbeiterin dieser Ausgabe<br />
Brigitte Geiselhart (bgh)<br />
Gestaltung und Satz<br />
Susanne Sonneck<br />
Druck und Versand<br />
Grafische Werkstätte der <strong>BruderhausDiakonie</strong>,<br />
Werkstatt für behinderte Menschen<br />
Erscheint vierteljährlich<br />
Fotonachweis<br />
Titelbild: Ronny Buck, Seite 3: Klaus-Peter Adler -<br />
Fotolia.com; Seite 13: bgh; Seite 15: Arburg;<br />
Seite 4/8/11/16: privat;<br />
Alle anderen: Archiv und Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeiter der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />
Spendenkonto<br />
Evangelische Kreditgenossenschaft Kassel,<br />
BLZ 520 604 10, Konto 4006
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 4 | 2010 <strong>Zwanglos</strong> <strong>sozial</strong> <strong>engagiert</strong><br />
TITELTHEMA<br />
Freiwilligendienste als Option<br />
Die Zivis werden uns fehlen<br />
Eine Ära geht zu Ende. Nach 50 wechselvollen Jahren.<br />
Erst musste man sich den Zivildienst als nachträglich<br />
etablierte Alternative zum Wehrdienst hart<br />
erkämpfen. Das war in den 60er und 70er Jahren des<br />
vergangenen Jahrhunderts, als junge Männer teilweise<br />
langwierige Verfahren bis zu ihrer Anerkennung<br />
durchstehen mussten. Später, ab den 80er Jahren,<br />
genügte eine schriftliche Willenserklärung mit überzeugend<br />
formulierter Begründung. Und noch später<br />
stand der Ersatzdienst gleichberechtigt neben dem<br />
Wehrdienst. In den letzten Jahren ist er gar zum<br />
Lerndienst aufgewertet worden. Und nun soll Schluss<br />
sein, mit der Wehrpflicht und dem daran gekoppelten<br />
Zivildienst. Aus und vorbei. Zwar nicht aus heiterem<br />
Himmel, schließlich wird seit Jahren über das Für und<br />
Wider einer Wehrpflicht diskutiert. Es war nur eine<br />
Frage der Zeit … Dass jetzt alles so schnell über die<br />
politische Bühne gehen soll, macht es den Hauptleidtragenden,<br />
den <strong>sozial</strong>en Trägern in Deutschland, aber<br />
nicht gerade leichter. Selbst wenn sie sich auf den<br />
Ernstfall vorbereitet haben.<br />
Denn allen berechtigten Diskussionen über die<br />
Freiheitsrechte von Menschen zum Trotz: Die Zivis<br />
werden fehlen. Nicht nur der Diakonie und den<br />
anderen großen Sozialverbänden in Deutschland, wo<br />
sie schmerzhafte Lücken hinterlassen. Sie werden<br />
auch den Menschen fehlen, für die sie sich <strong>engagiert</strong><br />
haben: den vielen Kindern und Jugendlichen, denen<br />
sie ein männliches Rollenbild vermittelt haben. Den<br />
Menschen mit Behinderung, die in den Werkstätten<br />
vom handwerklichen Können und technischen Knowhow<br />
vieler Zivis profitiert haben. Und nicht zuletzt<br />
den alten und pflegebedürftigen Menschen, denen<br />
sie Zeit und Zuwendung gewidmet haben.<br />
Wenn der Zivildienst wegfällt, werde ein menschliches<br />
und <strong>sozial</strong>es Plus in den Einrichtungen und<br />
der gesamten Gesellschaft fehlen, kritisierte die<br />
württembergische Diakonie die bevorstehenden<br />
Veränderungen. 1785 junge Männer leisteten im<br />
vergangenen Jahr ihren Zivildienst in der Diakonie<br />
Württemberg, davon über die Hälfte im Pflege- und<br />
Betreuungsbereich. Eine vollständige Kompensation<br />
dieser Arbeit werde nicht möglich sein, meinte der<br />
Leiter der Abteilung Freiwilliges Engagement und<br />
Zivildienst, Wolfgang Hinz-Rommel. In einem Positi-<br />
onspapier, mit dem die Diakonie<br />
in Württemberg auf die geplante<br />
Aussetzung des Wehrdienstes<br />
reagierte, heißt es: „Der Zivildienst<br />
ist derzeit der wichtigste Zugang<br />
für Männer in Sozialberufe.“ Nicht<br />
nur der Sozialbereich profitiere von<br />
den jungen Männern. Die jungen<br />
Männer profitierten auch von ihren<br />
Erfahrungen im Sozialbereich. Mit<br />
anderen Worten: Der Dienst am Menschen stärkt<br />
die Persönlichkeit. Das bestätigen viele ehemalige<br />
Zivildienstleistende. Unabhängig davon, ob der Zivildienst<br />
ihren beruflichen Weg bestimmt hat. Oder ob<br />
sie wichtige <strong>sozial</strong>e Kompetenzen wie Menschlichkeit,<br />
Empathie und Rücksichtnahme erworben haben,<br />
die nicht nur in <strong>sozial</strong>en Unternehmen gefragt sind.<br />
Auch die Unternehmen in der freien Wirtschaft profitieren<br />
von diesen Kompetenzen.<br />
Nach Ansicht von Nikolaus Schneider, dem Ratsvorsitzenden<br />
der Evangelischen Kirche in Deutschland<br />
(EKD), müsse es ein neues Bewusstsein dafür geben,<br />
dass es wichtig sei, sich für andere einzusetzen. Ob<br />
der neue Bundesfreiwilligendienst, der zum 1. Juli<br />
2011 den Zivildienst ablösen soll, das leisten kann,<br />
bleibt abzuwarten. Bundesfamilienministerin Kristina<br />
Schröder (CDU) jedenfalls ist zuversichtlich. Es<br />
gehe darum, eine neue Kultur des ehrenamtlichen<br />
Engagements zu fördern, sagte sie bei der Vorstellung<br />
des Gesetzentwurfs. Die Jugendfreiwilligendienste<br />
der Länder, Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) und<br />
Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ), und der neue<br />
Bundesfreiwilligendienst sollten gleichberechtigt<br />
nebeneinander bestehen können.<br />
Soziale Träger wie die <strong>BruderhausDiakonie</strong>, die jährlich<br />
rund hundert Zivildienstleistende beschäftigt,<br />
bereiten sich derweil intensiv auf die geplanten<br />
Veränderungen vor. Damit sich auch junge Männer<br />
freiwillig engagieren, bietet die <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />
attraktive Einsatzplätze. Unabhängig davon, ob die<br />
Bundesregierung weitere Anreize schafft, will die<br />
<strong>BruderhausDiakonie</strong> noch gezielter auf junge Männer<br />
zugehen. Damit eine neue Ära beginnen kann.<br />
kaw Z<br />
+ www.jung-und-<strong>sozial</strong>.de<br />
Ob sie sich auch<br />
freiwillig <strong>sozial</strong><br />
engagieren, wenn<br />
es keine Pflicht<br />
mehr ist?<br />
3
4<br />
TITELTHEMA<br />
Rainer Hub vom<br />
Diakonischen<br />
Werk setzt auf<br />
den Ausbau des<br />
Freiwilligen<br />
Sozialen Jahrs<br />
<strong>Zwanglos</strong> <strong>sozial</strong> <strong>engagiert</strong><br />
Wegfall der Wehrpflicht und des Zivildiensts<br />
Freiwilligendienste ausbauen<br />
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 4 | 2010<br />
Wenn kommendes Jahr die Wehrpflicht wegfällt, ist auch der Zivildienst Geschichte.<br />
Was das für die Träger <strong>sozial</strong>er Arbeit bedeutet und wodurch der Zivildienst ersetzt<br />
werden soll, darüber gibt Rainer Hub vom Bundesverband der Diakonie Auskunft.<br />
Y Der Wegfall der Wehrpflicht ist beschlossene<br />
Sache. Was wird dann aus dem Zivildienst?<br />
Die Konsequenzen für den Zivildienst sind ganz einfach:<br />
Alles, was für den Wehrdienst gilt, gilt auch für<br />
den Zivildienst – und wenn der Wehrdienst weg ist,<br />
ist der Zivildienst auch weg. Nachdem die Diskussion<br />
jetzt schon über zehn Jahre geht, ist man drauf vorbereitet,<br />
und die einen oder anderen Weichen sind<br />
gestellt. Das einzig Überraschende ist eigentlich, dass<br />
es plötzlich so schnell geht, obwohl sich keinerlei<br />
sachliche Veränderungen ergeben haben: Wehrungerechtigkeit<br />
haben wir seit vielen Jahren; dass das<br />
Bundesverfassungsgericht eine Schieflage anmahnt,<br />
ist auch nicht neu. Neu ist nur, dass CDU und CSU<br />
ihre Position überdacht haben.<br />
Y Die Diakonie hat wie alle anderen Sozialverbände<br />
über viele Jahre hinweg Zivildienstleistende beschäftigt.<br />
Haben Sie einen Überblick, wie viele das waren?<br />
Zunächst mal ist die Diakonie zusammen mit der Kirche<br />
der Sozialverband, der die meisten Zivis gehabt<br />
hat. Man kann davon ausgehen, dass immer etwa<br />
20 Prozent aller Zivildienstplätze in Deutschland<br />
evangelisch oder diakonisch waren. In den letzten<br />
Jahren wurden in Diakonie und evangelischer Kirche<br />
etwa 20 000 Zivildienstplätze angeboten. Ich betone<br />
die Plätze deswegen, weil natürlich nicht jeder Platz<br />
besetzt ist. Faktisch im Dienst waren die letzten Jahre<br />
immer so um die 13 000 Zivis.<br />
Y Welche Folgen hat der Wegfall des Zivildiensts für<br />
die Mitgliedseinrichtungen der Diakonie?<br />
Das ist aus jugend- und <strong>sozial</strong>politischen Gründen<br />
zwar bedauerlich, aber verkraftbar. Denn Zivis leisten<br />
Arbeiten, die zusätzlich erbracht werden, und erhöhen<br />
dadurch die Qualität. Die Grundversorgung der<br />
Menschen, die in den Einrichtungen der Diakonie<br />
leben oder betreut werden, wird nicht eingeschränkt.<br />
Man muss die Arbeitsfelder differenziert betrachten,<br />
um sagen zu können, welche Folgen das hat. Am<br />
deutlichsten wird es in der Altenhilfe, wo jeder denkt:<br />
Da bricht etwas zusammen, weil die Pflege ja ohnehin<br />
ein schwieriges Terrain ist. Aber genau da ist der<br />
Wegfall der Zivis gar nicht so existenziell. Denn bisher<br />
schon ist dort die überwiegende Zahl der Plätze<br />
gar nicht besetzt, weil das für die jungen Männer ein<br />
unattraktives Arbeitsfeld ist. Viel gravierender wird<br />
es in den Werkstätten für Behinderte, wo die jungen<br />
Männer gerne hingehen – und bei den ganzen Fahrdiensten,<br />
was zwar die Diakonie nicht so betrifft, aber<br />
etwa die Johanniter-Unfallhilfe und das Rote Kreuz.<br />
Y Welche Vorteile hat der Zivildienst gegenüber den<br />
bisherigen Freiwilligendiensten Freiwilliges Soziales<br />
oder Freiwilliges Ökologisches Jahr (FSJ/FÖJ)?<br />
Zumindest seit den 80er Jahren, seit der Zivildienst<br />
gesellschaftlich hoffähig ist, war das eben ein Programm,<br />
durch das man ohne Aufwand permanent<br />
Nachwuchs bekommen hat. Betriebswirtschaftlich<br />
war ein Vorteil, dass die Ausstattung zwar nicht gerade<br />
üppig war, aber im Vergleich zum FSJ und FÖJ einfach<br />
besser. Das hat sich aber in den letzten Jahren<br />
gewandelt, und zwar seitdem die Zivildienstzeit kürzer<br />
als ein Jahr geworden ist. Nach meiner Kenntnis<br />
nehmen die Einrichtungen jetzt lieber den betriebswirtschaftlich<br />
etwas intensiveren Freiwilligendienstler,<br />
der dann ein Jahr da ist und so eine Kontinuität<br />
der Aufgabenerledigung gewährleistet.<br />
Y Der Zivildienst gilt bei den <strong>sozial</strong>en Trägern auch<br />
als Mittel, junge Männer für <strong>sozial</strong>e Berufe zu gewinnen.<br />
Trifft das nach Ihrer Erfahrung zu?<br />
Das trifft schon zu. Es variiert ein bisschen zwischen<br />
den Jahrgängen, aber man kann über den Daumen<br />
gepeilt sagen: Vier bis sieben Prozent eines Zivijahrgangs<br />
bleiben im Sozialbereich hängen. Damit ist<br />
aber noch nicht gesagt, ob die sowieso vorhatten, im<br />
Sozialbereich beruflich tätig zu werden, oder ob sie<br />
durch den Zivildienst zu einer beruflichen Umorientierung<br />
gekommen sind.<br />
Y Lässt sich dieser Effekt nach dem Wegfall des Zivildiensts<br />
kompensieren – etwa, indem junge Männer
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 4 | 2010<br />
und Frauen durch Vorteile bei der Ausbildungsplatzvergabe<br />
in die Freiwilligendienste gelockt werden?<br />
Zivildienstleistende sagen oft: Ich hätte mir auch<br />
etwas Freiwilliges vorstellen können, wenn ich nicht<br />
zum Pflichtdienst gemusst hätte. Natürlich werden<br />
jetzt nicht 85 000 Zivis einen Freiwilligendienst<br />
machen. Aber wenn diese Muss-Geschichte weg ist,<br />
wird ein Teil einen Freiwilligendienst machen. Andererseits<br />
ist natürlich zu fragen: Wieweit kann ich das<br />
durch bestimmte Angebote unterstützen. Wir brauchen,<br />
glaube ich, künftig noch mehr unterschiedliche<br />
Typen von Freiwilligendiensten für unterschiedliche<br />
Personengruppen. Und da kann natürlich auch ein<br />
spezielles Junge-Männer-Angebot dabei sein mit<br />
Dienstplätzen, die vielleicht für Männer attraktiver<br />
sind als für Frauen. Bisher war immer die Nachfrage<br />
nach Plätzen höher als das Angebot. Das wird sich<br />
aber jetzt genau umkehren. Und man darf gespannt<br />
sein, wie der Freiwilligenmarkt sich dadurch verändert<br />
und welche Einrichtung schneller, flexibler und<br />
kreativer ist im Vergleich zu den andern.<br />
Y Im Moment sind unterschiedliche Modelle im<br />
Gespräch, wie der Zivildienst ersetzt werden könnte.<br />
Können Sie uns den aktuellen Stand kurz zusammenfassen?<br />
Ich glaube gar nicht, dass die Modelle so unterschiedlich<br />
sind, sondern nur die Begriffe, unter denen sie<br />
verhandelt werden. Den Ländern war es sehr wichtig,<br />
noch mal ein politisches Signal zu senden: Wenn<br />
der Bund etwas entwickeln will, für das er Bundeskompetenz<br />
und Bundesfinanzierung beansprucht,<br />
dann muss er das auch entsprechend benennen. Und<br />
daher ist jetzt der Begriff „Bundesfreiwilligendienst“<br />
im Gespräch. Gedacht ist an einen dritten Dienst in<br />
Analogie zum Modell FSJ und FÖJ, die ja unter die<br />
Zuständigkeit der Länder fallen. Nur ist dieser dann<br />
eben in Zuständigkeit des Bundes. Das hat mit den<br />
Haushaltsmitteln zu tun: Die Haushaltsmittel für<br />
den Zivildienst sind im Bundeshaushalt eingestellt<br />
und können auch nur auf Bundesebene umgewidmet<br />
werden. Der Bundesfreiwilligendienst geht für<br />
Menschen bis zu 27 Jahren in der Regel über ein Jahr,<br />
ist eine Vollzeittätigkeit, muss mindestens sechs<br />
Monate, darf höchstens 24 Monate dauern, ist ein<br />
Bildungsjahr, soll also auch 25 Bildungstage beinhalten<br />
wie die bisherigen Freiwilligendienste. Da ist man<br />
sich im Großen und Ganzen ziemlich einig geworden<br />
– nach vielen Diskussionen in den letzten Wochen. In<br />
den Details ist noch erheblicher Klärungsbedarf.<br />
<strong>Zwanglos</strong> <strong>sozial</strong> <strong>engagiert</strong><br />
Y Auf welche Modelle setzt die Diakonie?<br />
Nach wie vor ist das FSJ die Karte, auf die man setzt.<br />
Zumal das FSJ im Kontext der jetzigen Gesetzgebungsverfahren<br />
deutlich besser ausgestattet wird –<br />
eine uralte politische Forderung unabhängig von den<br />
aktuellen Diskussionen. Die politische Vorgabe ist,<br />
dass FSJ und Bundesfreiwilligendienst etwa gleich<br />
viele Plätze beinhalten sollen. Bundesweit haben wir<br />
im FSJ in diesem Jahrgang rund 36 000 Plätze, gut<br />
6 000 davon im evangelisch-diakonischen Bereich.<br />
Wenn beide Säulen gleich groß sein sollen, macht das<br />
für den Bundesfreiwilligendienst also auch knappe<br />
7 000 Plätze. Wenn man das mit den aktuellen Zivildienstzahlen<br />
von etwa 13 000 vergleicht, wäre das<br />
etwa eine Halbierung.<br />
Y Immer wieder wird auch ein allgemeiner <strong>sozial</strong>er<br />
Pflichtdienst ins Spiel gebracht, der junge Männer<br />
und junge Frauen gleichermaßen treffen würde. Was<br />
halten Sie davon?<br />
Ich persönlich halte erst mal gar nichts davon. Und<br />
Diakonie und Kirche halten auch nichts davon. Da<br />
gibt es eine ganz klare verbandspolitische und kirchenpolitische<br />
Positionierung. Das passt einfach<br />
nicht in die Logik der Diakonie. Und auch auf einer<br />
ganz pragmatischen Ebene halte ich nichts davon:<br />
Wenn alle müssen, müssen wir auch alle nehmen.<br />
Und ich behaupte: Weder brauchen wir alle, noch<br />
wollen wir alle. Wir reden, trotz demografischer Veränderungen,<br />
immer noch von 360 000 bis 400 000<br />
jungen Leuten pro Jahrgang. Aktuell haben wir – Zivis,<br />
Bundeswehr-Wehrpflichtige und Freiwilligendienstler<br />
zusammengenommen – etwa 180 000 bis<br />
200 000 junge Leute im Dienst. Wenn wir alle nehmen<br />
müssten, hätten wir das Doppelte. So viele Plätze<br />
haben wir gar nicht. Wenn sie auch die nehmen<br />
müssen, die sie gar nicht wollen, wird es schwierig.<br />
Und dabei haben wir noch gar nicht über volkswirtschaftliche<br />
Kosten und Grundgesetz und europäische<br />
und Völkerrechtssprechung geredet, die auch alle<br />
dagegensprechen. msk Z<br />
+ www.diakonie.de/freiwilliges-<strong>sozial</strong>es-engagement-undzivildienst-3713.htm<br />
TITELTHEMA<br />
Rainer Hub (49) ist Sozial- und Diakoniewissenschaftler und leitet<br />
beim Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche Deutschlands in<br />
Berlin das Arbeitsfeld Freiwilliges Engagement und Zivildienst. Zu<br />
seinen Aufgaben gehört unter anderem, freiwilliges Engagement<br />
zu fördern und Dienste wie den Zivildienst oder das Freiwillige Soziale<br />
Jahr weiterzuentwickeln.<br />
5
6<br />
TITELTHEMA<br />
Werner Opitz,<br />
ehemaliges Vorstandsmitglied<br />
bei der Gustav<br />
Werner Stiftung<br />
Thomas Niet-<br />
hammer ist Leiter<br />
der Bruderhaus-<br />
Diakonie Buttenhausen<br />
<strong>Zwanglos</strong> <strong>sozial</strong> <strong>engagiert</strong><br />
Wie der Zivildienst Lebenswege verändern kann<br />
Vom Bergwerk zur Jugendhilfe<br />
Es gibt besondere Biografien. Abwechslungsreich und<br />
spannend wie ein guter Roman. Werner Opitz, ehemaliger<br />
Vorstand bei der Gustav Werner Stiftung (der<br />
heutigen <strong>BruderhausDiakonie</strong>), hat so eine Biografie.<br />
Und wenn er damals, in den 60er Jahren des letzten<br />
Jahrhunderts, nicht den Kriegsdienst verweigert und<br />
Zivildienst geleistet hätte, wäre sein Leben womöglich<br />
ganz anders verlaufen …<br />
Anfang 1960: Die gesetzliche Grundlage für den<br />
Wehrersatzdienst tritt in Kraft. Auf diesen Moment<br />
hat der 20-jährige, politisch interessierte Bergmann<br />
gewartet. Als einer der Ersten macht er von seinem<br />
Recht Gebrauch und verweigert. Der gelernte Maschinenschlosser<br />
arbeitet zu diesem Zeitpunkt in<br />
einem Steinkohlebergwerk im Ruhrgebiet. Ihm ist<br />
klar, dass der Bergbau keine Zukunft hat. Im Januar<br />
1962 wechselt Werner Opitz ins Kernforschungszentrum<br />
Karlsruhe, als Techniker im Sicherheitsbereich.<br />
Im Mai ist das Verfahren, das über seine Anerkennung<br />
als Kriegsdienstverweigerer entscheiden soll.<br />
Zweieinhalb Stunden steht Werner Opitz Rede und<br />
Antwort, argumentiert mit seinem Gewissen – und<br />
überzeugt. Im Juli 1963 zieht er ins oberschwäbische<br />
Wilhelmsdorf, der Zivildienst ist gerade von zwölf auf<br />
18 Monate verlängert worden. In der Wilhelmsdorfer<br />
Gehörlosenschule ist er der erste Zivi und, abgesehen<br />
vom Hausmeister, der einzige Mann. Er betreut<br />
sechs- bis 16-jährige Jungen, die bei ihm toben und<br />
klettern dürfen, lernt eine Menge über den Umgang<br />
mit Kindern und Jugendlichen und stößt schließlich<br />
auf Dietrich Bonhoeffer, dessen Persönlichkeit und<br />
Theologie ihn tief beeindrucken. Es sei eine schöne,<br />
wertvolle und prägende Zeit gewesen, wird er sich<br />
später an seinen Zivildienst erinnern.<br />
„Diese Zeit ist ein Gewinn“<br />
Thomas Niethammer könnte ein bequemeres Leben<br />
führen – als Miteigentümer eines kleinen, lukrativen<br />
Unternehmens in Reutlingen, das sein Vater einst<br />
aufgebaut hatte. Die Arbeit in dem grafischen Betrieb<br />
würde ihm sogar Spaß machen, beteuert der gelernte<br />
Industriekaufmann. Dass er, anders als sein ältester<br />
Bruder, nicht in den Familienbetrieb eingestiegen ist,<br />
hat andere Gründe. „Der Zivildienst in Mariaberg hat<br />
meinem Leben eine neue Weichenstellung gegeben.“<br />
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 4 | 2010<br />
Anfang 1965 setzt Werner Opitz seine Arbeit im<br />
Kernforschungszentrum Karlsruhe fort. Bei einer vom<br />
Landesjugendring organisierten Reise durch Israel<br />
macht er im Kinderheim von Haifa eine erstaunliche<br />
Entdeckung. Obwohl er ihre Sprache nicht spricht,<br />
fliegen ihm im Nu die Herzen der Kinder zu. Auf einmal<br />
weiß er, wo sein Platz ist. In Reutlingen macht er<br />
eine dreijährige Ausbildung zum Heimerzieher und<br />
Diplom-Sozialpädagogen, die er 1968 abschließt. Mit<br />
seiner Frau zusammen übernimmt er danach das Jugendhaus<br />
der Stadt Reutlingen und verwandelt es in<br />
eine attraktive Jugendeinrichtung. 1970 tritt das Ehepaar<br />
in den Dienst der Gustav Werner Stiftung. Zwölf<br />
Jahre widmet sich Werner Opitz der Neugestaltung<br />
des Kinderheims und der Schule für Erziehungshilfe<br />
in Loßburg-Rodt. Eine klare Linie und transparente<br />
Strukturen kennzeichnen seinen Arbeitsstil. Von 1981<br />
bis 1992 ist er Bereichsleiter für Jugendhilfe und<br />
Zivildienst in Reutlingen. Ab 1993 ist er Vorstand für<br />
Jugendhilfe, Behindertenhilfe und Zivildienst, bis er<br />
2000 in Altersteilzeit geht.<br />
Neben seiner beruflichen Arbeit hat Werner Opitz<br />
immer auch ehrenamtlich auf Bundes- und Landesebene<br />
mitgewirkt: in Fachverbänden der EKD und des<br />
Diakonischen Werks etwa und an der Fachhochschule<br />
für Sozialpädagogik in Reutlingen. „Ich habe mein<br />
Berufsleben genossen – trotz aller Belastung“, sagt<br />
der 70-Jährige rückblickend. „Doch ohne den Zivildienst<br />
wäre ich wahrscheinlich Techniker geblieben“,<br />
vermutet er. Und was sollen junge Männer tun, wenn<br />
es den Zivildienst nächstes Jahr nicht mehr gibt?<br />
„Ein Freiwilliges Soziales Jahr“, rät Werner Opitz,<br />
„weil es die Persönlichkeit prägt, und wenn es nur für<br />
die eigene Familie ist.“ kaw Z<br />
Dass er den Wehrdienst verweigern würde, stand<br />
für Thomas Niethammer fest. „Ich war überzeugter<br />
Antimilitarist.“ Abgeschreckt durch die unverarbeiteten<br />
Kriegserlebnisse seines Vaters, über die in der<br />
Familie nicht gesprochen wurde, kam für den damals<br />
19-Jährigen nur ein gewaltfreier Weg in Frage. Da<br />
er aus einem pietistischen Elternhaus stammte,<br />
konnte er glaubhaft auf religiöse Motive verweisen.<br />
„Dazu kam meine <strong>sozial</strong>politische Leidenschaft.“ Der
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 4 | 2010 <strong>Zwanglos</strong> <strong>sozial</strong> <strong>engagiert</strong><br />
TITELTHEMA<br />
junge Mann hatte die Studentenunruhen von 1968<br />
aufmerksam verfolgt und spürte die Aufbruchstimmung,<br />
die davon ausging. „Nur“ Geld zu verdienen,<br />
erschien ihm bald zu banal.<br />
„Ich wollte den gesellschaftlichen Aufbruch mitgestalten.“<br />
Dieser Leitgedanke zieht sich wie ein roter<br />
Faden durch sein Leben. 1972/73 leistet Thomas<br />
Niethammer seinen 18-monatigen Zivildienst im<br />
Jugendhilfebereich von Mariaberg in Gammertingen.<br />
Betreut dort erst 13- bis 16-jährige Jungs, zu denen<br />
er einen guten Draht hat, dann fünf- bis achtjährige<br />
Buben. Beginnt als Zivi eine Ausbildung zum Heilerziehungspfleger.<br />
Baut nach dem Zivildienst Betreutes<br />
Jugendwohnen und Elternarbeit auf, lässt sich in klientenzentrierter<br />
Beratung ausbilden. „Das Entwicklungspotenzial<br />
war enorm. Ich konnte etwas ganz<br />
Neues gestalten. Das war meine treibende Kraft.“<br />
Sein Gestaltungswille lässt ihn 1982 nach Reutlingen<br />
zur Gustav Werner Stiftung, der heutigen <strong>BruderhausDiakonie</strong>,<br />
wechseln. „Damals gab es noch<br />
Frauen- und Männerhäuser mit Riesengruppen und<br />
Vier-Bett-Zimmern. Zwischen Menschen mit geistiger<br />
Zivildienst als Lebensschule<br />
Als Sven Graul nach dem Abitur die Schule verlässt,<br />
hat er ein klares berufliches Ziel. Er will Betriebswirt<br />
werden. Zu diesem Zweck studiert er Betriebswirtschaftslehre<br />
an der Berufsakademie in Heidenheim.<br />
Praktische Erfahrungen sammelt er während des<br />
Studiums bei einem Hersteller von Heimtextilien<br />
in Laichingen. Dort wäre er nach erfolgreich beendetem<br />
Studium wohl geblieben, wäre da nicht der<br />
Einberufungsbescheid gewesen. Obwohl sein Vater<br />
Berufssoldat ist, kommt für den Sohn der militärische<br />
Dienst nicht in Betracht. „Aus christlichen Motiven. Es<br />
hätte meinem Glauben widersprochen“, betont der<br />
44-Jährige. Ein Brief mit einer deutlichen Begründung<br />
genügt. Ende 1989 tritt Sven Graul seinen Zivildienst<br />
beim Oberlin-Jugendhilfeverbund der Gustav Werner<br />
Stiftung, der heutigen <strong>BruderhausDiakonie</strong>, an.<br />
15 Monate arbeitet er in einer Wohngruppe, zu der<br />
acht Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 18<br />
Jahren gehören. Der Zivildienst ist für den damals<br />
22-Jährigen „wie eine Lebensschule“. Zwar hat er als<br />
Gymnasiast die kirchliche Jugendarbeit mitgestaltet.<br />
Wie man mit Kindern und Jugendlichen aus schwierigen<br />
familiären Verhältnissen umgeht, ist jedoch völliges<br />
Neuland für ihn. „Ich habe viel beobachtet und<br />
nachgefragt und dadurch unheimlich viel gelernt“,<br />
erinnert er sich. Geholfen hat ihm, dass er von den<br />
Behinderung und Menschen mit psychischer Erkrankung<br />
wurde nicht differenziert.“ Mit seiner Hilfe<br />
verwandelt sich das archaische Bruderhaus Gaisbühl<br />
in eine zeitgemäße Einrichtung für Menschen mit<br />
psychischer Erkrankung, deren Leitung Thomas Niethammer<br />
1987 übernimmt. Im Jahr 2000 wird aus<br />
dem Bruderhaus Gaisbühl und dem Friedrich-Naumann-Haus<br />
im Stadtzentrum der Sozialpsychiatrische<br />
Wohnverbund mit stationären und zunehmend<br />
ambulanten Wohnangeboten. Thomas Niethammer<br />
leitet den Wohnverbund bis 2005. Seither ist er für<br />
die Veränderungsprozesse in der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />
Buttenhausen verantwortlich. Die fachlichen Themen<br />
heißen heute dezentralisieren, regionalisieren, Standort<br />
sichern. Niethammers Lebensthema heißt nach<br />
wie vor aufbrechen, anpacken, gestalten.<br />
Der 57-Jährige ist mehr denn je überzeugt, „dass<br />
<strong>sozial</strong>es Lernen jungen Menschen ein hohes Maß an<br />
<strong>sozial</strong>en Kompetenzen vermittelt, die auch Führungskräfte<br />
in der Industrie heute dringend benötigen“. Ob<br />
Zivildienst oder freiwilliges <strong>sozial</strong>es Jahr: „Diese Zeit<br />
ist ein großer Gewinn.“ kaw Z<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern „nicht als kleiner<br />
Gehilfe“, sondern „immer als vollwertiger Mitarbeiter“<br />
betrachtet wurde. „Was ich zu den Jugendlichen<br />
gesagt habe, das galt.“ Sven Graul war ihr Ansprechpartner,<br />
strukturierte ihren Tagesablauf, half bei den<br />
Hausaufgaben, spielte mit den Kindern, ging mit<br />
ihnen zum Arzt, kochte mit ihnen und brachte sie ins<br />
Bett. „Es war eine intensive und schöne Zeit.“<br />
Sven Graul kehrt nicht als Betriebswirt nach Laichingen<br />
zurück. Direkt nach dem Zivildienst studiert er<br />
Sozialpädagogik in Reutlingen bis 1995 und arbeitet<br />
nebenher in der Wohngruppe weiter. Im selben Jahr<br />
noch bekommt er eine Stelle als Jugendreferent beim<br />
CVJM in Münsingen, wo er zwei Aufgaben hat: die<br />
kirchliche Jugendarbeit und die Jugend<strong>sozial</strong>arbeit<br />
mit jungen Russlanddeutschen. Sven Graul gründet<br />
gemischte Jugendkreise, zu denen regelmäßig 50<br />
bis 60 Jugendliche kommen. Im Jahr 2000 stellt sich<br />
der Familienvater einer neuen Herausforderung.<br />
In der <strong>BruderhausDiakonie</strong> Buttenhausen baut er<br />
das Ambulant Betreute Wohnen für Menschen mit<br />
psychischer Erkrankung auf. Seit 2001 leitet er den<br />
Jugendmigrationsdienst in Münsingen, macht mobile<br />
Jugendarbeit, Streetwork und Schul<strong>sozial</strong>arbeit. Das<br />
BWL-Studium war trotzdem nützlich: „Es kommt mir<br />
bei der Verwaltungsarbeit zugute.“ kaw Z<br />
Sven Graul leitet<br />
den Jugendmigrationsdienst<br />
in<br />
Münsingen<br />
7
8<br />
TITELTHEMA <strong>Zwanglos</strong> <strong>sozial</strong> <strong>engagiert</strong><br />
Paul-Stefan Roß:<br />
Freiwillige gewinnt<br />
man nicht einfach<br />
so nebenbei<br />
Freiwilliges Engagement<br />
Ehrenamt statt Zivildienst?<br />
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 4 | 2010<br />
Menschen, die sich freiwillig engagieren, gehören seit jeher zur <strong>sozial</strong>en<br />
Arbeit. Ob sie die Lücken füllen können, die der Zivildienst hinterlässt, sieht<br />
der Stuttgarter Professor Paul-Stefan Roß skeptisch.<br />
„Wenn der Wegfall des Zivildienstes dazu führen<br />
würde, die Anstrengungen fürs freiwillige Engagement<br />
zu erhöhen, wäre das sicherlich kein schlechter<br />
Effekt“, sagt Paul-Stefan Roß von der Dualen Hochschule<br />
Baden-Württemberg in Stuttgart. Der Professor<br />
kennt sich aus mit dem sogenannten freiwilligen<br />
<strong>sozial</strong>en Engagement: Bereits seit vielen Jahren<br />
untersucht er die Arbeit mit freiwillig Engagierten,<br />
unter anderem in der <strong>BruderhausDiakonie</strong>.<br />
Den Gedanken, die fehlenden Zivis durch Freiwillige<br />
ersetzen zu wollen, beurteilt er allerdings mehr als<br />
skeptisch. Zwar zeigten etwa die Untersuchungen<br />
in den Einrichtungen der <strong>BruderhausDiakonie</strong>, dass<br />
es durchaus gelingen kann, mit einer geplanten<br />
und guten Freiwilligenarbeit tatsächlich auch mehr<br />
Menschen zu gewinnen, die bereit sind, sich <strong>sozial</strong> zu<br />
engagieren. „Aber jetzt drauf zu schauen, ob man mit<br />
freiwilligem Engagement kompensieren kann, was<br />
mit dem Zivildienst wegfällt, finde ich schwierig – da<br />
werden Äpfel mit Birnen verglichen.“<br />
Denn die Zivildienstleistenden sind oft für Tätigkeiten<br />
eingesetzt worden, für die sich erfahrungsgemäß<br />
kaum Freiwillige gewinnen lassen – Hausmeistertätigkeiten<br />
etwa oder Fahrdienste. Und noch wichtiger:<br />
Der Zivildienst war keine freiwillige Angelegenheit,<br />
sondern ein staatlicher Zwangsdienst mit festen Regeln<br />
und genau festgelegter Dauer – wie bei einem<br />
Arbeitsverhältnis.<br />
Das hatte für die <strong>sozial</strong>en Einrichtungen den Vorteil,<br />
den Einsatz von Zivildienstleistenden einigermaßen<br />
zuverlässig planen zu können. Der Einsatz von Freiwilligen<br />
dagegen ist nicht so einfach planbar: Ein<br />
großer Teil der Menschen, die sich freiwillig engagieren,<br />
tut das ein paar Mal im Monat oder einmal<br />
pro Woche. Und viele Menschen beteiligen sich eher<br />
punktuell an einzelnen Aktionen. Freiwilliges Engagement,<br />
weiß Roß aus seinen Untersuchungen, ist zwar<br />
in der Regel zuverlässig. „Aber die Zeiträume, die vereinbart<br />
werden, sind einfach kürzer – das heißt: Eine<br />
Einrichtung kann die Freiwilligen nicht einfach fest<br />
einplanen.“<br />
Davon unterscheiden sich die organisierten Freiwilligendienste<br />
wie das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) oder<br />
das Freiwillige Ökologische Jahr (FÖJ) – und auch der<br />
künftige Bundesfreiwilligendienst – grundlegend. Sie<br />
bieten den <strong>sozial</strong>en Einrichtungen bessere Planbarkeit:<br />
In der Regel dauern sie ein Jahr. „Da weiß man<br />
halt: Wenn nichts Besonderes passiert, hat man einen<br />
Menschen für ein Jahr und in einem bestimmten<br />
Stundenumfang da.“<br />
Sie kosten aber auch mehr als der Einsatz von Ehrenamtlichen,<br />
die in der Regel unentgeltlich tätig sind –<br />
und vor allem sprechen sie andere Gruppen von<br />
Menschen an: Die organisierten Freiwilligendienste<br />
dienen oft der biografischen Orientierung. „So ein<br />
Dienst ist eine gewisse Lebensphase und ersetzt sozusagen<br />
eine Berufstätigkeit“, erläutert Paul-Stefan<br />
Roß. Das Ehrenamt oder freiwillige <strong>sozial</strong>e Engagement<br />
wird dagegen eher als Ausgleich und Ergänzung<br />
zum Beruf begriffen oder als Aufgabe nach dem<br />
Berufsleben.<br />
Eine wesentliche Erkenntnis aus den Untersuchungen,<br />
die der Professor bei der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />
angestellt hat, ist die: Um Freiwillige zu gewinnen,<br />
braucht es eine gute und professionelle Freiwilligenarbeit.<br />
Freiwillige gewinne man nicht „einfach so nebenbei“,<br />
hat Roß festgestellt. „Das ist eine Aufgabe,<br />
die eine eigene Fachlichkeit erfordert und auch einen<br />
gewissen Ressourcen-Einsatz – vor allem an Zeit<br />
seitens Hauptberuflicher.“ Denn Freiwillige schauen<br />
nach Roß’ Erkenntnis schon: Wo sind die Rahmenbedingungen<br />
gut? Wo erfahre ich eine gewisse Wertschätzung?<br />
Wo habe ich das Gefühl, ich laufe nur als<br />
eine Art Hilfsarbeiter mit?<br />
Konkurrenz zwischen den verschiedenen Feldern, in<br />
denen freiwilliges Engagement gefragt ist, befürchtet<br />
Roß allerdings nicht so sehr: Er habe die Erfahrung<br />
gemacht, dass unterschiedliche Aufgaben unterschiedliche<br />
Menschen ansprechen: „Das Engagement<br />
bei der Feuerwehr steht nicht unbedingt in direkter<br />
Konkurrenz zu der Betreuung eines psychisch<br />
Kranken.“ msk Z
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 4 | 2010<br />
Lothar Bauer:<br />
Orte für den Dienst an der Gemeinschaft erhalten<br />
„Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann, frage,<br />
was Du für Dein Land tun kannst.“ So forderte einst<br />
John F. Kennedy.<br />
Für frühere Generationen war es selbstverständlich,<br />
dass man sich für die Gemeinschaft einzusetzen<br />
hatte. In meiner Heimatgemeinde gab es einst einen<br />
„Fronmeister“. Die Gemeinde betrieb einen sogenannten<br />
Farrenstall, in dem der gemeindeeigene<br />
Zuchtbulle gehalten wurde. Es waren dafür eigene<br />
Felder vorhanden. Auch Gemeindewälder gab es. Das<br />
alles, ebenso wie der Unterhalt der Gemeindestraßen<br />
und -wege, wurde nicht mit hauptamtlichem Personal<br />
betrieben oder an Unternehmer vergeben. Dazu<br />
fehlte das Geld. Diese Einrichtungen zu unterhalten,<br />
war Aufgabe der Bürger, und der Fronmeister teilte<br />
sie zur Gemeindearbeit ein. Es war selbstverständlich,<br />
dass man mit mehr oder weniger Murren etwas „für<br />
sein Land“, sprich für seine Gemeinde, zu tun hatte.<br />
Und siehe da: In der Gemeindeordnung des Landes<br />
Baden-Württemberg ist zu lesen, dass auch noch<br />
heute die Einwohner von ihren Gemeinden „für eine<br />
bestimmte Zeit zur Mitwirkung bei der Erfüllung<br />
vordringlicher Pflichtaufgaben und für Notfälle zu<br />
Gemeindediensten (Hand- und Spanndienste)“ verpflichtet<br />
werden können (§10,5). Also, lieber Leser,<br />
ziehen Sie den Hut tiefer ins Gesicht, wenn Sie das<br />
nächste Mal ihrem Bürgermeister begegnen. Sie<br />
könnten verpflichtet werden.<br />
Die Militärpflicht war der weitestgehende Dienst für<br />
die Allgemeinheit – zumindest für die Männer – und<br />
ist es bis heute. Vom Mann wurde erwartet, dass er<br />
im Zweifel für die Gemeinschaft auch sein Leben in<br />
die Schanze wirft. Mehr hat keiner zu geben. Über<br />
den Missbrauch, der vor allem im letzten großen<br />
Krieg mit dem Gemeinsinn und der Opferbereitschaft<br />
der Menschen getrieben wurde, brauchen wir hier<br />
nicht weiter zu reden.<br />
Die Bundesregierung hat die Aussetzung des Wehrdienstes<br />
beschlossen. Mit dem Ende des Wehrdiens-<br />
KOLUMNE<br />
Pfarrer Lothar<br />
Bauer, Vorstandsvorsitzender<br />
der<br />
<strong>BruderhausDiakonie</strong><br />
tes wird es auch den zivilen Ersatzdienst nicht mehr<br />
geben, den die Verfassungsväter im Sinne des Gewissensschutzes<br />
nach den Erfahrungen im Dritten Reich<br />
an den Wehrdienst gekoppelt hatten. Damit wird<br />
auch dieser besondere „Gemeinschaftsdienst“, der<br />
unserem Land viel Ehre gemacht hat, aus dem Leben<br />
der jungen Männer verschwinden und der Begriff des<br />
„Dienstes“ einen Ort verlieren, den er im Bewusstsein<br />
der Menschen hatte. Die kommunalen Gemeinschaftsdienste<br />
sind seit Jahrzehnten überwiegend<br />
verschwunden, und nur noch in der Gemeindeordnung<br />
findet sich eine Erinnerung an sie, so wie der<br />
Blinddarm an eine frühere Evolutionsstufe erinnert.<br />
Ein gesellschaftlicher Pflichtdienst ist bei uns nicht<br />
diskussionsfähig. Die Frage, wo das Thema des<br />
Dienstes für die<br />
Gemeinschaft<br />
Ein gesellschaftlicher Pflichtdienst<br />
insbesondere in<br />
einer sehr indi- ist bei uns nicht diskussionsfähig<br />
vidualisierten<br />
Gesellschaft seinen Ort hat, gerade auch im Sozialisationsprozess<br />
von jungen Menschen, sollte uns aber<br />
weiter beschäftigen.<br />
Die <strong>sozial</strong>en Einrichtungen kommen durch den Wegfall<br />
des Zivildienstes in Nöte. In der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />
werden 100 junge Männer fehlen, die in der<br />
Betreuung, in der Pflege, in Funktionsdiensten tätig<br />
sind. Dass diese Zahlen ohne weiteres durch freiwillige<br />
Dienste ausgeglichen werden können, scheint mir<br />
unrealistisch. Die Wirtschaftskrise und die kommunale<br />
Finanzlage hinterlassen Spuren in der <strong>sozial</strong>en<br />
Arbeit. Nun fallen auch noch die Zivis aus. Das kann<br />
von Trägern wie der <strong>BruderhausDiakonie</strong> nicht kompensiert<br />
werden. Es ist notwendig, dass die Mittel,<br />
die für den Zivildienst eingesetzt werden, auch künftig<br />
für die <strong>sozial</strong>e Arbeit zur Verfügung stehen. Der<br />
Ort, an dem junge Menschen etwas für ihr Land, für<br />
die Gemeinschaft tun können, sollte so gut wie möglich<br />
erhalten werden.<br />
9
10<br />
AKTUELL<br />
Mangelnde Bildung<br />
hat mit dem<br />
<strong>sozial</strong>en Milieu zu<br />
tun, nicht mit der<br />
Religion, sagen<br />
Bayram Ceran<br />
(links) und Andreas<br />
Foitzik<br />
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 4 | 2010<br />
Migrationsdebatte<br />
Integrationsunfähig oder ausgegrenzt?<br />
Deutschland diskutiert über die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund.<br />
Im Blickpunkt stehen vor allem Muslime. Sie gelten vielen als integra-<br />
tionsunwillig. Andreas Foitzik und Bayram Ceran vom Jugendmigrationsdienst<br />
der <strong>BruderhausDiakonie</strong> wissen es besser.<br />
Der Ärger ist Andreas Foitzik deutlich anzumerken.<br />
„So eine Debatte wirft uns um Jahre zurück“, sagt er.<br />
Gemeint ist die erhitzte Diskussion über Muslime in<br />
Deutschland, über nicht integrationsfähige und nicht<br />
integrationswillige Einwanderer. Entzündet hat sie<br />
sich an einem Buch des ehemaligen Berliner Finanzsenators<br />
und Bundesbankvorstands Thilo Sarrazin.<br />
Foitzik leitet den Jugendmigrationsdienst der <strong>BruderhausDiakonie</strong>,<br />
eine Einrichtung, die sich im Kreis<br />
Reutlingen und im Altkreis Nürtingen vorwiegend<br />
um junge Menschen mit Migrationshintergrund<br />
kümmert. Wenn es denn ein Verdienst Thilo Sarrazins<br />
wäre, die Integrationsdebatte erneut angestoßen zu<br />
haben, dann wäre der Preis dafür deutlich zu hoch, ist<br />
Foitzik überzeugt. Denn der Ton der Polemik, die sich<br />
durch die Medien zieht, ist schrill: Die Integrationspolitik<br />
der Vergangenheit sei gescheitert, wird behauptet.<br />
Das Klima zwischen Deutschen und Migranten<br />
werde immer schlechter. Vor allem Migranten muslimischen<br />
Glaubens verweigerten beharrlich die Integration<br />
in die Mehrheitsgesellschaft, sie wollten mit<br />
Deutschen nichts zu tun haben.<br />
Sie seien politisch rückständig,<br />
religiös intolerant und hätten<br />
ein schwieriges Verhältnis zur<br />
Demokratie. Und sie seien meist<br />
ungebildet und richteten sich in<br />
Parallelgesellschaften ein, statt<br />
sich selbst um Bildung und Integration<br />
zu bemühen.<br />
„Das ist eine sehr harte Debatte, die viele Schichten<br />
trifft“, weiß der Sozialarbeiter Bayram Ceran, der<br />
beim Reutlinger Jugendmigrationsdienst die Kontakte<br />
zu Migrantenvereinen pflegt und an Schulen<br />
versucht, Kontakte und gegenseitiges Verständnis<br />
herzustellen zwischen Lehrern und Eltern mit Migrationshintergrund.<br />
Im Moment, so Ceran, erzählen<br />
selbst gut ausgebildete Akademiker mit türkischen<br />
Wurzeln von Ausgrenzung und Ablehnung. Und<br />
Jugendliche sprechen davon, dass sie sich als nicht<br />
mehr dazugehörig empfinden.<br />
„Der Netzwerkarbeit der Migrantenvereine zur Integration<br />
wurde durch die Debatte ein Dämpfer<br />
versetzt“, hat Ceran den Eindruck. Dabei setzten die<br />
Vereine sehr auf Begegnungen mit Deutschen.<br />
Foitzik und Ceran erleben einen deutlichen Unterschied<br />
zwischen dem, was an Debattenbeiträgen<br />
durch die Medien geistert, und ihrer täglichen Arbeit.<br />
Klar fehle es oft an Bildung in Migrantenfamilien.<br />
Aber, so wissen beide, mangelnde Bildung hat mit<br />
bestimmten <strong>sozial</strong>en Milieus zu tun, die gerne als<br />
bildungsfern bezeichnet werden – nicht mit der<br />
muslimischen Religionszugehörigkeit, wie viele behaupten.<br />
„In diesen Milieus gibt es zu vergleichbaren<br />
deutschen Gruppen keine Unterschiede“, betont Andreas<br />
Foitzik, „außer dem, dass Menschen mit muslimischem<br />
Hintergrund zunehmend einer antimuslimischen<br />
Haltung ausgesetzt sind – das allerdings<br />
schmälert ihre Bildungschancen zusätzlich.“<br />
Bayram Ceran hält es für ein großes Missverständnis,<br />
wenn unterstellt wird, türkische Familien wären nicht<br />
bildungsinteressiert: „Die haben oft nur keine konkrete<br />
Vorstellung, wie sie ihre Kinder unterstützen<br />
können“, sagt er. „Interpretiert wird dann: Die wollen<br />
nicht.“ Deshalb vermittelt Bayram Ceran Hausbesuche<br />
von Lehrern bei Migrantenfamilien. Oder er<br />
organisiert Väter-und-Söhne-Wochenenden an einer<br />
Reutlinger Realschule. Oder er unterstützt Ansprechpartner<br />
in den Migrantenvereinen: Kürzlich hat ein<br />
türkischer Verein mit Hilfe des Jugendmigrationsdienstes<br />
im Vereinsheim eine Leseecke eingerichtet.<br />
Dort laden türkischstämmige und deutsche Referenten,<br />
Vorleser und Autoren Kinder und Erwachsene<br />
ein, sich mit Büchern zu beschäftigen.<br />
Derzeit ist der Jugendmigrationsdienst der Bruder-<br />
hausDiakonie allein im Kreis Reutlingen in 15 Schulen<br />
tätig, rund 200 Jugendliche werden regelmäßig<br />
und intensiv einzeln betreut. Dennoch weiß Andreas<br />
Foitzik auch: „Die Pädagogik ist in gewisser Weise<br />
ohnmächtig gegenüber der Medienrealität.“ Die<br />
BILD-Zeitung hat im Zweifelsfall eben die stärkeren<br />
Bilder. msk Z
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 4 | 2010<br />
Münsingen<br />
Ausweg für die Angehörigen<br />
Gibt’s das? Eine Ganztagesbetreuung von Montag bis Freitag für Menschen mit<br />
eingeschränkter Alltagskompetenz. Teilstationär und als niederschwelliges Angebot<br />
von der Pflegekasse mitfinanziert. Ja, das gibt’s. Bei der Diakoniegesellschaft Münsinger<br />
Alb, deren Träger die <strong>BruderhausDiakonie</strong> und die Samariterstiftung sind.<br />
Man kommt herein und ist mittendrin. Steht in einem<br />
großen, hellen, in herbstlichen Farben dekorierten<br />
Raum, in dem nichts an den ehemaligen Schle-<br />
cker-Markt erinnert. Hört das lebhafte Gemurmel<br />
und fröhliche Gelächter von Menschen, deren Runzeln<br />
wie die Jahresringe eines Baumstammes das<br />
fortgeschrittene Alter verraten. Der Tisch ist einladend<br />
gedeckt. Es gibt Kaffee und Kuchen. Die Gäste<br />
lächeln erwartungsvoll. Eine ältere Frau, deren graue<br />
Haare widerspenstig vom Kopf abstehen, wirkt ein<br />
wenig unruhig. Ihre Augen sind gerötet, als hätte sie<br />
geweint. Aus ihrer Kehle dringen hohe, unverständliche<br />
Laute. Sprechen kann sie nicht mehr. Zu weit ist<br />
die Erkrankung fortgeschritten, die im Gehirn irreversible<br />
Spuren hinterlässt.<br />
Trude Herb (Name geändert) war 60, als die Diagnose<br />
Demenz ihr Leben und das ihres Ehemannes auf den<br />
Kopf stellte. Seit zehn Jahren kümmert er sich um sie,<br />
seit einem guten halben Jahr mit Unterstützung der<br />
Diakoniegesellschaft Münsinger Alb. Wegen großer<br />
Nachfrage und im Hinblick auf die demografische<br />
Entwicklung bietet diese seit Mai eine Ganztagesbetreuung<br />
für Menschen mit Demenz, mit psychischen<br />
Erkrankungen oder geistigen Behinderungen an.<br />
Trude Herb und ihr Mann kamen am Eröffnungstag<br />
als Erste. „Um neun standen die beiden vor der Tür“,<br />
erinnert sich der Leiter der Diakoniegesellschaft, Lothar<br />
Schnizer. „Der Mann war angespannt und sichtlich<br />
überfordert.“ Für ihn erwies sich das Angebot<br />
als rettender Ausweg aus seiner Not. Zwei Tage pro<br />
Woche verbringt seine Frau in der Betreuungsgruppe<br />
– von Fachkräften und Freiwilligen liebevoll umsorgt.<br />
Ihr Mann nutzt die Zeit, um sich im Thermalbad, auf<br />
dem Motorrad oder in seiner Hobbywerkstatt vom<br />
anstrengenden Alltag an der Seite eines demenzkranken<br />
Menschen zu erholen. „Er hat sich positiv<br />
verändert“, sagt Lothar Schnizer, dem die Entlastung<br />
der Angehörigen ein großes Anliegen ist. Seine Kunden<br />
können feste Tage buchen. Sie können aber auch<br />
jede Woche neu entscheiden, an welchem Tag und<br />
für wie viele Stunden sie die Betreuung in Anspruch<br />
nehmen – in Notfällen auch von jetzt auf gleich.<br />
Dieser von Flexibilität und Spontaneität geprägte<br />
Geist wirkt sich positiv<br />
auf die Stimmung<br />
aus. Die Gäste wirken<br />
entspannt, jeder darf<br />
so sein, wie er ist. Nachdem<br />
Tassen und Teller<br />
abgeräumt sind, verteilt<br />
Carolin Witt rote Liederhefte.<br />
Die Ergotherapeutin<br />
und Leiterin der<br />
Tagesbetreuung weiß, wie wichtig das Singen für die<br />
Gäste ist. Fast alle haben früher im Chor gesungen<br />
und kennen die Volkslieder teilweise noch auswendig.<br />
Trude Herb kann zwar nicht mitsingen, aber sie<br />
kann mitsummen, mitschunkeln und mitklatschen.<br />
Sie kann auch Bälle fangen und bei der Gymnastik<br />
ihren Körper spüren. Wie hatte Carolin Witt gesagt:<br />
„Wir fördern vorhandene Fähigkeiten, statt die Menschen<br />
mit ihren Schwächen zu konfrontieren.“<br />
Die Tagesbetreuung hat noch weitere Vorteile. Sie<br />
fördert <strong>sozial</strong>e Kontakte und trägt dazu bei, dass die<br />
Betroffenen nicht so schnell ins Pflegeheim müssen.<br />
Die älteste Teilnehmerin, eine 92 Jahre alte Frau, lebt<br />
mit Unterstützung des ambulanten Pflegedienstes<br />
der Diakoniegesellschaft allein in ihrer Wohnung.<br />
Dreimal pro Woche nimmt sie das Ganztagsangebot<br />
wahr – das in dieser Form, so Lothar Schnizer, einzigartig<br />
in Baden-Württemberg sei. Der Leiter der Diakoniegesellschaft<br />
hat ehrgeizige Pläne. Bis Ende 2011<br />
soll es in Münsingen ein Kompetenzzentrum Demenz<br />
geben, das professionelle Beratung und gezielte ergo-<br />
therapeutische Behandlung vereinen soll. Ziel sei es,<br />
die Krankheit zu verzögern und damit die Lebensqualität<br />
zu steigern.<br />
Trude Herb sind solche Pläne egal. Hauptsache, für sie<br />
bleibt alles so, wie es ist. Mit vertrauten Menschen,<br />
wohltuenden Ritualen und einem treu sorgenden<br />
Mann, der sie nach einem anregenden Tag wieder mit<br />
nach Hause nimmt kaw Z<br />
REGIONEN<br />
Beim Singen und<br />
Schunkeln fühlen<br />
sich die Gäste<br />
wohl<br />
11
12<br />
REGIONEN<br />
Auf dem Weg zur<br />
Selbstständigkeit<br />
braucht es Zeit<br />
und Geduld<br />
Pfullingen<br />
Weiter Weg in die Selbstständigkeit<br />
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 4 | 2010<br />
In der Wohngemeinschaft Christofstraße in Pfullingen können bis zu acht junge<br />
Menschen mit psychischen Erkrankungen versorgt werden. Seit kurzem bieten<br />
die Sozialpsychiatrischen Hilfen vier weitere WG-Plätze und ein Unterstützungszentrum<br />
im Elisenweg an. Doch der Weg in die Selbstständigkeit ist weit.<br />
Dieses Mal kann fast nichts schief gehen. Alles ist<br />
sorgfältig geplant und vorbereitet. Außerdem ist er<br />
diesmal nicht allein. Das müsste doch mit dem Teufel<br />
zugehen, wenn … Nein, im Grunde genommen rechnet<br />
Sven P.* nicht mit einem Rückfall. Er fühlt sich<br />
stärker als damals, als er zum ersten Mal die Wohngemeinschaft<br />
in der Pfullinger Christofstraße verließ.<br />
Stärker und motivierter. Das liegt nicht nur an der <strong>engagiert</strong>en<br />
Unterstützung durch die <strong>BruderhausDiakonie</strong>,<br />
an den regelmäßigen Gesprächsterminen in<br />
der Drogenberatungsstelle und an der fachärztlichen<br />
Behandlung. Das liegt auch an einer jungen Frau aus<br />
der Wohngemeinschaft. Gemeinsam mit ihr wagt<br />
der inzwischen 28-Jährige zum zweiten Mal den<br />
Aufbruch aus dem stationären Schutzraum in eine<br />
kleine, ambulant betreute Zwei-Zimmer-Wohnung in<br />
Pfullingen.<br />
„Das ist ein<br />
großer Schritt<br />
zu mehr<br />
Selbstständigkeit“,<br />
findet<br />
Jürgen Leboch,<br />
Bereichsleiter<br />
bei den Sozialpsychiatrischen<br />
Hilfen<br />
der <strong>BruderhausDiakonie</strong>,<br />
und nickt den<br />
beiden anerkennend zu. Soeben haben Sven P. und<br />
Sandra K.* von ihren Umzugsvorbeitungen berichtet.<br />
Es ist Mittwochabend, im Gemeinschaftsraum der<br />
WG findet wie alle 14 Tage die Hausversammlung<br />
statt. „Heute geht’s mir ganz gut“, sagt Sandra K.<br />
„Wir haben einiges hingekriegt. Schränke geputzt<br />
und ausgemistet.“ Sie lächelt sogar ein wenig. Als<br />
17-Jährige war sie an einer Psychose erkrankt. Seit<br />
drei Jahren wird sie von der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />
versorgt. „Ich bin in dieser Zeit psychisch stabiler<br />
geworden“, meint die 26-Jährige. Immerhin so stabil,<br />
dass sie täglich sechs Stunden in der Werkstatt für<br />
psychisch kranke Menschen (WfbM) in Reutlingen arbeitet.<br />
Sven P. ist halbtags im Büroservice der WfbM<br />
beschäftigt. Auch er war mit 17 an einer Psychose<br />
erkrankt, die durch übermäßigen Drogenkonsum<br />
ausgelöst worden war. Seit sie ein Paar sind, unterstützen<br />
sich die jungen Leute gegenseitig. Zu den<br />
Eltern und Geschwistern haben sie gute Beziehungen<br />
bewahrt.<br />
Soviel Glück hat nicht jeder. Jörg S.*, der seit fünf Jahren<br />
in der WG Christofstraße lebt, erzählt eine ganz<br />
andere Geschichte. Aufgewachsen in einem kriminellen<br />
Milieu, zeitweise als Heimkind, sei er bereits als<br />
Siebenjähriger psychisch auffällig gewesen. Mit 16<br />
wurde er zum ersten Mal in eine psychiatrische Klinik<br />
eingewiesen. Die Diagnose: Persönlichkeitsstörung,<br />
emotional instabil, impulsiv und aggressiv. Jörg S.<br />
nahm Drogen, trank Alkohol, saß wegen schweren<br />
Diebstahls und gefährlicher Körperverletzung im<br />
Gefängnis. Durch die Unterstützung der Sozialpsychiatrischen<br />
Hilfen ging es endlich aufwärts. „Ich hab<br />
hier viel gelernt“, meint der 29-Jährige, „und raste<br />
nicht mehr so schnell aus.“ Nur mit der Verlässlichkeit<br />
hapert es noch: Häufig bleibt Jörg S. morgens im<br />
Bett liegen, statt zur Arbeit zu gehen.<br />
„Um Fortschritte machen zu können, braucht es viel<br />
Zeit“, weiß Jürgen Leboch. Wer noch nicht arbeiten<br />
oder eine Ausbildung machen kann, muss in der<br />
Tagesstruktur innerhalb des Hauses unter anderem<br />
hauswirtschaftliche Tätigkeiten übernehmen und<br />
sich mit dem Thema Alltagsplanung und -bewältigung<br />
beschäftigen. Darüber hinaus gibt es Angebote<br />
sportlicher und musischer Art, teilweise von freiwillig<br />
<strong>sozial</strong> <strong>engagiert</strong>en Mitbürgern. Für Jürgen Leboch ist<br />
es eine zentrale Aufgabe, psychisch kranken jungen<br />
Menschen Halt und Orientierung zu geben und sie<br />
so zu stärken, dass sie ihr Leben weitgehend alleine<br />
meistern können. Ein fernes, aber kein unerreichbares<br />
Ziel. Sven P. und Sandra K. sind auf dem besten Weg<br />
dorthin. kaw Z<br />
* Namen von der Redaktion geändert
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 4 | 2010 REGIONEN<br />
Friedrichshafen<br />
Strahlende Augen und schöne Erlebnisse<br />
In Friedrichshafen kommen die Jüngsten und die Ältesten regelmäßig zusammen:<br />
Das Sozialzentrum Wilhelm-Maybach-Stift und das Kinderhaus Habakuk pflegen<br />
seit längerem eine enge Kooperation.<br />
Wie war denn das früher? Was – damals hatte noch<br />
lange nicht jeder Haushalt eine eigene Waschmaschine,<br />
von einem Fernseher oder einem Auto ganz zu<br />
schweigen? Wenn die Mädchen und Jungen aus dem<br />
Friedrichshafener Kinderhaus Habakuk mit den Bewohnerinnen<br />
und Bewohnern des ganz in der Nähe<br />
liegenden Sozialzentrums Wilhelm-Maybach-Stift ins<br />
Gespräch kommen, dann gibt es Spannendes aus der<br />
guten alten Zeit zu erfahren. Man kennt sich, man<br />
mag sich – schließlich trifft man sich in regelmäßigen<br />
Abständen. Das Interesse beruht ganz auf Gegenseitigkeit.<br />
Strahlende Augen bei den Seniorinnen und<br />
Senioren, Erinnerungen an die eigene Kindheit – was<br />
kann es Schöneres geben?<br />
„Pflegebedürftige und demenziell erkrankte ältere<br />
Menschen haben große Freude an der Begegnung<br />
mit Kindern“, sagen Ulrich Gresch, Leiter der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />
in Friedrichshafen, und Sabine Kösler<br />
vom Sozialdienst des Wilhelm-Maybach-Stifts. Die<br />
fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Kinderhaus Habakuk,<br />
die im vergangenen Herbst begann, ist nicht<br />
zuletzt auch dem Engagement der beiden Kinderhaus-Erzieherinnen<br />
Brigitta Baumann und Christine<br />
Bachert zu verdanken.<br />
Von einer Einbahnstraße der Kontakte kann und soll<br />
allerdings keine Rede sein. Warum immer nur auf<br />
Besuch warten? Wie wäre es, wenn die Älteren den<br />
Spieß zwischendurch einfach mal umdrehten, sich<br />
auf einen kleinen – von ehrenamtlichen Mitarbeitern<br />
begleiteten – Spaziergang machten und beim Kindergarten<br />
vorbeischauten? Wenn man andere besucht,<br />
hat man natürlich auch ein Geschenk dabei. Und so<br />
durften sich die Vorschulkinder schon im Sommer<br />
über kleine Schultüten freuen, die von den Senioren<br />
selbst gebastelt wurden. Eine ältere Dame hatte gar<br />
eine Fahne mitgebracht und den Kindern zum Ausmalen<br />
geschenkt.<br />
„Im Kinderhaus sind viele Kinder, deren Familien weit<br />
entfernt von den Großeltern leben und die in ihrem<br />
Lebensalltag wenig oder gar keinen Kontakt zu älteren<br />
Menschen haben“, wissen sowohl Erzieherinnen<br />
als auch Ulrich Gresch und Sabine Kösler. „Deshalb<br />
ist das Zusammentreffen mit Senioren eine Bereicherung<br />
für die Kinder – sie akzeptieren die Bewohner<br />
des Wilhelm-Maybach-Stifts mit allen Stärken und<br />
Schwächen.“ Gemeinsam basteln, zusammen Musik<br />
machen und Volkslieder singen, Märchen hören,<br />
Fingerspiele spielen und natürlich auch zusammen<br />
essen – viele Gelegenheiten werden genutzt, um<br />
Spaß zu haben und für eine herrlich erfrischende<br />
und lebhafte Atmosphäre zu sorgen. Nicht Lärm und<br />
Unruhe, sondern schöne Erlebnisse stehen dabei im<br />
Vordergrund. Dazu gehören spirituelle Momente, die<br />
durchaus auch über den eigenen konfessionellen Tellerrand<br />
hinausweisen. So gestalteten etwa die Mädchen<br />
und Jungen des evangelischen Kindergartens<br />
und die Bewohner des Wilhelm-Maybach-Stifts zum<br />
Fronleichnamsfest einen eigenen Blumenteppich.<br />
Auf halbem Weg stehen bleiben will man in der Kooperation<br />
freilich nicht. Gedacht ist etwa daran, in<br />
naher Zukunft das musiktherapeutische Angebot im<br />
Wilhelm-Maybach-Stift für die Begegnung zu nutzen.<br />
Ein einleuchtender Gedanke: Musik spricht Kinder<br />
und Menschen mit Demenz gleichermaßen an und<br />
kann somit helfen, Brücken zu bauen. Man darf sich<br />
also auf die weitere Zusammenarbeit zwischen Wilhelm-Maybach-Stift<br />
und Kinderhaus Habakuk freuen.<br />
bgh Z<br />
In der Adventszeit<br />
basteln die Kinder<br />
mit den älteren<br />
Damen bunte<br />
Tischleuchten<br />
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14<br />
� NACHRICHTEN<br />
Trafen sich zum<br />
Gespräch: Nils<br />
Schmid, Sigmar<br />
Gabriel, Vorstandsvorsitzender<br />
Lothar Bauer<br />
und Fachlicher<br />
Vorstand Günter<br />
Braun (von links)<br />
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 4 | 2010<br />
SPD-Vorsitzender Gabriel besuchte <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />
Reutlingen – „Eine so ausgeprägt dezentralisierte<br />
Einrichtung wie ihre habe ich noch nie gesehen.“<br />
SPD-Chef Sigmar Gabriel zeigte sich beeindruckt von<br />
den verzweigten und wohnortnahen Strukturen der<br />
<strong>BruderhausDiakonie</strong>, als er sich kürzlich in Reutlingen<br />
zum Gespräch einfand. Aus seiner niedersächsischen<br />
Heimat kenne er vor allem Großeinrichtungen. Und<br />
als er erfuhr, dass der Auto-Pionier Wilhelm Maybach<br />
einst in Gustav Werners Reutlinger Einrichtung<br />
erzogen und ausgebildet wurde, war der ehemalige<br />
Ministerpräsident und VW-Aufsichtsrat vollends<br />
überrascht: „Und ich dachte, ich kenne mich Automobilen<br />
aus.“ Begleitet wurde Gabriel beim Besuch der<br />
<strong>BruderhausDiakonie</strong> vom SPD-Landesvorsitzenden<br />
Nils Schmid und örtlichen SPD-Vertretern.<br />
In den Gesprächen mit Vorstandsmitgliedern und<br />
Fachleuten aus der Jugendhilfe der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />
ging es unter anderem um die Teilhabe von<br />
Ideensträuße aus der BlütenWerkstatt<br />
Münsingen – BlütenWerkstatt nennt die Bruderhaus-<br />
Diakonie Buttenhausen ihr neuestes Projekt in Münsingen.<br />
Nach einer Umbaupause eröffnete kürzlich<br />
die Blumengärtnerei dieses Namens im ehemaligen<br />
Blumenhaus Bader, einem Münsinger Traditionshaus,<br />
das vom Vorbesitzer altershalber aufgegeben wurde.<br />
Die BlütenWerkstatt ist eine Außenstelle der Gärtnerei<br />
in Buttenhausen mit dem Schwerpunkt Floristik.<br />
Der Name sei Programm, sagt Albrecht Goller,<br />
Bereichsleiter Arbeit und Beschäftigung bei der<br />
<strong>BruderhausDiakonie</strong> Buttenhausen. Denn die BlütenWerkstatt<br />
schafft Arbeitsplätze für Menschen<br />
mit Behinderung. Und die sind nötig: Immer mehr<br />
Klienten der <strong>BruderhausDiakonie</strong> Buttenhausen<br />
wohnen in der Stadt oder stadtnah und brauchen<br />
Kindern mit Behinderungen am ganz normalen<br />
Kindergarten- und Schulleben. Darum kümmert sich<br />
im Kreis Reutlingen schon seit Jahren der Fachdienst<br />
FABI (Fachdienst Assistenz, Beratung, Inklusion) der<br />
<strong>BruderhausDiakonie</strong>. Und es ging um die Berufsausbildung<br />
von Jugendlichen mit schwierigen Startbedingungen<br />
in der sogenannten Produktionsschule,<br />
einem Zweig der Reutlinger Wilhelm-Maybach-<br />
Förderberufsschule. Besonders interessiert zeigten<br />
sich Sigmar Gabriel und seine Begleitung am Thema<br />
Inklusion. Mit diesem Begriff umschreiben die Fachleute<br />
die uneingeschränkte Teilhabe von Menschen<br />
mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben.<br />
„Wo sind die größten Defizite bei der Umsetzung der<br />
UN-Behindertenrechtskonvention“, wollte Gabriel<br />
von den Experten der <strong>BruderhausDiakonie</strong> wissen –<br />
und signalisierte, dass ihm die Sozialpolitik nach wie<br />
vor ein Anliegen ist. Auch wenn, wie er nebenbei bemerkte,<br />
dieses Politikfeld heute nicht mehr die große<br />
Chance biete, politische Karriere zu machen. „Der<br />
Bund muss in die Eingliederungshilfe eintreten“, war<br />
eine Erkenntnis, die er am Ende der Gespräche äußerte.<br />
Die sogenannte Eingliederungshilfe finanziert<br />
den größten Teil der Hilfen für Menschen mit Behinderung<br />
und chronisch psychisch kranke Menschen.<br />
Bisher wird sie von den Kommunen getragen und ist<br />
ein bedeutender Posten in deren Sozialhaushalten.<br />
Kommunen und Sozialverbände fordern deshalb<br />
schon lange eine Beteiligung des Bundes an der<br />
Finanzierung der Eingliederungshilfe.<br />
dort geeignete und attraktive Arbeitsplätze. Die<br />
bietet die BlütenWerkstatt in der Fertigung von Blumensträußen<br />
und -gebinden und im Verkauf. Mit<br />
dem sogenannten „Ideenstrauß“-Konzept habe man<br />
man floristisches Neuland betreten, sagt Susanne<br />
Renner, die floristische Leiterin der BlütenWerkstatt.<br />
Darunter verstehen die Floristen eine Auswahl an<br />
Fertigsträußen unterschiedlicher Größen und Preise.<br />
„Der Kunde sieht im Voraus, was er kauft, und weiß,<br />
was es kostet.“ Vorteil: Der Einkauf geht schneller<br />
vonstatten, der Kunde muss kaum warten. Und die<br />
in der Blütenwerkstatt beschäftigten Menschen mit<br />
Behinderung können gleichermaßen im Verkauf und<br />
in der Fertigung mitarbeiten, denn die Arbeit lässt<br />
sich einfacher in Einzelschritte aufteilen.
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 4 | 2010 � NACHRICHTEN<br />
Erfolgreicher Unternehmer mit <strong>sozial</strong>em Bewusstsein<br />
Loßburg – Eine schwäbische Unternehmerpersönlichkeit<br />
mit ausgeprägtem <strong>sozial</strong>em Bewusstsein – das<br />
war Karl Hehl, der kürzlich 87-jährig in Loßburg im<br />
Kreis Freudenstadt gestorben ist. Gemeinsam mit<br />
seinem Bruder Eugen leitete der gebürtige Loßburger<br />
viele Jahrzehnte die vom Vater der beiden gegründete<br />
Firma Arburg, ein weltweit agierendes Unternehmen<br />
für Kunststoff-Spritzgießtechnik.<br />
Karl Hehl und sein Bruder hatten den Bau des 1999<br />
in Betrieb gegangenen Loßburger Seniorenzentrums<br />
Gebrüder-Hehl-Stift mit einer großen Spende an die<br />
Gustav Werner Stiftung möglich gemacht. „Ohne<br />
die Unterstützung von Karl Hehl und seines Bruders<br />
Eugen hätte damals das Haus nicht gebaut werden<br />
können“, betont Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender<br />
Neues Angebot am neuen Standort<br />
Langenau – Das Unterstützungszentrum Langenau,<br />
das die Sozialpsychiatrischen Hilfen Alb-Donau der<br />
<strong>BruderhausDiakonie</strong> betreiben, ist vom Langenauer<br />
Mehrgenerationenhaus umgezogen in das ehemalige<br />
Polizeigebäude – und hat gleichzeitig sein<br />
Angebot erweitert. Neu hinzugekommen sind seit<br />
kurzem Arbeitsmöglichkeiten für die Klienten des<br />
Unterstützungszentrums. Es handelt sich dabei um<br />
sogenannte ausgelagerte Werkstattplätze, die in Zusammenarbeit<br />
mit der Lebenshilfe Donau-Iller eingerichtet<br />
wurden. „Mit bis zu vier ausgelagerten Werkstattplätzen<br />
der Lebenshilfe wollen wir psychisch<br />
kranken Menschen aus Langenau wohnortnahe und<br />
individuelle Arbeitsmöglichkeiten bieten“, sagt Senta<br />
Fezer, die für den nördlichen Alb-Donau-Kreis zuständige<br />
Mitarbeiterin der Sozialpsychiatrischen Hilfen<br />
Alb-Donau.<br />
Kernstück des Unterstützungszentrums ist nach wie<br />
vor die Tagesstätte. Sie ist ein Ort, an dem Menschen<br />
mit psychischer Erkrankung mit anderen Menschen<br />
sprechen und sich beschäftigen können und der<br />
ihrem Alltag Struktur gibt. Sie finden dort Ansprechpartner,<br />
wenn sie Beratung oder Hilfe brauchen, und<br />
sie finden Angebote zur Alltags- und Freizeitgestaltung<br />
– vom Kochen in der Gruppe über gemeinsamen<br />
Sport oder Basteln und Werken bis hin zu Tagesausflügen<br />
oder auch Kino- und Theaterbesuchen.<br />
Sie können dort aber auch nur einfach einen Kaffee<br />
trinken und die Zeitung lesen. Die von zwei Teilzeit-<br />
Fachkräften betreute Tagesstätte hat von Montag bis<br />
der <strong>BruderhausDiakonie</strong>. Die <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />
habe in Karl Hehl einen Freund verloren, der die<br />
Arbeit der Stiftung über viele Jahrzehnte hinweg<br />
begleitete und unterstützte. „Der erfolgreiche Unternehmer<br />
war in seiner schwäbisch-bescheidenen und<br />
bodenständigen Art ein überzeugender Christenmensch<br />
und ein Vorbild.“<br />
Karl Hehl wurde für sein Engagement vielfach geehrt:<br />
Er war Träger des Bundesverdienstkreuzes, der Bürgermedaille<br />
und der Wirtschaftsmedaille des Landes<br />
Baden-Württemberg und Ehrenbürger der Gemeinde<br />
Loßburg. Im vergangenen Jahr verlieh die Evangelische<br />
Landeskirche ihm und seinem Bruder für ihr<br />
herausragendes Engagement in Kirche und Diakonie<br />
die Johannes-Brenz-Medaille.<br />
Freitag geöffnet. Seit der Eröffnung kommen täglich<br />
zwischen acht und 15 Besucher. Zwei Mal wöchentlich<br />
gibt es Mittagessen und zwei Mal wöchentlich<br />
Frühstück – ein wichtiges Angebot für Menschen mit<br />
psychischer Erkrankung, die krankheitsbedingt oft<br />
nicht in der Lage sind, für sich einzukaufen und zu<br />
kochen.<br />
Drum herum gruppieren<br />
sich die anderen<br />
Angebote des<br />
Unterstützungszentrums:<br />
das ambulant<br />
betreute Wohnen für<br />
Menschen mit psychischer<br />
Erkrankung mit<br />
derzeit 14 Klienten<br />
im Verwaltungsraum<br />
Langenau; die Freizeit-<br />
und Kontaktgruppenarbeit<br />
der<br />
„Gruppe Lichtblick“, die 14-täglich bis zu 25 Personen<br />
erreicht; die Beratung von Klienten und ihren Angehörigen<br />
sowie die sogenannte ambulante Soziotherapie,<br />
die regelmäßig zwischen 15 und 20 Menschen<br />
mit psychischer Erkrankung dabei unterstützt, die<br />
medizinischen Hilfen zu organisieren und anzunehmen,<br />
die ihnen zustehen. Außerdem werden vom<br />
Unterstützungszentrum Langenau aus zwei Personen<br />
betreut, die das sogenannte Persönliche Budget in<br />
Anspruch nehmen.<br />
Karl Hehl war<br />
ein Freund und<br />
Unterstützer<br />
der Bruderhaus-<br />
Diakonie<br />
Das Unterstützungszentrum<br />
Langenau ist<br />
jetzt im früheren<br />
Polizeigebäude<br />
untergebracht<br />
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DIAKONISCHER IMPULS<br />
Bernd Liebendörfer<br />
ist Dekan<br />
des Kirchenbezirks<br />
Böblingen<br />
Dekan Bernd Liebendörfer<br />
Ein wichtiges Element im Sozialsystem<br />
Der Zivildienst ist das Schwerpunktthema dieser<br />
Ausgabe des Magazins Sozial. „Was kommt nach dem<br />
Zivildienst?“ Diese Leitfrage wurde mir gestellt und<br />
meine Gedanken gehen dabei in zwei verschiedene<br />
Richtungen.<br />
Die eine Verstehensweise möchte ich individuell nennen.<br />
Einst habe ich selber von 1974 bis 1976 meinen<br />
Zivildienst im Heinrich-Landerer-Krankenhaus der<br />
Gustav Werner Stiftung, wie sie damals hieß, abgeleistet.<br />
Was kam danach? Ich denke bis heute, dass ich<br />
sehr viel davon profitiert habe. Ich habe den Ablauf<br />
des jahrelangen Lernens von Schule und Universität<br />
unterbrochen und für eine Zeit am „richtigen Leben“<br />
teilgenommen. Ich hatte viel mit gesunden und<br />
kranken Menschen zu tun und dabei sehr viel über<br />
Menschen gelernt. Ich habe Kenntnisse in der Krankenpflege<br />
erworben. Das alles wirkt heute noch in<br />
mir nach. Ich bin sehr dankbar dafür.<br />
Männer profitieren von den<br />
Erfahrungen der Zivildienstzeit<br />
Unzählige Männer profitieren von dem, was sie im<br />
Zivildienst kennengelernt haben. Sie haben Erfahrungen<br />
für das Leben gemacht und in Bereiche hineinschauen<br />
können, die ihnen sonst verschlossen<br />
geblieben wären. Davon hat letztlich die Gesellschaft<br />
insgesamt profitiert. Das ist die individuelle Perspektive,<br />
die letztlich dennoch sogar das Individuelle<br />
übersteigt und gesellschaftlich wird.<br />
Doch davon möchte ich die eigentliche gesellschaftliche<br />
Sichtweise unterscheiden. Der Zivildienst war<br />
in der Vergangenheit ein ganz wichtiges Element im<br />
Sozialsystem unserer Gesellschaft. Jugendwerke, Pflegeheime,<br />
Essensdienste, diakonische Einrichtungen –<br />
ungezählt sind die Dienste, die vom Zivildienst profitiert<br />
haben. Nur so konnte vieles geleistet werden.<br />
Dieser Effekt war früher noch größer, als der Zivil-<br />
dienst noch länger dauerte. Ein anderes trat hinzu:<br />
Weil viele junge Männer entweder zum Wehrdienst<br />
oder zum Zivildienst eingezogen wurden, war das<br />
eine Motivation für andere. Viele andere, junge Männer<br />
und junge Frauen, absolvierten ein Freiwilliges<br />
Soziales Jahr. Auf diese Weise haben sie ähnliche Erfahrungen<br />
gesammelt wie wir Zivildienstleistenden,<br />
und das <strong>sozial</strong>e Engagement in der Gesellschaft wurde<br />
noch mehr gestärkt, zum Nutzen aller.<br />
Die Aussetzung des Wehrdienstes<br />
hat für die Dienststellen noch nicht<br />
absehbare Folgen<br />
Nun hat der Gesetzgeber im Zusammenhang mit<br />
dem Wehrrechtsänderungsgesetz beschlossen, den<br />
Wehrdienst ab Juli 2011 auszusetzen. Das bedeutet,<br />
dass auch der Zivildienst hinfällig ist. Für die Dienststellen<br />
ergeben sich daraus weitreichende Folgen.<br />
Wenn niemand mehr zum Wehr- oder Zivildienst einberufen<br />
wird, ist zu befürchten, dass auch viele kein<br />
Freiwilliges Soziales Jahr mehr leisten werden. Sie<br />
wollen dann – wie ihre Altersgenossen – möglichst<br />
schnell durch die Berufsausbildung ins eigene Berufsleben.<br />
All das zusammen ist ein schwerer Schlag für<br />
unser Sozialsystem.<br />
Es braucht einen sehr großen „diakonischen Impuls“<br />
in unserem Land, wenn wir diese Veränderungen auffangen<br />
wollen und trotzdem viele junge Menschen<br />
für solch einen Dienst gewinnen wollen. Vielleicht<br />
müssen wir Ehemaligen viel von den guten Erfahrungen<br />
unseres Zivildienstes erzählen, um junge<br />
Menschen für einen ähnlichen, freiwilligen Einsatz zu<br />
motivieren und so unseren diakonischen Einrichtungen<br />
und unserer ganzen Gesellschaft zu helfen. Ich<br />
will es mir vornehmen.