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rezente bevölkerungsentwicklung in indien

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REZENTE BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG IN INDIENE<strong>in</strong>führungHe<strong>in</strong>z NisselDieses Referat möchte jüngste Tendenzen der Bevölkerungsentwicklung Indiens beleuchten,wobei vor allem die ersten Ergebnisse des Census of India 2001 zur Interpretationherangezogen werden. Alle Angaben dazu basieren auf vorläufigen Tabellen und Karten, diefür <strong>in</strong>teressierte Benutzer bereits wenige Wochen nach der Volkszählung über Internet-Recherche nutzbar waren.Diese Volkszählung 2001 war die sechste <strong>in</strong> Indien seit der Unabhängigkeit des Landes(1947) und die bereits vierzehnte Totalerhebung seit dem Beg<strong>in</strong>n <strong>in</strong> britischer Kolonialzeit1871, das heißt es gibt e<strong>in</strong>e bee<strong>in</strong>druckende Kont<strong>in</strong>uität der Volkszählungen nach Dekadenseit 140 Jahren trotz aller politischer und ökonomischer Wirren auf dem Subkont<strong>in</strong>ent. Diegroßen Probleme, die bei der gleichzeitig <strong>in</strong> Österreich - und hier vermutlich zum letzten Mal- durchgeführten Volkszählung sowohl <strong>in</strong> ihrer F<strong>in</strong>anzierung, Durchführung wie auchAuswertung auftraten, nötigen den statistischen Leistungen e<strong>in</strong>es sogenanntenEntwicklungslandes umso mehr Respekt ab. Der organisatorische Aufwand entsprach dabeiden Dimensionen Indiens: die Fragebögen wurden <strong>in</strong> 18 unterschiedlichen Sprachen gedrucktund von mehr als zwei Millionen Personen an die Haushalte herangetragen, wobei es sichüberwiegend um Lehrpersonal der diversen Schultypen handelte.Milliardenpopulation und FrauendefizitMit dem Stichtag 1. März 2001 erfüllten sich zunächst die Vermutungen und Prognosen, dassIndien nach Ch<strong>in</strong>a als zweiter Staat der Erde die Milliardengrenze überschritten hat. Trotzdemhat das vorläufige Ergebnis die Experten überrascht, vielleicht auch schockiert, g<strong>in</strong>gen dochdie Schätzungen von maximal e<strong>in</strong>er Milliarde und 14 Millionen Menschen aus. Gezähltwurden dann jedoch nicht weniger als 1 027 051 247, davon etwa 531 Millionen Männer und496 Millionen Frauen. Hier werden wir mit der Tatsache konfrontiert, dass Indien imGegensatz zu den westlichen Industrienationen e<strong>in</strong> "Frauendefizit" aufweist - oder ist es e<strong>in</strong>"Männerüberschuss"? - und zwar <strong>in</strong> der Größenordnung von 35 Millionen Menschen ! DieseTatsache ist weiterh<strong>in</strong> Anlass für Spekulationen und Hypothesenbildungen. Die <strong>in</strong> denMassenmedien immer wieder groß herausgestellte Ermordung von Ehefrauen durch ihreGatten - <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie, um durch Wiederverheiratung erneut <strong>in</strong> den Genuss e<strong>in</strong>er Mitgift zukommen (sog. "Dowry"-System) - dürfte doch "nur" e<strong>in</strong>ige tausend Fälle pro Jahr ausmachen.Das Frauendefizit weist natürlich auf traditionelle E<strong>in</strong>stellungen <strong>in</strong> der Bevölkerung h<strong>in</strong> wiepatriarchalisch organisierte Familien, Dorfgeme<strong>in</strong>schaften (Panchayat), Kasten etc. Dieelterliche Bevorzugung von Söhnen (aus religiösen wie materiellen Gründen) führt heute zue<strong>in</strong>em Boom von pränatalen Ultraschalluntersuchungen und darauf folgenden Abtreibungenweiblicher Föten <strong>in</strong> Tausenden Kl<strong>in</strong>iken. Für diese Fragestellung, wie auch für die meistennoch zu diskutierenden Probleme, gilt jedoch e<strong>in</strong> nach Regionen und Bundesstaaten sehrdifferenziertes Bild der Bevölkerungsentwicklung. Die unter Indira Gandhi und ihrem SohnSanjay <strong>in</strong> den späten siebziger Jahren e<strong>in</strong>geleiteten gewaltsamen Maßnahmen zurGeburtenkontrolle haben diese bis zum heutigen Tag <strong>in</strong> den Augen der meisten Inderdiskreditiert.Wie schwierig Langzeitprognosen <strong>in</strong> der Bevölkerungsforschung aufgrund e<strong>in</strong>er Vielzahl vonFaktoren, die hier e<strong>in</strong>wirken, s<strong>in</strong>d, geht aus dem Unterschätzen um 13 Millionen Bewohnerfür die Volkszählung 2001 hervor. 13 Millionen, die zusätzlich ernährt, gekleidet undausgebildet werden müssen, für die es Schulen, Krankenhäuser und Arbeitsplätze zu schaffengilt. Andererseits haben noch <strong>in</strong> den achtziger Jahren Experten der Vere<strong>in</strong>ten Nationen für


Indien im Jahr 2000 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Langfristszenario 1043 Millionen E<strong>in</strong>wohner prognostiziert, dasheißt um 16 Millionen Menschen mehr als dann de facto gezählt wurden. Aus dieser Sichtkönnen also <strong>in</strong>dische Behörden zu Recht darauf h<strong>in</strong>weisen, dass durch dieFamilienplanungsmaßnahmen viele Millionen Geburten verh<strong>in</strong>dert wurden.Langfristige und aktuelle EntwicklungDie Bevölkerungsentwicklung <strong>in</strong> Indien seit dem ersten Census 1871 verlief ke<strong>in</strong>eswegsgeradl<strong>in</strong>ig. Noch <strong>in</strong> den Dekaden 1891-1901 und 1911-1921 ergab sich e<strong>in</strong>e negative Bilanz,also Bevölkerungsverluste, dazwischen (1901-1911) Stagnation. In diesen Dekaden griffennoch Hungerepidemien, Massenerkrankungen wie Pest, Cholera und Grippe, Dürre- undÜberschwemmungskatastrophen, der generell niedrige hygienische Standard und diemangelhafte Infrastruktur gravierend <strong>in</strong> die Bevölkerungsbilanz e<strong>in</strong>. 1951 hatte Indien deshalb"erst" 361 Millionen Bewohner. Nach der Unabhängigkeit ist es jedoch weitgehend gelungen,durch bessere ökonomische Versorgung und mediz<strong>in</strong>ische Betreuung die früher häufigenMassenkatastrophen zu verh<strong>in</strong>dern. Seither wuchs die Bevölkerung jährlich rechtkont<strong>in</strong>uierlich zwischen 2,0 bis 2,3 Prozent, wobei <strong>in</strong> jüngsten Jahren <strong>in</strong> vielen Regionen e<strong>in</strong>deutliches Abs<strong>in</strong>ken zu beobachten ist.Im sogenannten "Modell des demographischen Übergangs" wandelt sich Indien heute vone<strong>in</strong>em "verschwenderischen" zu e<strong>in</strong>em "sparsamen" Bevölkerungstyp. Bei ersterem liegensowohl die Geburten- als auch die Sterberaten sehr hoch, so dass man von e<strong>in</strong>erVerschwendung von Bevölkerung sprechen kann. Daraufh<strong>in</strong> beg<strong>in</strong>nt durch mediz<strong>in</strong>ischeVerbesserungen zuerst die Sterberate zu s<strong>in</strong>ken, später (manchmal Jahrzehnte später) auch dieGeburtenrate, bis sich schließlich beide auf niedrigem Niveau wieder e<strong>in</strong>pendeln. In derÜbergangsphase kommt es zur starken Ausweitung der Bevölkerung, häufig als"Bevölkerungsexplosion" apostrophiert. Während Maßnahmen zur Reduktion der Sterberatenstaatlich verordnet und durchgeführt werden können und ohneh<strong>in</strong> auf breite gesellschaftlicheAkzeptanz stoßen, erfordert die Senkung der Geburtenraten e<strong>in</strong>en langen Atem: es gilt,soziale und religiöse E<strong>in</strong>stellungen zu ändern, die Indien seit Jahrtausenden bestimmt haben,über bessere ökonomische Rahmenbed<strong>in</strong>gungen sowie Akzeptanz von Bildung (gerade auchfür Mädchen) die Aufstiegschancen von K<strong>in</strong>dern neu zu def<strong>in</strong>ieren etc.H<strong>in</strong>sichtlich dieser neuen Vorstellungen und Verhaltensweisen besitzen zunächst dieBewohner der Städte e<strong>in</strong>en deutlichen "Innovationsvorsprung". E<strong>in</strong>e Auswertung der nunzugänglichen jährlichen Geburten- und Sterberaten zwischen 1981 und 1997 beweist, dass die"rohen" Geburtenziffern im urbanen wie ruralen Raum gleich schnell abs<strong>in</strong>ken (wenn auchbei noch deutlich höherem ländlichem Ausgangsniveau), und <strong>in</strong> den Dörfern die Sterberatendeutlich schneller abnehmen als <strong>in</strong> den Städten, also e<strong>in</strong>e stetige Annäherung der Quoten zuverzeichnen ist. Dies wird noch besser erkennbar bei der K<strong>in</strong>dersterberate (0 bis 6-Jährige),die <strong>in</strong> den siebzehn Vergleichsjahren <strong>in</strong> den Städten von ca. 63 auf 42 Promille pro Jahr sank,<strong>in</strong> den Dörfern jedoch von 120 auf nahezu 70 Promille, also mehr als doppelt so schnell.Diese massiven Veränderungen werden auf das generative Verhalten sicher dramatische<strong>in</strong>wirken. Bei den ger<strong>in</strong>gen Überlebenschancen <strong>in</strong> früheren Zeiten musste e<strong>in</strong> Ehepaar, um"auf Nummer sicher" zu gehen, drei Söhne "produzieren", um mit hoher Chance e<strong>in</strong>en Sohndurchzubr<strong>in</strong>gen (wobei nach dem Zufallspr<strong>in</strong>zip e<strong>in</strong>e 50:50-Chance auf weitere drei Töchtergegeben war). K<strong>in</strong>derreichtum beruhte also nicht auf Zufällen, sondern auf durchausrationalen Überlegungen (Erbrecht, Totenritual usw.). Mit den geändertenLebensbed<strong>in</strong>gungen ändern sich heute ebenso die E<strong>in</strong>stellungen im generativen Verhalten,wenn auch vielleicht nicht so rasch, wie es viele Experten erhoffen. Um 1930 lag die mittlereLebenserwartung <strong>in</strong> Indien nicht höher als bei 29 Lebensjahren - und bis heute ist dieser Wertschon auf 63 Lebensjahre angestiegen !Zwischen 1991 und 2001 wuchs die E<strong>in</strong>wohnerzahl um nicht weniger als 181 MillionenMenschen. Das heißt, alle<strong>in</strong> der Zuwachs im letzten Jahrzehnt übersteigt zum Beispiel


deutlich die Gesamtbevölkerung Brasiliens, des (bevölkerungsmäßig) fünftgrößten Landes derErde; der jährliche Zuwachs ist größer als die gesamte Bevölkerung des fünften Kont<strong>in</strong>ents,Australien, und die Anzahl der unter der Armutsgrenze lebenden Personen (nach UN-Rank<strong>in</strong>g) liegt mehr als doppelt so hoch wie für sämtliche 53 Staaten Afrikas zusammen.Vergleichbar ersche<strong>in</strong>t das Ausmaß der Bevölkerung, ihrer Zunahme und der damitauftretenden vielfältigen Probleme nur mit der Volksrepublik Ch<strong>in</strong>a. Zwar dürfte dieBevölkerung Ch<strong>in</strong>as heute schon bei ca. 1,3 Milliarden liegen, doch bewegte sich dasdurchschnittliche Bevölkerungswachstum - nicht zuletzt wegen der strikten E<strong>in</strong>-K<strong>in</strong>d-Politik -im Jahrzehnt 1985-1995 nur bei 1,3 Prozent jährlich, h<strong>in</strong>gegen <strong>in</strong> Indien noch immer bei 2,1Prozent. Unter der Annahme gleichbleibender Trends könnte Indien zwischen 2025 und 2035die zweifelhafte Reputation erwerben, zum e<strong>in</strong>wohnerstärksten Land der Erde aufzusteigen.Indiens Anteil an der Weltbevölkerung liegt nun bereits bei 16,7 Prozentpunkten, das bedeutete<strong>in</strong> Sechstel der Menschheit. Weitere 270 Millionen zusammen weisen derzeit die dreiNachbarstaaten Pakistan, Bangla Desh und Nepal auf, sodass der Subkont<strong>in</strong>ent Südasien (zuwelchem auch noch Sri Lanka, Bhutan und die Malediven gehören) die Bevölkerung Ch<strong>in</strong>asheute schon übertrifft.Innerhalb des letzten Jahrzehnts fiel die Wachstumsrate Indiens von 23,8 auf 21,3Prozentpunkte. Dieses M<strong>in</strong>us von 2,5 Prozentpunkten sieht zunächst nicht spektakulär aus,signalisiert jedoch trotzdem den stärksten Rückgang seit der Unabhängigkeit 1947. Dabeibleiben die regionalen Wachstumsunterschiede enorm.Regionale Unterschiede des Wachstums und politische KonsequenzenIm groben Überblick zeigt sich zuerst e<strong>in</strong> deutlicher Nord-Süd-Gegensatz, wobei diesüd<strong>in</strong>dischen Bundesstaaten ganz klar unter dem Landesmittel der Bevölkerungszunahmebleiben und vor allem die Bundesstaaten des "H<strong>in</strong>di-Belts" <strong>in</strong> Nord<strong>in</strong>dien überproportionalwachsen. Im äußersten Südwesten weist der Bundesstaat Kerala nur noch 9,4 ProzentWachstum auf und stellt auch sonst e<strong>in</strong>e Bevölkerungss<strong>in</strong>gularität <strong>in</strong> Indien dar. Weiterszeigen die Flächenstaaten Tamil Nadu und Andhra Pradesh mit 11,2 beziehungsweise 13,6Prozent kaum höhere Werte. Neben Süd<strong>in</strong>dien bleiben auch noch Bundesstaaten im Osten(Orissa, Westbengalen und Assam) sowie im Norden (Punjab, Himachal Pradesh wie dasneue Uttaranchal) deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, besitzen also e<strong>in</strong> klar ablesbaresverlangsamtes Wachstum. Dagegen h<strong>in</strong>ken e<strong>in</strong>wohnerstarke Staaten <strong>in</strong> Nord- undZentral<strong>in</strong>dien der Entwicklung nach. Die höchste Zuwachsrate der großen Flächenstaatenweist wiederum die krisengeschüttelte Region von Bihar auf, mit e<strong>in</strong>er Zuwachsrate von 28,4Prozent - das bedeutet e<strong>in</strong>e dreifach höhere Quote als für Kerala. Ähnlich hohe Steigerungenf<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> Rajasthan und Jammu und Kaschmir, immer noch hohe <strong>in</strong> Uttar Pradesh undMadhya Pradesh. Die Werte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen kle<strong>in</strong>en Bundesstaaten und Territorien im äußerstenNordosten Indiens - Meghalaya, Manipur und Mizoram - fallen gesamtstaatlich kaum <strong>in</strong>sGewicht. Nagaland erreicht dort mit nahezu 65 Prozent Zuwachs zwischen 1991 und 2001den absoluten Spitzenwert. Die Regionen des Nordostens haben jeweils nur e<strong>in</strong> bis zweiMillionen Bewohner und setzten sich überwiegend aus ethnisch, religiös und sprachlich völligandren Populationen zusammen (Tibeto-Burmesen, Mon-Khmer u.a.).Diese regional sehr unausgewogene Entwicklung hängt mit unterschiedlichen "Erfolgsstories"der e<strong>in</strong>zelnen Bundesstaaten <strong>in</strong> Bezug auf ihre ökonomischen Fortschritte und dieMobilisierung ihrer Humanressourcen (Alphabetisierungskampagnen und Zugängen zuhöherer Bildung und Ausbildung) zusammen. Fortschrittliche Regionen Indiens vermochtenden Bevölkerungszuwachs deutlich zu verr<strong>in</strong>gern, die rückständigen Staaten wie jene desBIMARU-Gürtels konnten bisher die Entwicklungsrückstände nicht aufholen - dieFormulierung Bimaru ist doppeldeutig: e<strong>in</strong>erseits bedeutet diese <strong>in</strong> der Nationalsprache H<strong>in</strong>di"krank", andererseits steht sie auch als Kunstbegriff für Bihar, Madhya Pradesh, Rajasthanund Uttar Pradesh. Mittel- bis längerfristig stellt die unterschiedliche demographische


Entwicklung Nord- und Süd<strong>in</strong>diens e<strong>in</strong>e der größten Belastungen der "weltweit größtenDemokratie" (<strong>in</strong>dische Eigendef<strong>in</strong>ition) dar. Seit 1947 waren die Parlamentssitze <strong>in</strong> NewDelhi anteilig nach der Bevölkerung der Bundesstaaten zur Vergabe gelangt. 2000 verfügtejedoch die <strong>in</strong>dische Koalitions-Regierung unter Premierm<strong>in</strong>ister Vajpayee e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>frieren derregionalen Sitzverteilung auf nicht weniger als 25 Jahre!Dies birgt gefährlichen Sprengstoff <strong>in</strong> zweierlei H<strong>in</strong>sicht: Erstens verschieben sich jährlichdie Stimmengewichte, die e<strong>in</strong> Mandat für das Parlament kostet. Bedeutet dies, dass <strong>in</strong> 25Jahren e<strong>in</strong> Mandat für Bihar drei mal so viele Stimmen erfordert wie e<strong>in</strong>es für Kerala unddamit das "one man, one vote"-Grundpr<strong>in</strong>zip der <strong>in</strong>dischen Demokratie ausgehöhlt wird?Zweitens besteht die labile Regierungskoalition unter Führung der BJP (Bahratiya JanataParty - Volkspartei) aus über 20 Parteien der sogenannten H<strong>in</strong>dutva-Front, von denen vieleexplizit Regionalparteien darstellen, zum Beispiel die AIADMK (All-India Anna DravidaMunnetra Kazhagam) oder die TDP (Telugu Desam Party), Shiv Sena und andere mehr. DieseRegionalparteien - das heißt aus e<strong>in</strong>er Region, aber auch e<strong>in</strong>er bestimmten Sprachgruppe oder"dom<strong>in</strong>anten Kaste" hervorgegangenen und deren spezifische Interessen vertretendepolitische Gruppierungen - nehmen immer stärker E<strong>in</strong>fluss auf die Politik derZentralregierung und des Parlaments <strong>in</strong> New Delhi. Wachsende Disparitäten derBevölkerungsentwicklung führen so auch zu wachsenden politischen Disparitäten, weil sichdurch das Erstarken der Regionalparteien auf Kosten Delhis e<strong>in</strong>e anhaltende politischeLabilität im Machtzentrum aufbaut und e<strong>in</strong>e Verstärkung der Ause<strong>in</strong>andersetzungen zwischenden Bundesstaaten befürchten lässt.Bundesstaaten und Distrikte - Grob- und Fe<strong>in</strong>gliederung der UnterschiedeInsgesamt existieren derzeit <strong>in</strong> Indien unter E<strong>in</strong>beziehung der jüngsten Veränderungen 35Bundesstaaten und Unionsterritorien. Im November 2000 wurden Teilbereiche dreier großerBundesstaaten zu neuen, eigenen politischen E<strong>in</strong>heiten erklärt - die Himalayaanteile von UttarPradesh zu Uttaranchal, die Südhälfte von Bihar zu Jharkand sowie der östliche Bereich vonMadhya Pradesh zu Chhatisgarh. Diese drei neuen Bundesstaaten s<strong>in</strong>d im Census 2001 bereitsberücksichtigt. Die riesigen Dimensionen des Landes äußern sich auch dar<strong>in</strong>, dass nichtweniger als 10 Bundesstaaten mehr als 50 Millionen E<strong>in</strong>wohner zählen, also <strong>in</strong>nerhalbEuropas oder auch weltweit zu den jeweils volkreichsten Staaten gehören würden (vgl.Tab.1). E<strong>in</strong>e Reihe von kle<strong>in</strong>en Bundesstaaten und Unionsterritorien s<strong>in</strong>d primär alsKonzession an ethnische oder sprachliche M<strong>in</strong>oritäten zu sehen, wobei vor allem dieGebirgsumrahmung Assams <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Anzahl solcher politischer E<strong>in</strong>heiten unterteilt wurde.Tabelle 1: Bevölkerung <strong>in</strong> wichtigen Bundesstaaten(nach der neuen politischen Gliederung 2000)BundesstaatE<strong>in</strong>wohnerzahl(<strong>in</strong> Millionen)Bevölkerungszuwachs1991-2001 (<strong>in</strong> Prozent)1Uttar Pradesh166,15325,802Maharashtra96,75222,573Bihar82,87928,434West Bengal80,221


17,845Andhra Pradesh75,72813,866Tamil Nadu62,11111,197Madhya Pradesh60,38524,348Rajasthan56,47328,339Karnataka52,73417,2510Gujarat50,59722,4811Orissa36,70715,9412Kerala31,8399,42Übrige207,770-----INDIEN gesamt1.027,01521,34Die früher bereits angesprochenen großen territorialen Unterschiede <strong>in</strong> der Bevölkerungsentwicklung werden hiernoch e<strong>in</strong>mal deutlich. Natürlich s<strong>in</strong>d auch die Differenzierungen nach diesen politisch-verwaltungstechnischdef<strong>in</strong>ierten räumlichen E<strong>in</strong>heiten der obersten Stufe so beschaffen, dass sie oft regionale Ungleichgewichte eherverschleiern als hervorheben. Auf der zweiten Verwaltungsebene bestehen die 35 Bundesstaaten und Territorien2001 aus 593 Distrikten, die sich wiederum aus 5564 Tashils (Subdistrikten) zusammensetzen.An e<strong>in</strong>em Beispiel soll diese fe<strong>in</strong>ere regionale Differenzierung, die eher der konkreten Lebenssituation deransässigen Bevölkerung gerecht wird, deutlich werden. Der Bundesstaat Maharashtra im Westen desSubkont<strong>in</strong>ents entspricht mit se<strong>in</strong>em Wachstum von 22,57 Prozent nahezu dem <strong>in</strong>dischen Gesamtdurchschnitt.Er besteht aus 35 Distrikten mit sehr unterschiedlichen Entwicklungstendenzen. Im Kernraum der HauptstadtMumbai (bis 1995 Bombay) liegt das Wachstum (1991-2001) nur bei 4,8 Prozent, <strong>in</strong> den Mumbai Suburbsh<strong>in</strong>gegen bei 27,2 Prozent und <strong>in</strong> dem zur Agglomeration zählenden Thane sogar bei 54,9 Prozent. Dies bedeutetnur, dass die Kernstadt der Megacity Bombay bereits gesättigt ist und sich die dynamischen Zuwächse an denAußenrändern abspielen. In zwei Distrikten der Konkanküste an der Grenze zu Goa - Ratnagiri und S<strong>in</strong>dhudurg -betragen die Steigerungen nur 9,8 beziehungsweise 3,6 Prozent. Diese s<strong>in</strong>d seit GenerationenAbwanderungsregionen <strong>in</strong> die Fabriken der Metropole Bombay. Der dynamische und wirtschaftlichprosperierende Distrikt mit der gleichnamigen Millionenstadt Pune hat e<strong>in</strong> Plus von 30,6 Prozent. In ähnlicherWeise könnte man für alle Regionen Indiens entsprechende räumliche Disparitäten der Entwicklung aufzeigen.Dies gilt auch für die sehr unterschiedlichen Dichtewerte der Bevölkerung. Die 324 E<strong>in</strong>wohner proQuadratkilometer weisen auf e<strong>in</strong>e bereits hohe Bevölkerungsdichte h<strong>in</strong> (Österreich: 96). Aber alle<strong>in</strong> schon auf derBundesstaatenebene zeigen sich große regionale Diskrepanzen. Noch immer ist Indien e<strong>in</strong> Agrarland mit etwa640 000 Dörfern. Außerordentlich hohe Werte mit über 650 E<strong>in</strong>wohnern pro Quadratkilometer f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> denlandwirtschaftlichen Kernräumen, vor allem im Gangestiefland - Bihar, Uttar Pradesh und West Bengal - oder anden tropischen Küsten und Deltagebieten - Kerala - während die Gebirgsumrahmung Indiens oder auchZentral<strong>in</strong>dien (Dekhan) unterdurchschnittliche bis ger<strong>in</strong>ge Dichten besitzen (z.B. Arunachal Pradesh im NO nur 13oder Mizoram 42). Wichtig ist der H<strong>in</strong>weis, dass Bevölkerungswachstum und Bevölkerungsdichte ke<strong>in</strong>esignifikanten Zusammenhänge aufweisen, also sowohl <strong>in</strong>tensiv wie schwach bewohnte Regionen starke als auchger<strong>in</strong>ge Bevölkerungszunahmen haben können.


Ger<strong>in</strong>ge Verstädterung - aber MegacitiesMit 285 Millionen E<strong>in</strong>wohnern, die <strong>in</strong> Städten leben, ist das urbane Potential Indiens daszweitgrößte auf der Erde nach Ch<strong>in</strong>a. Dies s<strong>in</strong>d jedoch lediglich 27,78 Prozent derGesamtbevölkerung, also kaum mehr als e<strong>in</strong> Viertel. Nicht nur gehört die aktuelleVerstädterungsquote Indiens zu den niedrigsten weltweit, auch das Tempo der Urbanisierungzählt zu den langsamsten: zwanzig Jahre zuvor, 1981, lag der städtische Anteil bei 23,34Prozent. Andere Länder wie Thailand, Ch<strong>in</strong>a oder Indonesien begannen auf niedrigeremNiveau der Urbanisierung, haben aber <strong>in</strong>zwischen Indien deutlich überholt. Die vielfältigenGründe dafür können hier nicht erklärt werden. Sicher zählen dazu die wesentlich langsamerewirtschaftliche Entwicklung als <strong>in</strong> den Staaten Südostasiens und die traditionelle Verachtungstädtischen Lebens <strong>in</strong> der h<strong>in</strong>duistischen Mentalität, wie sie etwa im Leben und WirkenMahatma Gandhis immer wieder zum Ausdruck kam. Die Metropolen und Großstädte bietenauch potentiellen Zuwanderern nicht die erforderliche Zahl an Arbeitsplätzen. Politiker undExperten zittern bereits vor dem Tag, an dem die für Entwicklungsländer typische Stadt-Land-Wanderung tatsächlich <strong>in</strong> großem Ausmaß e<strong>in</strong>setzen wird. Schon jetzt gehören dieLebensumstände <strong>in</strong> Indiens Großstädten zu den schlimmsten weltweit.Im Census 2001 werden 35 Millionenstädte (Urbane Agglomerationen) ausgewiesen, <strong>in</strong> denenschon bei wachsendem Anteil 37 Prozent aller Stadtbewohner leben. Trotz niedrigerUrbanisierungsrate spielen die Metropolen <strong>in</strong> der Wirtschafts- und Sozialentwicklung Indiense<strong>in</strong>e herausragende Rolle. Indiens "New Economic Policy" (NEP) steuert über dieMetropolen, vor allem über die Megacities, auch die E<strong>in</strong>wirkungen der Globalisierung aufökonomie und Bevölkerung. Die Megacities gehören zu den e<strong>in</strong>wohnerstärksten Städten derErde, wobei Greater Mumbai bei anhaltenden Trends um 2020 Tokio als größteAgglomeration der Erde ablösen könnte.Da die urbanen Agglomerationen besser als die nur verwaltungstechnisch def<strong>in</strong>ierten"Municipal Corporations" das Ausmaß der Verstädterung widerspiegeln, sei hier e<strong>in</strong>e Tabelle(Tab.2) der wichtigsten städtischen Regionen zur Hand gegeben.Tabelle 2: Urbane Agglomerationen <strong>in</strong> Indien 2001(E<strong>in</strong>wohner <strong>in</strong> 1000)1Greater Mumbai (Bombay)16.368,0842Kolkata (Calcutta)13.216,5463Delhi12.791,4584Chennai (Madras)6.424,6245Bangalore5.686,8446Hyderabad5.533,6407Ahmadabad4.519,278


8Pune (Poona)3.755,5259Surat2.811,46610Kanpur2,690.48611Jaipur2.324,31912Lakhnau (Lucknow)2.266,93313Nagpur2.122,965Anmerkungen zu Bildung und ReligionZu den erfreulichsten Ergebnissen des Census 2001 gehört die deutliche Verbesserung derAlphabetisierungsquoten. Rund zwei Drittel (65,4 Prozent) aller Bewohner (6 Jahre und älter)können heute lesen und schreiben. Die geschlechtsspezifische Differenzierung ist noch groß:drei Viertel der Männer, (75,8 Prozent) und die Hälfte der Frauen (54,2 Prozent) s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>eAnalphabeten mehr. Die Schere zwischen Männern und Frauen hat sich verkle<strong>in</strong>ert, das heißtdie Mobilisierung der Grundbildung für Frauen beg<strong>in</strong>nt zu greifen. Während Bundesstaatenwie Kerala oder Mizoram, bei denen der Mobilisierungsgrad über 90 Prozent liegt, nur nochger<strong>in</strong>ge Fortschritte machen können, weisen gerade auch bisher als rückständig geltendeStaaten ausgezeichnete Erfolge auf, zum Beispiel Rajasthan und sogar Uttar Pradesh. E<strong>in</strong>erder wichtigsten Aspekte kann dar<strong>in</strong> gesehen werden, dass nun auch die absolute Anzahl anAnalphabeten erstmals gesunken ist. Wie groß die Fortschritte <strong>in</strong> der Bildungsoffensivetatsächlich s<strong>in</strong>d, kann man etwa aus dem Bildungsniveau im Jahr 1951 ableiten - damalskonnten gerade e<strong>in</strong>mal 27 Prozent der Männer und nur 8,8 Prozent der Frauen lesen undschreiben.H<strong>in</strong>sichtlich der religiösen Komposition der Bevölkerung Indiens liegen noch ke<strong>in</strong>e Datenvor. Doch wird sich der Anteil der moslemischen Religionsgruppen (1991 rund 12 Prozent)nicht wesentlich verschoben haben. Der auch von <strong>in</strong>discher Seite vielbeschworene"Fruchtbarkeitsüberschuss" von Moslems gegenüber der h<strong>in</strong>duistischen Mehrheit istwissenschaftlich nicht haltbar. Der Autor leitete im Sommersemester 2001 am Institut fürGeographie und Regionalforschung der Universität Wien e<strong>in</strong> Sem<strong>in</strong>ar zum Thema "Indien -Dimensionen der menschlichen Entwicklung". In diesem konnte e<strong>in</strong>e Reihe von Studierendenfür unterschiedliche Fragestellungen und Regionen nachweisen, dass hohe Geburten- undSterberaten nicht mit religiösen Determ<strong>in</strong>anten zusammenhängen, sondern mit mangelndenLebenschancen im S<strong>in</strong>ne der Thesen des <strong>in</strong>dischen Nobelpreisträgers für Nationalökonomie(1998), Amartya Sen. Nach Sen werden die Lebenschancen von materiellen wieimmateriellen Gütern und Möglichkeiten (z.B. auch der <strong>in</strong>dividuellen Freiheit) bestimmt, den"social opportunities", und von "entitlements", der tatsächlichen Verfügungsgewalt. Da nundie Muslime ökonomisch und bildungsmäßig am unteren Ende der <strong>in</strong>dischen Gesellschaftliegen, greifen die demographischen Modernisierungsschübe zeitverzögert. Imhochentwickelten Kerala etwa liegen die Geburtenraten <strong>in</strong> Distrikten mit moslemischerMehrheit nahezu gleichauf mit jenen der H<strong>in</strong>dus und nur leicht höher als jene der Christen.


Sie erreichen nicht e<strong>in</strong>mal die Hälfte der Geburtenraten von moslemischen Distrikten imökonomisch unterentwickelten Uttar Pradesh <strong>in</strong> Nord<strong>in</strong>dien.Fairerweise muss aber im <strong>in</strong>ternationalen Vergleich noch angemerkt werden, dass diesogenannte Fruchtbarkeitsrate <strong>in</strong> Pakistan signifikant höher liegt als <strong>in</strong> Indien. DieFruchtbarkeitsrate ist e<strong>in</strong>e statistische Kennziffer, die angibt, wie viele K<strong>in</strong>der e<strong>in</strong>e Frau e<strong>in</strong>esbestimmten Jahrgangs im Lauf ihrer reproduktiven Phase (15 bis 45 Lebensjahre) zur Weltbr<strong>in</strong>gt: sie liegt <strong>in</strong> Indien bei 3,0; <strong>in</strong> Pakistan h<strong>in</strong>gegen noch bei 5,0 (zum Vergleich:Österreich 1,4). Im jüngst wieder bedrohlich angefachten Dauerkonflikt um Kaschmir sichere<strong>in</strong>e geeignete Karte im massenmedial gesteuerten "Bedrohungsszenario".ZusammenfassungInsgesamt ergibt sich für die Bevölkerungsentwicklung Indiens weiterh<strong>in</strong> e<strong>in</strong> sehr heterogenesBild. Positiv bilanzieren die Senkung von Säugl<strong>in</strong>gs- und K<strong>in</strong>dersterblichkeit und dasZurückdrängen des Analphabetismus sowie die Reduktion der Chancenungleichheit zwischenMännern und Frauen. Negativ zu sehen ist das immer noch zu langsame Tempo beiMaßnahmen zur Kontrolle der Bevölkerungsentwicklung. Langfristig könnte dasdemographische Ause<strong>in</strong>anderdriften des Nordens und Südens zu e<strong>in</strong>er ernsten - auchsicherheitspolitischen - Belastung für die Zukunft Indiens führen.Quellen:Internet-Recherche über: http://www.census<strong>in</strong>dia.net/results mit weiterführenden L<strong>in</strong>ks zuregionalen Datensätzen, Karten und Kommentaren.Ao. Univ.-Prof. Dr. He<strong>in</strong>z Nissel, geboren 1943 <strong>in</strong> Salzburg, aufgewachsen <strong>in</strong> Wien. Studiumder Geographie, Soziologie und Philosophie an der Universität Wien. ZweijährigerForschungsaufenthalt an der Universität Bombay. Promotion mit e<strong>in</strong>er Dissertation überBombay 1974 <strong>in</strong> Wien. Von 1974 bis 1987 <strong>in</strong> verschiedenen Funktionen an drei deutschenUniversitäten tätig: Universität zu Köln, TU Berl<strong>in</strong> und Marburg/Lahn. FreiberuflicheTätigkeit (Auftragsforschung) und Leitung von Studienreisen und Expeditionen weltweit seit1986 bis heute. 1990 Rückkehr nach Wien. Zunächst Lektor am Institut für Geographie, abMärz 1993 Assistent.1999 Habilitation Universität Wien. Seit 2000 ao. Univ.-Prof. an der Universität Wien,Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften. Forschungsschwerpunkte: PolitischeGeographie, Stadtforschung; regionale Schwerpunkte: Indien, Österreich, Deutschland. Etwadreißig Veröffentlichungen zur Stadtforschung <strong>in</strong> Indien; aktueller Arbeitsschwerpunkt:Auswirkungen der Globalisierung auf Megastädte der Dritten Welt.

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