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Elisabeth Hannover-Drück<br />
3.6.1928 - 23.9.2010<br />
Aufsätze, Reden und Vorträge<br />
- eine Auswahl
Elisabeth Hannover-Drück<br />
3.6.1928 - 23.9.2010<br />
Aufsätze, Reden und Vorträge<br />
- eine Auswahl
INHALTSVERZEICHNIS<br />
Vorwort 3<br />
Veröffentlichungen 5<br />
Rede zum Grundgesetztag<br />
in der Bremischen Bürgerschaft am 23. Mai 2005 6<br />
Zur Ausstellung „75 Jahre Frauenwahlrecht 10<br />
zur Bremischen Bürgerschaft“<br />
Rede zur Eröffnung der Ausstellung am 8. März 1994 im Haus<br />
der Bremischen Bürgerschaft<br />
»Ein streitbares Frauenzimmer« 12<br />
Marie Mindermann und die Revolution von 1848 in Bremen<br />
Rede zur Eröffnung der Ausstellung im <strong>Bremer</strong> Staatsarchiv 1998<br />
Die Tochter des Kapitäns,<br />
von Christine Gerdes, Bremen 2004, Rezension 16<br />
Vorwort zu der Broschüre von 19<br />
"Schattenriss“ Beratungsstelle gegen sexuellen<br />
Missbrauch an Mädchen e.V."<br />
Leserbriefe an den Weser-Kurier 20<br />
Rede zur Namensgebung für den Steg<br />
Rede zur Namensgebung für den Steg nach 22<br />
Paula Modersohn-Becker am 29. September 2007<br />
Zur Situation von Zwangsarbeiterinnen in Bremen<br />
während des zweiten Weltkriegs<br />
Vortrag vom 23.11.2000 im Rahmen einer Vortragsreihe<br />
des <strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong>s 25<br />
<strong>Bremer</strong> Frauen von A bis Z. –<br />
ein biografisches Lexikon. Bremen 35<br />
Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung über Rosa Luxemburg<br />
im Gewerkschaftshaus Bremen 1999 39<br />
Kaiserin Friedrich und die deutsche Frauenbewegung 45<br />
ein Beitrag zum Preußenjahr 2001/2002<br />
Für Elisabeth 63<br />
Rede von Ute Gerhard anlässlich der Trauerfeier am 9.10.2009<br />
2
Vorwort<br />
Wenn das Lexikon "<strong>Bremer</strong> Frauen<br />
von A bis Z" noch einmal aufgelegt würde,<br />
dann enthielte es zahlreiche weitere<br />
Persönlichkeiten. Eine dieser Frauen wäre<br />
mit Sicherheit Elisabeth Hannover-Drück,<br />
die am 23. September 2009 im Alter von<br />
81 Jahren gestorben ist.<br />
Sie war eine der bemerkenswerten<br />
Frauen der Hansestadt; nicht nur deshalb,<br />
weil sie die Idee zum ersten bremischen<br />
Frauenlexikon hatte, seine Mitheraus-<br />
geberin war und viele seiner Artikel<br />
verfasste. Sie war auch die wichtigste<br />
Initiatorin des 1991 gegründeten Vereins<br />
"<strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong> e.V.". Sie war<br />
seine langjährige Vorsitzende, sie trat<br />
immer wieder als eindrucksvolle Rednerin<br />
hervor und hatte die entscheidenden<br />
Ideen zur inhaltlichen Gestaltung, Rea-<br />
lisierung und organisatorischen Durch-<br />
führung der meisten Projekte.<br />
Dabei lag ihr die Benennung einer<br />
Straße nach der Malerin Paula Becker-<br />
Modersohn besonders am Herzen. Die<br />
Benennung des Steges über das<br />
Gewässer zwischen der Kunsthalle und<br />
dem Theater am Goetheplatz am 29.<br />
September 2007 war für sie ein schlechter<br />
Kompromiss, den sie in ihrer Rede zur<br />
Einweihung ironisch kommentierte.<br />
Schon viele Jahre vor der Grün-<br />
dung des Vereins "<strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong><br />
e.V." schrieb sie wissenschaftliche und<br />
politische Bücher zu frauengeschichtlich<br />
wichtigen Themenbereichen und Perso-<br />
nen und meldete sich auch mit jour-<br />
nalistischen Texten zu Wort. Darüber<br />
hinaus übte sie den anspruchsvollen Beruf<br />
einer Deutsch-, Geschichts- und Englisch-<br />
lehrerin am Kippenberg-Gymnasium aus,<br />
hatte sechs Kinder und kümmerte sich<br />
ebenso um die Mitglieder der weiteren<br />
größeren ihrer großen Familie.<br />
Elisabeth war eine ungewöhnliche<br />
Frau. Sie beeindruckte durch die Ziel-<br />
strebigkeit und die Ausdauer, mit der sie<br />
die Projekte des Vereins vorantrieb. Sie<br />
verstand es, seine Mitglieder trotz der<br />
nicht seltenen Meinungsverschiedenheiten<br />
zusammen zu halten und sie zu<br />
gemeinsamem Handeln zu motivieren,<br />
nicht zuletzt durch die jährlichen Som-<br />
merfeste, für die sie ihren schönen Garten<br />
anbot. Und sie hatte Kultur. Das zeigte<br />
sich in ihrem Verhalten jedem Menschen<br />
gegenüber, in der ebenso liebevollen wie<br />
aufmerksamen Form ihrer Gastlichkeit und<br />
darin, dass sie sich bis ins hohe Alter<br />
hinein geschmackvoll und schön zu<br />
kleiden wusste.<br />
Ihr Tod ist für uns alle ein uner-<br />
setzlicher Verlust.<br />
Die Texte die wir anlässlich ihres<br />
ersten Todestages zusammengestellt ha-<br />
ben, dokumentieren ihre wissenschaftliche<br />
Qualität, ihre Begabung und ihr frauen-
politisches Engagement: Sie arbeitete<br />
geduldig und akribisch, um Neues und<br />
ungewohnte Sichtweisen darzulegen, sie<br />
konnte aber auch sarkastisch werden,<br />
wenn sie die Rechte von Frauen<br />
missachtet sah und sie setzte sich<br />
kämpferisch gegen Diskriminierung und<br />
Vorurteile ein.<br />
Möge die vorliegende Auswahl aus ihren<br />
Schriften dazu beitragen, dass die Erin-<br />
nerung an unsere Freundin und Mit-<br />
streiterin Elisabeth lange erhalten bleibt.<br />
<strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong> e.V.<br />
4
VERÖFFENTLICHUNGEN<br />
„Politische Justiz 1918 – 1933“<br />
gemeinsam mit Heinrich Hannover:<br />
Fischer Bücherei. Frankfurt am Main 1966<br />
„Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl<br />
Liebknecht“<br />
Dokumentation eines politischen<br />
Verbrechens<br />
Gemeinsam mit Heinrich Hannover<br />
Frankfurt am Main 1967<br />
„Dem Reich der Freiheit werb’ ich<br />
Bürgerinnen“<br />
Die Frauen-Zeitung von Louise Otto<br />
herausgegeben u. kommentiert von Ute<br />
Gerhard, Elisabeth Hannover-Drück und<br />
Romina Schmitter<br />
Frankfurt am Main 1980<br />
„Die Ausübung des Frauenwahlrechts<br />
in Bremen 1918-1933“<br />
Texte und Materialien zum historischpolitischen<br />
Unterricht<br />
Hrsg. Staatsarchiv Bremen. Bremen 1991<br />
„Hausgehilfinnen, Angestellte und<br />
Arbeiterinnen -Frauenerwerbsarbeit in<br />
Bremen zur Zeit der Weimarer Republik<br />
1919-1933“<br />
Texte und Materialien zum historischpolitischen<br />
Unterricht<br />
Kleine Schriften des Staatsarchivs<br />
Bremen Heft 26. Bremen 1996<br />
Politik und Arbeit<br />
in:„<strong>Bremer</strong> Frauen in der Weimarer<br />
Republik 1919-1933“<br />
Dokumentation zur Ausstellung,<br />
Hrsg. Staatsarchiv Bremen, Bremen 1987<br />
„Rosa Luxemburg“<br />
darin: Der Mord<br />
Hrsg. von Kristina von Soden<br />
Berlin Elefanten Press 1988n<br />
„Nieder die Waffen – die Hände<br />
gereicht!“ – Friedensbewegung in<br />
Bremen 1898 - 1989<br />
darin: Albert Kalthoff und die Gründung<br />
der <strong>Bremer</strong> Ortsgruppe der Deutschen<br />
Friedensgesellschaft,<br />
Aktivitäten der <strong>Bremer</strong><br />
Sozialdemokratie gegen Militarismus<br />
und Krieg vor 1914,<br />
Organisationen und Positionen der<br />
Friedensbewegung im Überblick,<br />
Aktivitäten der Deutschen<br />
Friedensgesellschaft in Bremen,<br />
Aussöhnung mit Frankreich, Polen und<br />
Dänemark<br />
Bremen 1989<br />
<strong>Bremer</strong> Frauen in der Weimarer<br />
Republik. Die Einführung des<br />
Frauenstimmrechts und die<br />
Entwicklung der weiblichen<br />
Erwerbstätigkeit<br />
„Bilder zur Frauenbewegung im<br />
19.Jahrhundert“<br />
Broschüre zur Ausstellung im Staatsarchiv<br />
Bremen. Hrsg. Staatsarchiv Bremen und<br />
ZGF, <strong>Bremer</strong>haven 1990<br />
Renate Meyer-Braun (Hrsg.):<br />
Frauen ins Parlament! Portraits<br />
weiblicher Abgeordneter in der<br />
Bremischen Bürgerschaft<br />
Darin: Elisabeth Lürssen (1880-1972)<br />
Bremen 1991<br />
„75 Jahre Frauenwahlrecht zur<br />
Bremischen Bürgerschaft“.<br />
Darin: „Zur Ausstellung“ Einleitung<br />
Dokumentation zur Ausstellung,<br />
Hrsg. vom Verein <strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong>.<br />
Bremen 1994<br />
„Marie Mindermann und die Revolution<br />
von 1848 in Bremen“.<br />
Dokumentation zur Ausstellung „Ein<br />
streitbares Frauenzimmer“<br />
Erarbeitet und zusammengestellt mit<br />
Christine Holzner-Rabe, Günther<br />
Rohdenburg, Uta Gerpott<br />
Hrsg. vom <strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong> e.V.<br />
Bremen 1999<br />
Übersetzungen aus dem<br />
Amerikanischen<br />
Leonard Cohen: „Schöne Verlierer“<br />
Frankfurt 1970<br />
Leonard Cohen: „Das Lieblingsspiel,<br />
Frankfurt<br />
5
Rede zum Grundgesetztag in der<br />
Bremischen Bürgerschaft am 23. Mai<br />
2005<br />
Vorkämpferinnen der freiheitlichen und<br />
sozialen Demokratie<br />
Heute, am Grundgesetztag, dem<br />
23. Mai, sind wir auf Einladung der<br />
"Vereinigung zur Förderung des Peti-<br />
tionsrechts in der Demokratie" zusam-<br />
mengekommen, um der Menschen zu<br />
gedenken, die in Deutschland am Beginn<br />
der demokratischen Epoche stehen. Viele<br />
von ihnen sind weitgehend vergessen, und<br />
doch haben sie durch ihren Einsatz die<br />
Grundlage vorbereitet, auf der unsere Re-<br />
publik nach dem Zweiten Weltkrieg neu<br />
aufgebaut werden konnte.<br />
Zu meiner Freude finden wir auf<br />
dieser Ehren- und Gedenktafel den<br />
Namen einer Frau aus Bremen, und ich<br />
werde versuchen, ihren Lebensweg durch<br />
das 19. Jahrhundert darzustellen. Wer war<br />
diese Frau, die als Vorkämpferin der frei-<br />
heitlichen und sozialen Demokratie in<br />
Anspruch genommen wird? Eine politische<br />
Laufbahn war Marie Mindermann keines-<br />
wegs an der Wiege gesungen worden. Als<br />
vierte Tochter eines Drechslermeisters<br />
wurde sie im Dezember 1808 in Bremen<br />
geboren und verlebte ihre Kindheit mitten<br />
in der Altstadt, da, wo heute das Ge-<br />
richtsgebäude steht. Als Handwerker-<br />
tochter gehörte sie den "niederen Stän-<br />
den" an, keineswegs aber dem Proletariat.<br />
Nicht umsonst hatte ihr Vater sich vom<br />
einfachen Tischler zum Drechslermeister<br />
qualifiziert.<br />
Schon früh zeigte sich ihre große<br />
Begabung - sie konnte mit fünf Jahren<br />
Texte aus der Bibel flüssig vorlesen und<br />
verfasste später ihre Schulaufsätze in<br />
Gedichtform. Trotzdem wurde ihr Bil-<br />
dungsweg nach sieben Jahren an der<br />
Domschule und einem Jahr Konfirman-<br />
denunterricht jäh beendet - mehr war für<br />
ein Mädchen aus ihren Kreisen in dem<br />
rückständigen <strong>Bremer</strong> Schulsystem nicht<br />
vorgesehen. Marie hatte den Wunsch,<br />
Lehrerin zu werden, wie so viele junge<br />
Frauen, die entsprechend dem Zeitgeist in<br />
einer besseren Bildung für die Massen die<br />
Lösung für fast alle sozialen Übelstände<br />
erblickten. Trotz der Unterstützung durch<br />
ihre Mutter konnte Marie ihren Plan nicht<br />
verwirklichen. Sie sei zu zart für diesen<br />
Beruf, die Ausbildung zu teuer, warnten<br />
die pädagogischen Autoritäten. Schließlich<br />
machte der Vater mit seinem Veto alle<br />
Zukunftsträume seiner Tochter zunichte.<br />
Das war für Marie eine bittere Ent-<br />
täuschung. Ihr in der Jugend ungestillter<br />
Bildungshunger war für sie ein Leben lang<br />
Stachel und Ansporn, sich Wissen aus<br />
eigener Kraft anzueignen. Wenn sie nun<br />
auch gezwungen war, als Haustochter für<br />
ihre Eltern zu arbeiten, so nutzte sie doch<br />
mit erstaunlicher Energie jede freie<br />
Minute, um zu lernen und auch zu schrei-<br />
ben. Einige Gedichte konnte sie sogar<br />
anonym veröffentlichen.<br />
6
Maries Mutter starb im Dezember 1839,<br />
kurz darauf der Vater. Hätte er als Witwer<br />
noch länger gelebt, so wäre es Maries<br />
Aufgabe gewesen, für den Vater zu<br />
sorgen. So aber blieb sie mit 32 Jahren als<br />
nicht ganz mittellose, ungebundene Frau<br />
allein zurück. Kühn lehnte sie die<br />
Möglichkeit ab, den Gesellen des Vaters<br />
zu heiraten, ihm den Betrieb und den<br />
Meistertitel zu übertragen, wozu sie<br />
berechtigt war, und so ihre Existenz durch<br />
die Ehe abzusichern.<br />
Statt dessen zog sie mit ihrer<br />
Freundin Caroline Lacroix zusammen. Die<br />
beiden Frauen blieben bis zu Maries Tode<br />
in einer "Freundschaftsehe" verbunden. In<br />
den Revolutionsjahren begannen sie, sich<br />
für die demokratische Sache zu enga-<br />
gieren. Marie Mindermann beschrieb den<br />
Vorgang ihrer Politisierung so: .“Ich lebe<br />
mit einer Freundin sehr...abgeschieden;<br />
wir sind vorzüglich auf Lectüre ange-<br />
wiesen... Diese Lectüre war früher bell-<br />
etristisch. Seit dem Jahre 1848 aber lesen<br />
wir regelmäßig die Zeitungen, die uns vor<br />
dem angegebenen Zeitpunkte nur theil-<br />
weise ein Interesse abgewinnen konnten...<br />
Die Freiheitsbestrebungen des deutschen<br />
Volkes zogen uns unwiderstehlich an. Mit<br />
dem größten Interesse verfolgten wir<br />
jeden Aufschwung. Wir lebten geistig<br />
mitten im Volke und nahmen Theil an<br />
allem, was das Volk betraf.".<br />
Es ist eine Eigentümlichkeit der<br />
<strong>Bremer</strong> Geschichte, dass Glaubensfragen<br />
stets ein reges öffentliches Interesse<br />
fanden und in allen Schichten diskutiert<br />
wurden. So auch in der Mitte des 19.<br />
Jahrhunderts. Als die neue Verfassung<br />
von 1848 glücklich in Kraft gesetzt war,<br />
wendete sich die allgemeine Aufmerk-<br />
samkeit von der großen Politik einem rein<br />
innerstädtischen Problem zu, dem sog.<br />
"<strong>Bremer</strong> Kirchenstreit" zwischen dem<br />
freireligiösen Pastor Dulon und dem streng<br />
bibelgläubigen Pastor Wimmer. Im Bereich<br />
der Religion fühlten sich die <strong>Bremer</strong>innen<br />
besonders heimisch. Als Minderjährige<br />
oder Ehefrauen waren sie in allen<br />
öffentlichen Angelegenheiten der Vor-<br />
mundschaft des Vaters oder Ehemannes<br />
unterworfen, der sog. Kuratel; aber in der<br />
Frage des religiösen Bekenntnisses waren<br />
sie frei und selbstverantwortlich. So lag es<br />
nahe, dass MM ihre ersten politischen<br />
Angriffe aus dem vertrauten kirchlichen<br />
Raum heraus führte, sich in den<br />
Gottesdiensten umhörte und Notizen<br />
machte, die sie nachher veröffentlichte,<br />
allerdings ohne ihren Namen zu nennen..<br />
Anonym zu schreiben war damals<br />
durchaus üblich, und in der <strong>Bremer</strong> Ge-<br />
sellschaft muss es ein amüsantes Rät-<br />
selraten gewesen sein, wer da wohl mit<br />
mehr als spitzer Feder so manches<br />
wunderliche Kanzelwort aufgespießt und<br />
dem Spott preisgegeben hatte. Aber der<br />
unbekannte Autor schien sich auch in der<br />
Bibel und im Kirchenrecht gut auszu-<br />
kennen, so dass die Streitschrift nicht nur<br />
nach einem Scherz aussah. MM war zu<br />
einer glühenden Anhängerin des frei-<br />
7
sinnigen Pastors Dulon geworden, der als<br />
zweiter Prediger an Liebfrauen amtierte.<br />
Die Gemeinde hatte ihn berufen. Aber er<br />
machte sich durch seine freie Art der<br />
Bibelauslegung und sein demokratisches<br />
Engagement für die Unterprivilegierten, für<br />
die er eine solide Schulbildung forderte,<br />
nicht nur Freunde. Konservative Gemein-<br />
demitglieder wollten ihn gerne wieder<br />
loswerden, zumal er beim Volk unglaublich<br />
beliebt war, das zu seinen Predigten aus<br />
ganz Bremen herbeiströmte und Blumen<br />
auf seinen Weg streute. Er war zum Gott<br />
der kleinen Leute geworden und damit<br />
gefährlich.<br />
Im Kampf um seine Reputation und<br />
Stellung suchte MM ihn durch ihre<br />
anonymen Schriften zu unterstützen, die<br />
große Furore machten. Man vermutete<br />
hinter dem unbekannten Autor die<br />
verschiedensten <strong>Bremer</strong> Persönlichkeiten.<br />
1852 wurde Dulon durch den Senat<br />
abgesetzt. Ob dieses Vorgehen recht-<br />
mäßig war, blieb umstritten, jedenfalls<br />
hatte man vollendete Tatsachen geschaf-<br />
fen und seine Anhänger eingeschüchtert,<br />
so dass sich kaum Protest erhob. In ihrer<br />
Empörung griff MM den Senat heftig an,<br />
wiederum mit einer anonymen Ver-<br />
öffentlichung. Während ihre früheren<br />
Streitschriften von den Behörden nicht<br />
beachtet worden waren, wurde jetzt<br />
Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt,<br />
um den Autor ausfindig zu machen. Die<br />
Reaktion hatte inzwischen gesiegt. Statt<br />
Pressefreiheit gab es nun ein neues<br />
„Pressgesetz“, das ehrenkränkende Äuße-<br />
rungen gegen den Senat mit Ge-<br />
fängnisstrafe bis zu 18 Monaten bedrohte.<br />
Die Polizei kam MM auf die Spur, sie<br />
wurde verhaftet und verhört, aber als sie<br />
nach anfänglichem Leugnen ihre Auto-<br />
renschaft zugab, wollte ihr niemand glau-<br />
ben, denn, so argumentierte der Unter-<br />
suchungsrichter, eine so gelehrte Schrift<br />
könne eine Frau gar nicht zustande brin-<br />
gen.<br />
Marie Mindermann wurde zu einer<br />
Haftstrafe von acht Tagen verurteilt,<br />
ersatzweise zu einer Geldstrafe von 20<br />
Talern. Sie wählte die Haft, die sie im<br />
"Detentionshaus für kleinere Verbrecher"<br />
an der Ostertorwache absaß. Nur der<br />
Verlust der Freiheit sei eine echte Strafe,<br />
meinte sie, nicht aber eine Geldbuße. Sie<br />
wollte dem Senat wohl zeigen, dass sie<br />
stark und nicht auf sein gnädiges Ent-<br />
gegenkommen angewiesen war. Noch<br />
einmal wagte sie es - nun mit voller<br />
Namensnennung - Senat, Justiz und<br />
Polizei aufs Korn zu nehmen, einfach<br />
indem sie von ihren Erlebnissen als<br />
Beschuldigte und Häftling erzählte. Die<br />
Ironie lag in den Vorgängen selbst, die für<br />
sich sprachen. Danach musste MM sich<br />
harmlosen Themen aus Natur und Heimat<br />
zuwenden. Als politisch verdächtiger Per-<br />
son war es ihr zunächst nicht einmal mehr<br />
möglich, in Bremen auch nur einen<br />
Verleger oder Drucker zu finden. Strafan-<br />
drohungen mit Entziehung der Konzession<br />
8
und Schließung der Druckerpresse taten<br />
ihre Wirkung.<br />
Marie Mindermann war als<br />
Schriftstellerin beliebt und erhielt auch<br />
offizielle Anerkennung. Trotzdem zog sie<br />
sich zunächst ganz aus der Öffentlichkeit<br />
zurück. Erst als die deutsche Frauen-<br />
bewegung sich neu zu organisieren<br />
begann, um Bildungs- und Erwerbs-<br />
möglichkeiten für Frauen zu schaffen,<br />
erging an MM die Aufforderung, auch in<br />
Bremen entsprechende Voraussetzungen<br />
herzustellen. Diesem Ruf an ihr soziales<br />
Gewissen mochte sie sich nicht entziehen.<br />
Zusammen mit Ottilie Hoffmann gründete<br />
sie 1867 den "Verein zur Erweiterung des<br />
weiblichen Arbeitsgebietes", aus dem der<br />
noch heute existierende "Frauen- Er-<br />
werbs- und Ausbildungsverein" hervor-<br />
ging. Bis 1870 gehörte Marie Mindermann<br />
dem Vorstand an.<br />
Das Leben von Marie Mindermann<br />
steht exemplarisch für eine Frauen-<br />
generation, die durch die Revolution von<br />
1848 politisiert wurde, ihre Kräfte und<br />
Fähigkeiten kennenlernte und sich in die<br />
öffentlichen Belange einzumischen be-<br />
gann. Für viele, auch für MM, war der<br />
Schritt in die Öffentlichkeit schwer und<br />
erforderte sehr viel Mut, so sehr wider-<br />
sprach er dem weiblichen Selbstver-<br />
ständnis, unauffällig und im Hintergrund zu<br />
bleiben. Aber einmal vollzogen, verlieh er<br />
auch die Kraft, sich im Kampf um die<br />
Frauenrechte zu behaupten.<br />
Marie Mindermann (1808 – 1882)<br />
9
Zur Ausstellung „75 Jahre<br />
Frauenwahlrecht zur Bremischen<br />
Bürgerschaft“ am 8. März 1994<br />
Im Haus der Bremischen Bürgerschaft<br />
Der Verein <strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong><br />
e.V. hat es sich zur Aufgabe gemacht,<br />
Lebens- und Arbeitsbedingungen von<br />
Frauen und ihre Leistungen in Kunst und<br />
Gesellschaft darzustellen, sie vor dem<br />
Vergessen zu bewahren und bei gege-<br />
benem Anlass wieder ins kollektive<br />
Gedächtnis zurückzurufen. Ein solcher<br />
Anlass ist die 75. Wiederkehr des Tages,<br />
an dem die Frauen dieser Stadt zum<br />
ersten Mal das aktive und passive<br />
Wahlrecht zur <strong>Bremer</strong> Volksvertretung<br />
ausüben konnten.<br />
In vielen Ländern Europas und in<br />
den USA erhob sich der Ruf nach dem<br />
Frauenstimmrecht und sollte nicht mehr<br />
verstummen. Die in der SPD und im<br />
Stimmrechtsverein organisierten <strong>Bremer</strong>-<br />
innen beteiligten sich an dieser<br />
Kampagne, die für Deutschland im<br />
November 1918 zum Erfolg führte. Unter<br />
den 18 weiblichen Abgeordneten, die<br />
1919 in die Bremische Nationalver-<br />
sammlung einziehen konnten, befanden<br />
sich viele Stimmrechtskämpferinnen aus<br />
dem bürgerlichen und sozialistischen<br />
Lager, aber auch Frauen aus den<br />
Berufsverbänden, dem Schul- und Sozial-<br />
wesen. Alle griffen sie in ihren Rede-<br />
beiträgen die Grußformel auf, die die<br />
Gleichberechtigung symbolisiert: "Meine<br />
Herren und Damen!". Alle waren sie von<br />
der Bedeutung ihrer Aufgabe durch-<br />
drungen, vom Herkommen freilich sehr<br />
verschieden. Da saß die gutbürgerliche<br />
Akademikerin neben der ehemaligen<br />
Dienstbotin, die ihren Bildungshunger nie<br />
hatte stillen können und sich doch,<br />
ausgerüstet nur mit den Richtlinien ihrer<br />
Partei und im Glücksfall mit einer na-<br />
türlichen Rednergabe, immer wieder in die<br />
Debatten des Hohen Hauses einschalten<br />
musste. Biographie und Leistung gerade<br />
dieser Frauen bleiben bis heute<br />
beispielhaft und bewegend. Aber auch<br />
außerhalb des Parlaments arbeiteten<br />
<strong>Bremer</strong>innen für den Frieden und die<br />
Menschenrechte ihrer Schwestern.<br />
Obwohl alle Parteien heftig um die<br />
Frauen warben, betrug der Anteil der<br />
weiblichen Abgeordneten während der<br />
Weimarer Zeit nie mehr als acht bis zehn<br />
Prozent. In den Deputationen sahen sich<br />
die Frauen auf die Bereiche verwiesen, die<br />
von jeher als "spezifisch weiblich" galten.<br />
Die Frauenfeindlichkeit der National-<br />
sozialisten kam 1933 zur Geltung, als das<br />
Recht, zum Reichstag zu kandidieren, auf<br />
Männer beschränkt wurde. Die Bürger-<br />
schaft wurde wie die übrigen Länder-<br />
parlamente aufgelöst. 1946 konnten sie<br />
ihre Arbeit wieder aufnehmen in einer Situ-<br />
ation, die die Notlage von 1919 noch weit<br />
übertraf. Personell bestanden noch viel-<br />
fache Verknüpfungen zur Wiemarer Zeit.<br />
Besonders erwähnt seien hier Anna Stieg-<br />
ler und Käthe Popall, die lange Jahre in<br />
Zuchthaus und KZ verbracht hatten und<br />
10
nun ihre Kraft erneut der parlamentari-<br />
schen Arbeit widmeten.<br />
Nach dem verlorenen Krieg waren die<br />
Frauen beim Wegräumen der Trümmer<br />
jeder Art und als sozial kompetente<br />
Personen bei der Wiederherstellung der<br />
elementaren Lebensgrundlagen sehr<br />
gefragt. Käthe Popall trat als erste Frau<br />
als Gesundheitssenatorin in die Landes-<br />
regierung ein, konnte sich aber gegen den<br />
Widerstand der Ärzteschaft und als<br />
Kommunistin im heraufziehenden Kalten<br />
Krieg nur bis 1948 im Amt halten. Mit der<br />
Normalisierung der Verhältnisse ging die<br />
"Stunde der Frauen" zu Ende; der<br />
überparteiliche <strong>Bremer</strong> Frauenausschuss<br />
verlor an Einfluss. Erst 1951 wurde erneut<br />
eine Frau in den Senat gewählt, die für<br />
sechs Legislaturperioden blieb.<br />
Dann folgte von 1975 bis 1983 noch<br />
einmal eine "frauenlose Zeit". Zwar stieg<br />
der Anteil von weiblichen Abgeordneten<br />
auf ca. 14%, aber frische Impulse mussten<br />
von außen kommen. Die Neue Frauen-<br />
bewegung startete 1971 spektakulär mit<br />
dem uralten Thema § 218; dem kulturellen<br />
und sozialen Leben der Stadt prägten<br />
feministische Phantasie und Kreativität<br />
unverkennbare neue Akzente auf.<br />
Wo stehen wir heute? Die Frau-<br />
enquote in Parlament und Senat ist kräftig<br />
angestiegen: die Fraueninteressen werden<br />
durch eigens geschaffene Gremien ver-<br />
treten und sind in Gesetzen verankert -<br />
aber stehen sie manchmal nicht nur auf<br />
dem Papier? Konservative Familienpolitik<br />
verhindert eine Liberalisierung des Abtrei-<br />
bungsrechts, und die neue Arbeitslosigkeit<br />
verweist Frauen zurück an den Herd: die<br />
Rezession bedroht viele autonome Frau-<br />
enprojekte, die dringender gebraucht wer-<br />
den als je zuvor. Das Frauenwahlrecht ist<br />
längst errungen, aber ausruhen dürfen wir<br />
uns auf unseren Lorbeeren nicht. Die<br />
Ausstellung möge im Sinne eines "Erin-<br />
nerns für die Zukunft" den Frauen Stolz,<br />
Mut und Kraft für die kommenden Auf-<br />
gaben vermitteln.<br />
»Ein streitbares Frauenzimmer«.<br />
Elisabeth und Petra Brödner beim Aufbau der<br />
Ausstellung<br />
11
Marie Mindermann und die Revolution<br />
von 1848 in Bremen<br />
Rede im Staatsarchiv zur Eröffnung der<br />
Ausstellung 1998<br />
Wenn wir die Fülle der Gedenk-<br />
veranstaltungen zum Jubiläumsjahr vor<br />
allem im Süden der Republik vor unserem<br />
geistigen Auge Revue passieren lassen,<br />
so drängt sich die Frage auf: Ist das alles<br />
nur Kostüm und Theater, patriotische<br />
Pflichtübung, etwas aus grauer Vorzeit,<br />
was uns wenig mehr angeht? Daniela<br />
Kruse hat mit ihrem Plakat zur Ausstellung<br />
eine andere Auffassung vertreten: Die von<br />
ihr gestaltete Marie Mindermann trägt ein<br />
Janusgesicht, eines, das der Vergan-<br />
genheit verhaftet, ein anderes, das<br />
unserer Gegenwart zugewandt ist. Dass<br />
Frauen sich 1848 für die Demokratie<br />
engagierten und sich in Vereinen zusam-<br />
menschlossen, hat sich langsam herum-<br />
gesprochen. In den zeitgenössischen<br />
»Fliegenden Blättern« schlug sich dieses<br />
Engagement in recht eindeutiger Weise<br />
nieder. Da ist Eulalia dargestellt, wie sie<br />
ihren Kapotthut zubindet und dem mit der<br />
Schlafmütze des deutschen Michels ge-<br />
schmückten Gatten einen schreienden<br />
Säugling in den Arm drückt: »Ludewig, gib<br />
acht auf das Kind - ich gehe in meinen<br />
Club!« Was könnte moderner sein als<br />
diese Szene? Was der Gatte erwidert,<br />
dass sie lieber zu Hause bleiben und ihre<br />
Strümpfe stopfen solle, gehört allerdings<br />
der Vergangenheit an, denn zerrissene<br />
Strümpfe werden heutzutage wegge-<br />
worfen. Aber im Ernst: Wer die<br />
Ausstellungshalle betritt, dem fällt als<br />
erstes die Fahne Schwarz-Rot-Gold ins<br />
Auge, die verbotenen Farben, 1848 im<br />
Triumph aus den Verstecken geholt und<br />
zum Symbol der Demokratiebewegung<br />
erhoben - es ist die Fahne der Bundes-<br />
republik Deutschland. Einen zentralen<br />
Platz nimmt die »Verfassung des<br />
Bremischen Staates« von 1849 ein - die<br />
größte Errungenschaft der Volksbe-<br />
wegung aus den Märztagen. Unschwer<br />
wird der Betrachter erkennen, wie eng<br />
verwandt die »Rechte der Bremischen<br />
Staatsgenossen« unseren Grundrechten<br />
sind.<br />
Wenn wir in den »Forderungen des<br />
deutschen Volkes« lesen:<br />
• Schutz und Gewährleistung der Arbeit<br />
• Ausgleich des Missverhältnisses zwi-<br />
schen Kapital und Arbeit<br />
- sind das nicht aktuelle Themen? Und<br />
welche Ironie der Geschichte: Die Unab-<br />
hängigkeit Bremens stand auch damals<br />
auf dem Spiel; nicht wegen übermäßiger<br />
Verschuldung der Stadt, sondern wegen<br />
übermäßiger Liberalität zu einer Zeit, als<br />
die Revolution längst gescheitert war und<br />
Reaktion in allen Deutschen Staaten die<br />
Oberhand bekam. da galt in Bremen<br />
immer noch die März-Verfassung von<br />
1849, herrschte Pressefreiheit, hatte ein<br />
Netzwerk von Helfershelfern der verfolgten<br />
Demokraten angeblich seinen konspi-<br />
rativen Mittel- punkt in Bremen, das von<br />
seiner geographischen Lage her auch<br />
12
esonders geeignet war, den mit Haft-<br />
befehl Gesuchten die Flucht nach dem<br />
britischen Helgoland, nach London oder<br />
nach Übersee zu ermöglichen. Wenn dem<br />
Treiben der Demokraten nicht ein Ende<br />
gesetzt werde, ließ Bürgermeister Johann<br />
Smidt verlauten, drohe Bremen die Bun-<br />
desexekution und damit der Verlust der<br />
staatlichen Selbständigkeit. Das zog, da-<br />
mals wie heute, und so gelang es Smidt,<br />
den <strong>Bremer</strong>n die März-Errungenschaften<br />
nach und nach wieder zu entwinden.<br />
Anderes in der Ausstellung er-<br />
scheint uns sehr fern und fremd. Da ist<br />
das Schulsystem, über das Pastor Dulon<br />
in der Bürgerschaft sagte: »Kaum in den<br />
abgelegensten Dörfern des preußischen<br />
Staates würden Sie so schlechte Schulen<br />
finden wie hier in der reichen Stadt Bre-<br />
men!« Hierarchisch nach Gesellschafts-<br />
klassen gegliedert, hielt es die »niederen<br />
Stände« zuverlässig unten und das<br />
weibliche Geschlecht in der Sphäre des<br />
Hauses fest.<br />
Marie Mindermann, Tochter eines<br />
Drechslermeisters und hoch begabt, wie<br />
sich früh schon zeigte, hat es am eigenen<br />
Leibe erfahren. Nach der Klippschule für<br />
kleine Kinder besuchte sie sieben Jahre<br />
lang die Domschule und anschließend den<br />
Konfirmandenunterricht - das war alles,<br />
was ihr an Bildung gewährt wurde. Ihren<br />
Wunsch, Lehrerin zu werden, mochten<br />
weder der Domprediger Dr. Kottmeier<br />
noch die bekannte Pädagogin Betty Gleim<br />
unterstützen.<br />
Was ihr für ihre eigene Person<br />
gelang, selbständig sich weiterzubilden<br />
und sich den Zugang zu den »Quellen des<br />
Wissens« zu eröffnen, das forderte sie<br />
zeitlebens für alle Menschen und geißelte<br />
den Hochmut der Gebildeten, die sich als<br />
Folie für ihre Verfeinerung das Volk roh<br />
und dumm erhalten wollten.<br />
Erstaunen wird es vor allem junge<br />
Menschen, welche Bedeutung der für die<br />
<strong>Bremer</strong> Gesellschaft hatte. In der Kirche<br />
engagierten sich viele Frauen, denn der<br />
Bereich der Religion war einer der weni-<br />
gen Freiräume, die Frauen besaßen. Stan-<br />
den sie im bürgerlichen Leben unter<br />
Kuratel, d.h. unter der Vormundschaft des<br />
Vaters oder Ehemannes, so galt dies nicht<br />
für das religiöse Bekenntnis. Hier waren<br />
die Frauen selbstverantwortlich. Marie<br />
Mindermann neigte, wie ihre Biographin<br />
berichtet, »der freiesten Religionsansicht«<br />
zu. Die wurde auf der Kanzel von Unser<br />
Lieben Frauen vertreten von Pastor<br />
Rudolph Dulon, und deshalb war sie seine<br />
Anhängerin. Er war es auch, zu dessen<br />
Unterstützung sie anonym zur Feder griff,<br />
als der konservativ gesinnte Teil der<br />
Gemeinde den für Demokratie begei-<br />
sterten Pastor wieder loswerden wollte.<br />
Drei Schriften ohne Namensnennung ließ<br />
sie zu seiner Verteidigung erscheinen, und<br />
es wurde in Bremen viel spekuliert, wer<br />
der mit so viel Witz und Ironie, auch mit<br />
erstaunlichen Bibel- und Kirchenrechts-<br />
kenntnissen begabte Anonymus sei.<br />
13
Als Dulon 1852 in einem rechtlich<br />
sehr umstrittenen Akt des Senats seines<br />
Amtes enthoben worden war, wurde Marie<br />
Mindermanns Ironie sehr bitter: »Nicht<br />
wahr, der Senat hat Mut, viel Mut? -<br />
Gegenüber dem Proteste, von mehr als<br />
der Hälfte der wahlfähigen Bürger unter-<br />
zeichnet, gegenüber der eindringlichen<br />
Bitte von fast 6.000 Frauen und Jung-<br />
frauen, gegenüber der Protestaktion der<br />
aufgelösten Bürgerschaft, gegenüber dem<br />
Gesuch der Majorität der Gemeinde Unser<br />
Lieben Frauen, gegenüber der Eingabe<br />
von mehreren Mitgliedern der- selben<br />
Gemeinde - hat der Senat den Mut, im<br />
wohlerwogenen Interesse des ganzen<br />
Staates einseitig vorzugehen; hat der<br />
Senat den Mut - Bitten und Proteste mit<br />
dem Absetzungsdekret zu beantworten.<br />
Natürlich wiederum im wohlerwogenen<br />
Interesse des Staats!« Der Wind hatte<br />
umgeschlagen, ein neues, repressives<br />
Pressegesetz machte es möglich: Inten-<br />
sive polizeiliche Nachforschungen führten<br />
schließlich auf die Spur der Person, von<br />
der der Senat sich verunglimpft fühlte.<br />
Marie Mindermann bekannte sich not-<br />
gedrungen als Autorin der »Briefe über<br />
Bremische Zustände« - doch nun folgte<br />
das Satyrspiel in diesem Drama: Der<br />
Richter wollte ihr keinen Glauben<br />
schenken, daß sie die Schrift verfaßt habe<br />
- denn so etwas könne ein Frauenzimmer<br />
nicht schreiben.<br />
Warum sie ihren Namen nicht<br />
genannt hatte, begründete Marie Minder-<br />
mann so: »Ich mochte meinen Namen<br />
nicht der Öffentlichkeit preisgeben, weil ich<br />
- ein Weib war und meinem innersten<br />
Wesen das öffentliche Auftreten wider-<br />
strebte; ich schämte mich ein Handwerk<br />
zu treiben, das nur Männer betreiben<br />
sollten«,... und an anderer Stelle: »Wes-<br />
halb schweigen denn die Herren der<br />
Schöpfung und ballen die Hände hin-<br />
terrücks? Ich habe geschrieben, weil es<br />
kein Anderer that. Wie soll es besser<br />
werden, wenn ein Jeder seinen Mund mit<br />
einem siebenfachen Siegel verschließt?«<br />
Pastor Dulon besaß eine riesige<br />
Gemeinde, die in seine Predigten strömte<br />
und ihn enthusiastisch feierte. Als aber der<br />
Senat mit der Absetzung vollendete Tat-<br />
sachen geschaffen hatte, war Dulons<br />
Anhängerschaft im Nu in alle Winde<br />
verflogen. Einzig und allein Marie Minder-<br />
mann riskierte Kopf und Kragen zu seiner<br />
Verteidigung. Sie handelte aus der mora-<br />
lischen Verantwortung heraus, Unrecht<br />
auch Unrecht nennen zu wollen. Freilich<br />
hatte sie gehofft, unerkannt zu bleiben, als<br />
sie aber aus der Anonymität heraustreten<br />
mußte, verteidigte sie sich klug, mit Mut<br />
und Stolz. Diese so bescheidene Frau<br />
nahm Verhör, Verurteilung und die Haft,<br />
die sie anstelle einer Geldstrafe wählte,<br />
unerschrocken auf sich und ließ sich auch<br />
von der Verachtung der <strong>Bremer</strong> Damen-<br />
welt für ihr unweibliches Verhalten nicht<br />
beeindrucken; ja sie wagte noch einmal,<br />
nun mit voller Namensnennung, Polizei,<br />
Justiz und Senat aufs Korn zu nehmen,<br />
einfach indem sie in den »Eigenthüm-<br />
14
lichkeiten der <strong>Bremer</strong> Neuzeit« von ihren<br />
Erlebnissen als Beschuldigte und Häftling<br />
erzählte. Die Ironie lag diesmal in den<br />
Vorgängen selbst, die für sich sprachen.<br />
Danach mußte sich Marie Mindermann<br />
unverfänglichen Themen aus Natur und<br />
Alltag zuwenden. Als »politisch ver-<br />
dächtiger Person« war es ihr zunächst<br />
nicht einmal mehr möglich, in Bremen<br />
auch nur einen Verleger oder Drucker zu<br />
finden. Strafandrohungen mit Entziehung<br />
der Konzession oder Schließung der Druk-<br />
kerpresse taten ihre Wirkung.<br />
1848 wurden die Grundlagen für<br />
unsere heutige Gesellschaftsordnung ge-<br />
schaffen. Das gilt auch für die Frauen. Das<br />
Leben von Marie Mindermann steht exem-<br />
plarisch für eine Generation, die, durch die<br />
Revolution von 1848 politisiert, ihre Kräfte<br />
und Fähigkeiten kennenlernte und sich in<br />
die öffentlichen Belange einzumischen<br />
begann. Für viele, auch für Marie Minder-<br />
mann, war der Schritt in die Öffentlichkeit<br />
schwer, so sehr widersprach er dem weib-<br />
lichen Selbstverständnis; aber einmal voll-<br />
zogen, verlieh er den Frauen auch die<br />
Kraft, sich im Kampf um ihre Rechte zu<br />
behaupten. Als die in der Zeit der Reaktion<br />
unterdrückte deutsche Frauenbewegung<br />
sich ab 1865 wieder in Vereinen zu<br />
organisieren begann, um Bildungs- und<br />
Erwerbsmöglichkeiten für Frauen zu<br />
schaffen, erging an Marie Mindermann die<br />
Aufforderung, auch in Bremen ent-<br />
sprechende Voraussetzungen herzustel-<br />
len. Ihre Scheu, an die Öffentlichkeit zu<br />
treten, hatte sie abgelegt. Zusammen mit<br />
Ottilie Hoffmann gründete sie 1867 den<br />
»Verein zur Erweiterung des weiblichen<br />
Arbeitsgebietes«, aus dem der bis heute<br />
bestehende »Frauen-Erwerbs und Ausbil-<br />
dungsverein« hervorging.<br />
„Wäre das Sturmjahr von 1848<br />
nicht dazwischengebraust wie ein Orkan,“<br />
so wäre Marie Mindermann eine beliebte<br />
und anerkannte, aber zurückgezogen leb-<br />
ende Schriftstellerin geblieben wir wüßten<br />
vermutlich heute nichts mehr von ihr.<br />
Blick in die Ausstellung im Staatsarchiv<br />
15
Die Tochter des Kapitäns<br />
von Christine Gerdes, Bremen 2004<br />
Rezension<br />
Mit der Wahl ihres Titels setzt<br />
Christine Gerdes zwei Assoziationen frei.<br />
Es geht um ein Frauenschicksal, und weil<br />
diese Frau als Tochter ihres Vaters<br />
vorgestellt wird, offenbar um ein Schicksal<br />
aus einer Zeit, in der der Vater un-<br />
angefochtenes Oberhaupt der Familie war<br />
und den Lebensweg seiner Kinder<br />
maßgeblich bestimmte. Und wenn dieser<br />
Vater ein Kapitän war, so kommt der<br />
lokale Aspekt mit herein: die existentielle<br />
Verbundenheit der Familie mit dem<br />
Wasser, mit dem Fluss, mit dem Meer. Die<br />
"Tochter" in dieser historischen Erzählung<br />
ist Margarethe Lameyer, ihr Vater der<br />
Kapitän Lüder Wieting. Ausgangs- und<br />
Endpunkt des Lebenswegs der Marga-<br />
rethe ist Vegesack, hier schließt sich der<br />
Ring.<br />
Für die Autorin war Vegesack<br />
keineswegs der Ausgangspunkt ihrer<br />
persönlichen Geschichte, wurde sie doch<br />
im fernen Oberschlesien geboren; doch<br />
die Liebe zu ihrer zweiten Heimat spricht<br />
aus jeder Zeile ihres Buches. Frau Gerdes<br />
ist eine profunde Kennerin der Lokal-<br />
geschichte und hat sich dieses Wissen in<br />
jahrelanger Forschungsarbeit in den Ar-<br />
chiven und Bibliotheken erworben; das<br />
Quellen- und Literaturverzeichnis am Ende<br />
ihrer Veröffentlichung legt eindrucksvoll<br />
Zeugnis davon ab. Die Ergebnisse solcher<br />
langwierigen Recherchen bleiben oft nur<br />
einem kleinen Kreis Gleichgesinnter<br />
zugänglich. Frau Gerdes hat es als<br />
unbefriedigend empfunden, dass alles<br />
Erarbeitete nur in der berühmten<br />
Schublade landen und dort verstauben<br />
sollte. Es war ein glücklicher Entschluss,<br />
die Form der historischen Erzählung zu<br />
wählen, die es erlaubt, anknüpfend an<br />
eine bestimmte Person und deren<br />
Schicksal allgemeine Zeitgeschichte mit<br />
ins Spiel zu bringen und diese, durch die<br />
Augen der Heldin betrachtet, lebendig und<br />
anschaulich zu machen.<br />
Wer wird schon nach einem<br />
historischen Standardwerk über die<br />
Franzosenzeit in Bremen greifen, wenn<br />
nicht ein ganz spezielles fachliches<br />
Interesse ihn dazu veranlassen würde?<br />
Wer aber durch die amüsante Schilderung<br />
von Frau Gerdes erfährt, wie die listigen<br />
<strong>Bremer</strong> Behörden den Geburtstag Napo-<br />
leons, dessen Stern schon im Sinken war,<br />
groß mit öffentlicher Illumination und<br />
Festivitäten feierten, keineswegs aus<br />
Begeisterung für Napoleon, sondern um<br />
die immer noch in Bremen regierende<br />
französische Besatzungsmacht milde zu<br />
stimmen, der wird das gerne lesen und<br />
nicht mehr vergessen, zumal wenn ihm die<br />
Autorin mitteilt, dass im Rahmen dieses<br />
Festes Margarethe Wieting und ihr<br />
späterer Ehemann Friedrich Lameyer sich<br />
bei einem ersten Tanz unsterblich<br />
ineinander verliebten? Und so sind auch<br />
alle anderen historischen Details immer<br />
mit Personen verknüpft, seien es die<br />
16
Vegesacker Kinder, die bei der Ankunft<br />
eines Schiffes um die Wette zum Hafen<br />
liefen, um die angelandeten Waren zu<br />
inspizieren, oder die Torfbauern zu<br />
beobachten, wenn sie auf ihren flachen<br />
Kähnen mit den dunkeln Segeln den<br />
Brennstoff für die kalte Jahreszeit aus dem<br />
Teufelsmoor heranschafften.<br />
Durch den Umzug der Familie<br />
Wieting nach Bremen und die Romanze<br />
zwischen dem Senatorensohn Friedrich<br />
Lameyer und der Kapitänstocher Mar-<br />
garethe werden die Standesschranken in<br />
der konservativen <strong>Bremer</strong> Gesellschaft<br />
deutlich, die in ihren ersten Kreisen tra-<br />
ditionell unter sich blieben und die ehe-<br />
lichen Verbindungen zwischen ihren<br />
Kindern zu arrangieren pflegten. Ein-<br />
drucksvoll ist aber auch die selbst-<br />
verständliche Hilfsbereitschaft zwischen<br />
den verwandten Familien. Zu Beginn des<br />
19 Jahrhunderts stand die Medizin vielen<br />
Krankheitsbildern noch hilflos gegenüber,<br />
so dass für uns Heutige erschreckend oft<br />
junge Frauen nach der Geburt eines<br />
Kindes, junge Männer an Infek-<br />
tionskrankheiten starben, die verwaisten<br />
Kinder wurden von den Verwandten<br />
aufgezogen und ausgebildet. Andererseits<br />
zeigt sich am Beispiel des Senators<br />
Lameyer, dass Aufklärung und fort-<br />
schrittliches Denken diese Standes-<br />
schranken auch zu überwinden wussten,<br />
so dass M. Z. durch ihre Eheschließung<br />
voll akzeptiertes Mitglied einer der ersten<br />
Familien Bremens wurde. Man blieb in den<br />
ersten Kreisen traditionell unter sich; die<br />
Ehen wurden zwischen den eigenen<br />
Kindern arrangiert, wobei neben den<br />
Gefühlen der jungen Leute auch die<br />
Wahrung und Mehrung des Familienbe-<br />
sitzes eine große Rolle spielte. Die jungen<br />
Mädchen erhielten Gelegenheit, in den<br />
großbürgerlichen Häusern ihrer Tanten die<br />
Hauswirtschaft und das Repräsentieren zu<br />
erlernen.<br />
Diese gut funktionierende Sozial-<br />
ordnung konnte auch ein aufgeklärter und<br />
fortschrittlich denkender Mann wie Senator<br />
Lameyer nicht ohne Skrupel durchbre-<br />
chen. Dass sein Sohn eine Kapitänstoch-<br />
ter heiraten wollte, war nicht standes-<br />
gemäß. Als der Senator sich aber ent-<br />
schlossen hatte, das junge Paar zu<br />
unterstützen, war es zweifellos seinem<br />
hohen Ansehen zu verdanken, dass<br />
Margarethe mit ihrer Eheschließung zum<br />
voll akzeptierten Mitglied in einer der<br />
ersten Familien Bremens wurde.<br />
Die Damen der <strong>Bremer</strong> Ge-<br />
sellschaft sorgten nicht nur für das Wohl<br />
ihrer Angehörigen. Sie empfanden es als<br />
ihre Christenpflicht, den Armen zu helfen,<br />
und schlossen sich zu diesem Zweck in<br />
Vereinen zusammen. Ein solcher Frauen-<br />
verein, der armen Witwen Arbeit ver-<br />
mittelte, ihre Töchter in den weiblichen<br />
Handarbeiten ausbildete und auch eine<br />
Suppenküche betrieb, gründete sich 1837<br />
auch in Vegesack, zu einer Zeit, als<br />
Margarethe Lameyer wieder dort lebte. In<br />
17
diesem Zusammenhang erfahren wir von<br />
der stetigen Vergrößerung Vegesacks und<br />
der zunehmenden Beliebtheit der schönen<br />
Grundstücke am hohen Ufer, wo sich auch<br />
bremische Familien jetzt gerne wenigstens<br />
für den Sommer niederließen. Zugleich<br />
aber sank die Bedeutung Vegesacks als<br />
Hafenplatz, es wurde von <strong>Bremer</strong>haven<br />
überflügelt, und so wandten sich ge-<br />
schäftstüchtige Unternehmer dem Ausbau<br />
des Fremdenverkehrs zu. Unmittelbar<br />
neben Margarethes Anwesen entstand ein<br />
Hotel mit Restaurationsbetrieb, das sich<br />
bald großer Beliebtheit erfreute, zumal<br />
durch die Eröffnung der Eisenbahnstrecke<br />
Bremen-Vegesack die Hansestadt sehr<br />
viel näher gerückt war.<br />
Noch viele Informationen zur<br />
Lokalgeschichte ließen sich dem vor-<br />
liegenden Text entnehmen; sie machen in<br />
meinen Augen einen großen Reiz der<br />
Erzählung aus. Aber die Autorin ist nicht<br />
nur getreue Chronistin, sie besitzt auch<br />
eine dichterische Ader, die sie einsetzt,<br />
wenn es um Träume, um große Gefühle<br />
der Begeisterung oder der Trauer geht.<br />
Dadurch gewinnt Christine Gerdes’ Werk<br />
auch eine poetische Dimension. Wenden<br />
wir uns aber der Hauptperson Margarethe<br />
zu. Was sie in ihrem langen Leben von<br />
1793 bis 1867 erfahren hat an un-<br />
beschwerter Kindheit, glücklicher Verei-<br />
nigung und Zusammenarbeit mit dem<br />
geliebten Mann, an Freude bei der Geburt<br />
der Kinder, an Geborgenheit in gesi-<br />
cherten und geachteten Verhältnissen,<br />
das war nicht von langer Dauer. Den<br />
heiteren Jahren im Auftakt des Lebens, da<br />
alles zu gelingen schien, folgten bittere<br />
Erfahrungen, Jahre, in denen gesund-<br />
heitliche und wirtschaftliche Sorgen die<br />
junge Frau, bald junge Witwe mit vier<br />
kleinen Kindern, nie verließen. Tiefer<br />
Schmerz um den verlorenen Ehemann<br />
und um den Verlust des Landgutes<br />
Trochel, das doch ihre gemeinsame<br />
Lebensaufgabe gewesen war und das sie<br />
trotz Aufbietung der letzten Kräfte nicht<br />
hatte halten können, bestimmte für lange<br />
Zeit ihre Gefühle. Freilich hatte sie das<br />
Glück, wieder in den Schoß der Kapi-<br />
tänsfamilie und in das schöne Anwesen<br />
am hohen Ufer in Vegesack zurückkehren<br />
zu können. Aber Freude hatte ihr das<br />
Schicksal nicht mehr zugedacht. Krankheit<br />
und Tod ihrer drei Söhne, schließlich auch<br />
noch des geliebten einzigen Enkelkindes<br />
musste sie erleben, ehe der Tod sich<br />
endlich auch ihrer erbarmte.<br />
Danken wir der Autorin, die es<br />
verstanden hat, dieses exemplarische<br />
Frauenleben dem Dunkel des Vergessens<br />
zu entreißen. Ich wünsche dem Buch viele<br />
Leserinnen und Leser.<br />
18
Vorwort zu der Broschüre von<br />
"Schattenriss“ Beratungsstelle<br />
gegen sexuellen Missbrauch an<br />
Mädchen e.V."<br />
In einer älter werdenden Gesell-<br />
schaft wie der unseren sind viele Men-<br />
schen gezwungen, sich mit der Verteilung<br />
ihres Nachlasses zu beschäftigen. Das ist<br />
kein Thema, das einen besonders moti-<br />
viert, aber trotzdem ist es notwendig, sich<br />
damit auseinander zu setzen, zumal ge-<br />
rade die ältere Generation in den Jahren<br />
des Aufschwungs und des Wohlstandes<br />
oft recht beachtliche Vermögenswerte für<br />
sich realisieren konnte. Welche rechtlichen<br />
Möglichkeiten jede und jeder einzelne hat,<br />
um diese Frage nach eigenen Wünschen<br />
zu regeln, dazu bietet die vorliegende<br />
Broschüre Hilfestellung in sehr klarer, gut<br />
verständlicher Form.<br />
Da ist zunächst die Rede von den<br />
Verpflichtungen, die wir als Erblasserinnen<br />
und Erblasser zu erfüllen haben und die<br />
automatisch in Kraft treten, wenn kein<br />
Testament vorhanden ist. Durch das<br />
Abfassen eines Testamentes aber können<br />
die eigenen Interessen zur Geltung<br />
gebracht werden. Nach der Abfindung der<br />
berechtigten Personen bleibt noch etwa<br />
die Hälfte Ihres Vermögens zur freien<br />
Verfügung. Sie können diese Werte einer<br />
beliebigen Person oder auch Institution,<br />
wie z.B. "Schattenriss", zukommen lassen.<br />
Es ist wohl überflüssig, eine Organisation<br />
wie "Schattenriss" ausführlich vorzustellen.<br />
Durch ihren engagierten Einsatz für<br />
mißbrauchte Frauen und Mädchen hat sie<br />
sich seit vielen Jahren fest im öffentlichen<br />
Bewußtsein verankert. Als ältere Frau, als<br />
Mutter und Großmutter frage ich mich oft,<br />
ob es "zu meiner Zeit" auch so viel<br />
Missbrauch und Kindesentführungen ge-<br />
geben hat, wie sie uns täglich in den<br />
Medien dargestellt werden, oder ob die<br />
neuen Möglichkeiten der Technik, wie z.B.<br />
im Internet Kinderpornographie zu konsu-<br />
mieren, auch vielen Nachahmungstaten<br />
zugrunde liegen. So viel steht fest, dass<br />
die Welt für unsere Kinder und Enkel<br />
keineswegs sicherer geworden ist und die<br />
präventive wie auch die nachsorgende<br />
Betreuung von Heranwachsenden notwen-<br />
dig ist und bleibt. Angesichts der rigorosen<br />
Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand<br />
sollten wir alle uns fragen, wieweit wir als<br />
verantwortungsbewusste Bürgerinnen und<br />
Bürger in die Bresche springen und die<br />
segensreiche Arbeit von "Schattenriss"<br />
finanziell unterstützen können, vielleicht<br />
auch durch Berücksichtigung in unserem<br />
Testament.<br />
19
Leserbriefe an den Weser-Kurier<br />
Die Senatorin für Frauen ist tot - nur<br />
Männer trauern?<br />
Bei den Trauerfeiern für Hilde Adolf<br />
haben die Spitzenpolitiker von Bremen<br />
und <strong>Bremer</strong>haven gesprochen, aber keine<br />
Frau. Hilde Adolf war Senatorin für<br />
Frauen, außerdem für Arbeit, Gesundheit,<br />
Jugend und Soziales. Sie hatte als Leiterin<br />
eines solchen Mammutressorts die Wahl,<br />
den Bereich Frauen neben all den<br />
anderen von Amts wegen zu verwalten,<br />
oder sich dieser Aufgabe mit voller<br />
Überzeugung und mit ganzem Herzen zu<br />
widmen. Dass es Hilde Adolf ernst war mit<br />
der Förderung und Gleichberechtigung<br />
von Frauen, geht aus ihrer Vergangenheit<br />
als Frauenbeauftragte von <strong>Bremer</strong>haven<br />
und aus vielen Äußerungen und Trauer-<br />
anzeigen hervor. Sie hat zweifellos einen<br />
Schwerpunkt ihrer Arbeit bei den Frauen<br />
gesetzt, was auch nahe lag, denn die<br />
Bereiche Gesundheit, Jugend und Sozia-<br />
les sind ja seit alters "weibliche" Auf-<br />
gabengebiete, in denen viele Frauen tätig<br />
sind.<br />
Ich will den männlichen Rednern<br />
keineswegs absprechen, dass sie von<br />
echten Gefühlen der Erschütterung und<br />
Trauer bewegt waren, aber sicherlich wäre<br />
es im Sinne von Hilde Adolf gewesen,<br />
wenn auch eine ihrer Kampf- und Weg-<br />
gefährtinnen gleichberechtigt zu ihrem<br />
Gedenken das Wort ergriffen hätte.<br />
Frauen, die vom Gefühl und von der<br />
Kompetenz her dazu in der Lage waren,<br />
gibt es genug.<br />
Elisabeth Hannover-Drück<br />
Verein <strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong>, 29.1.2002<br />
Dieser Leserbrief wurde nicht abgedruckt.<br />
Zum Leserbrief "Kaderpolitik"<br />
vom 4. Juli 2003<br />
Herr Eller vom Verein "Väterauf-<br />
bruch" befürchtet, dass die feministische<br />
Kaderpolitik im Lande Bremen die<br />
paritätische Besetzung von Senatskom-<br />
missionen verhindert, in der Tat wird diese<br />
Einschätzung von den Ereignissen nach<br />
der Bürgerschaftswahl bestätigt. An den<br />
Koalitionsverhandlungen war nur ein ein-<br />
ziger Mann, "Herr" Elisabeth Motschmann,<br />
beteiligt. Entsprechend fiel das Ergebnis<br />
aus: nur ein männlicher Kandidat, "Herr"<br />
Karin Röpke, wurde gewählt. Auch bei den<br />
Staatsräten sind alle Posten bis auf zwei<br />
von Frauen besetzt, und das, obwohl der<br />
Senat sich darauf verpflichtet hat, das<br />
Prinzip des gendermainstreaming bei allen<br />
Amtshandlungen zu beachten.<br />
Das kommt eben davon, dass in<br />
Bremen "gender" mit "Frau" übersetzt<br />
wird. Und so kann der politische Femi-<br />
nismus mit Stolz auf die jetzt bei der<br />
Regierungsbildung erreichte beste Frau-<br />
enquote seit 1984 hinweisen. Sollte da<br />
weiterhin eine Bremische Zentralstelle für<br />
20
die Verwirklichung der Gleichberechtigung<br />
der Frau vonnöten sein? Es ist höchste<br />
Zeit, dass das Wort "gender" in Bremen<br />
endlich wieder mit "Mann" übersetzt wird!<br />
Elisabeth Hannover-Drück<br />
Verein <strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong><br />
Bremen, 4. 7 2003<br />
Rede anlässlich des 10-jährigen Jubiläums des<br />
<strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong> in der ZGF 2006<br />
21
Rede zur Namensgebung für den<br />
Steg über den See bei der<br />
Kunsthalle nach Paula Modersohn-<br />
Becker am 29. September 2007<br />
Wenn ich zu meinem kurzen<br />
Redebeitrag eine Überschrift finden sollte,<br />
so würde ich so formulieren: Der lange<br />
steinige Weg zum Steg.<br />
Der Verein <strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong>, der<br />
1991 gegründet wurde, hat sich die Auf-<br />
gabe gestellt, die Leistungen von <strong>Bremer</strong><br />
Frauen in allen Lebensbereichen, in<br />
Berufen und Vereinen, in der Politik und in<br />
der Kunst zu erforschen und einer breiten<br />
Öffentlichkeit zu präsentieren. Wir haben<br />
Ausstellungen zu großen Themen ge-<br />
macht, so 1994 zu „75 Jahren Frauen-<br />
wahlrecht zur bremischen Bürgerschaft“<br />
und 1998 eine Ausstellung im Staatsarchiv<br />
zum 150. Jahrestag der Revolution von<br />
1848 in Bremen.<br />
Mit Hilfe der Stiftung „Wohnliche<br />
Stadt“ konnten wir erreichen, dass an allen<br />
Straßen, die nach Frauen benannt sind,<br />
die Schilder durch Legenden ergänzt<br />
wurden, die die Bedeutung der betreffen-<br />
den Frau kurz umreißen.<br />
Bei der Vorbereitung dieser Aktion<br />
wurde uns deutlich, dass nur etwa 10%<br />
des <strong>Bremer</strong> Straßennetzes Frauen<br />
gewidmet sind – inzwischen mag sich der<br />
Anteil etwas vergrößert haben, denn in<br />
letzter Zeit wurden relativ viele Straßen<br />
nach Frauen benannt. Aber bis zum<br />
heutigen Tage fehlte e i n Name: der von<br />
Paula Modersohn-Becker.<br />
Dieser unwürdige Zustand war<br />
schon länger bekannt. 1996 wurde für den<br />
Bredenplatz bei der Martinikirche ein<br />
neuer Name gesucht. Auf Anregung der<br />
Landesfrauenbeauftragten Ulrike Hauffe<br />
wandten wir uns an den Bausenator mit<br />
dem Vorschlag, den Platz nach Paula<br />
Modersdoshn-Becker zu benennen. Das<br />
hätte auch Sinn gemacht, weil der Platz in<br />
unmittelbarer Nähe zum Paula Moder-<br />
sohn-Becker Museum in der Böttcher-<br />
straße liegt.<br />
Damals hatten wir mit unserem<br />
Vorstoß keinen Erfolg, aber als 2006 das<br />
Gedenkjahr für Paula seine Schatten<br />
vorauszuwerfen begann, haben wir den<br />
alten Plan noch einmal aufgegriffen. Und<br />
siehe da, der Bredenplatz, der bislang<br />
immer mit der Skulptur eines Mannes<br />
geschmückt war, auf dessen Mütze eine<br />
Möwe saß, hatte in der Zwischenzeit Mann<br />
und Möwe und auch sein Namensschild<br />
eingebüßt und schien also nur auf unsere<br />
Initiative zu warten.<br />
Doch auf Nachfrage stellte sich<br />
heraus, dass das Areal nicht mehr im<br />
Besitz der Stadt Bremen ist und vollstän-<br />
dig mit einem Hotel bebaut werden soll.<br />
Nun war guter Rat teuer. Unsere<br />
Absicht, Paula Modersohn-Becker an<br />
22
epräsentativer Stelle durch eine Straße<br />
oder einen Platz zu ehren, stieß allgemein<br />
auf offene Ohren. Aber wo sollte sich<br />
dieser Traum verwirklichen lassen? In<br />
einem Neubaugebiet an der Peripherie der<br />
Stadt sicher nicht, und im Zentrum sind<br />
natürlich alle Örtlichkeiten benannt. Ein<br />
Versuch, ein Stück der Kulturmeile für<br />
Paula umzuwidmen, war schon 2001 am<br />
Widerstand der Anrainer gescheitert.<br />
Da fiel unser Blick auf den Steg,<br />
der das Cafe Kuckuck an der Kunsthalle<br />
mit der Villa Ichon verbindet, auf den<br />
kurzen, unscheinbaren Steg, der doch die<br />
Aufmerksamkeit des Betrachters sofort<br />
fesselt, weil er souverän auf ein Geländer<br />
verzichtet, und nur durch eine Kette von<br />
Lichtern begrenzt, die sich bei Dunkelheit<br />
im Wasser spiegeln, über den Wallgraben<br />
führt.<br />
Solch ein kühnes Bauwerk, das<br />
eine der schönsten Stellen der Wallan-<br />
lagen für den Fußgänger erschließt und<br />
auch eine direkte Verbindung zum Denk-<br />
mal für Paula bilden wird, verdient es, den<br />
Namen einer mutigen Künstlerin zu<br />
tragen, so meinten wir.<br />
Der Beirat Mitte nahm unseren<br />
entsprechenden Antrag einstimmig an.<br />
Wesentliche Hilfe und Unterstützung er-<br />
hielten wir in allen Fragen, die die<br />
Finanzierung, die künstlerische Gestaltung<br />
und die Organisation betrafen, durch die<br />
Städtische Galerie Buntentor.<br />
Aber es gab auch Bedenken. Die <strong>Bremer</strong><br />
Wallanlagen sind ein ehrwürdiges, über<br />
200 Jahre altes Gartenkunstwerk von<br />
hohem Rang , und die Mitarbeiter von<br />
Stadtgrün wachen darüber, dass der<br />
ursprüngliche Charakter der Anlage nicht<br />
durch willkürliche Eingriffe gestört wird, So<br />
mussten wir unsere Pläne in einigen<br />
Punkten revidieren.<br />
Jetzt aber möchte ich den Mit-<br />
arbeitern von Stadtgrün danken, dass sie<br />
die Bronzetafeln an beiden Enden des<br />
Stegs angebracht und die heutige Na-<br />
mensgebung ermöglicht haben.<br />
Nicht nur räumlich verbindet der<br />
Steg das Theater am Goetheplatz mit der<br />
Kunsthalle, er weist auch symbolisch auf<br />
die enge Beziehung zwischen darstel-<br />
lender und bildender Kunst hin und fügt<br />
sich so als ein würdiges Glied in die<br />
<strong>Bremer</strong> Kulturmeile ein.<br />
Ich wünsche dem Steg viele<br />
Besucher, die auch, wenn das Gedenkjahr<br />
vorüber sein wird, sich gerne der großen<br />
Malerin Paula Modersohn-Becker erin-<br />
nern.<br />
23
Elisabeth Hannover-Drück bei ihrer Rede zur Einweihung<br />
24
Zur Situation von Zwangsarbeiterinnen<br />
in Bremen während des Zweiten<br />
Weltkriegs<br />
Vortrag vom 23.11.2000 im Rahmen<br />
einer Vortragsreihe des <strong>Bremer</strong><br />
<strong>Frauenmuseum</strong>s<br />
Was ist unter Zwangsarbeit im<br />
Zweiten Weltkrieg zu verstehen? In der<br />
Antwort auf eine Kleine Antrage der<br />
Grünen in der Bürgerschaft gab der Senat<br />
im Dezember 1986 folgende Definition:<br />
"Zwangsarbeiterinnen sind Menschen, die<br />
mit Gewalt oder unter Androhung von<br />
Gewalt zu Arbeitsleistungen für private<br />
Betriebe, Einzelpersonen oder staatliche<br />
und kommunale Stellen gezwungen wur-<br />
den und außerhalb regulärer Arbeits-<br />
bedingungen standen."<br />
Man kann also unter diesen Begriff<br />
viele Gruppen subsumieren: KZ-Häftlinge<br />
ebenso wie Kriegsgefangene oder andere<br />
ausländische Arbeitskräfte, soweit sie<br />
nicht aus freiem Entschluss in Deutsch-<br />
land tätig waren. In meinen Ausführungen<br />
werde ich mich auf den Versuch be-<br />
schränken, ein Bild der Situation von<br />
polnischen und russischen Frauen, die<br />
während des zweiten Weltkriegs zwangs-<br />
weise in Bremen gearbeitet haben, auf-<br />
grund der noch vorhandenen Quellen und<br />
der Sekundärliteratur zu entwerfen und<br />
aufzuzeigen, unter welchen Umständen<br />
diese Frauen nach Bremen gekommen<br />
sind und wie sich ihre Lebens- und Ar-<br />
beitsbedingungen hier gestaltet haben.<br />
Die Einschränkung auf diese Gruppe<br />
begründe ich damit, daß für die weiblichen<br />
KZ-Häftlinge bereits seit 1988 mit der<br />
Veröffentlichung von Dr. Hartmut Müller<br />
über "Die Frauen von Obernheide" eine<br />
eingehende Dokumentation vorliegt, und<br />
daß es in den anderen Volkstumsgruppen,<br />
die in Bremen zum Einsatz kamen, wie<br />
Italiener, Franzosen, Belgier, Holländer,<br />
Dänen, Norweger, Tschechen, Slowaken,<br />
eine namhafte Anzahl von Frauen nicht<br />
gegeben hat.<br />
Wie sind die Polinnen und später die<br />
Russinnen nach Bremen gekommen?<br />
Der Arbeitseinsatz von polnischen<br />
Frauen und Männern in der deutschen<br />
Landwirtschaft und im Bergbau hat eine<br />
lange Tradition, und nach dem Ende des<br />
Blitzkrieges gegen Polen im September<br />
1939 waren bei der dort herrschenden<br />
Arbeitslosigkeit viele bereit, wie üblich ins<br />
Reich zu gehen, um zu verdienen. Sie<br />
wurden auch so aufgenommen wie früher,<br />
nämlich als Saisonarbeiter, nicht als<br />
feindliche Ausländer. Das erweckte den<br />
Argwohn und die tiefsitzenden Ängste der<br />
Parteiideologen, die keine größere Sorge<br />
kannten als die vor der "Durchrassung"<br />
deutschen Blutes mit fremdvölkischem,<br />
insbesondere slawischem. Die auslän-<br />
dischen Arbeitskräfte wurden sämtlich<br />
dem Reichsführer SS und Chef der<br />
deutschen Polizei, Heinrich Himmler,<br />
unterstellt, und das Reichssicherheits-<br />
hauptamt (RSHA) versuchte mit immer<br />
25
neuen Verordnungen, das Leben der<br />
Fremdarbeiterinnen in Deutschland bis ins<br />
einzelne zu regeln, um den befürchteten<br />
Gefahren von Sabotage, Spionage und<br />
Fraternisierung mit der deutschen Bevöl-<br />
kerung entgegenzutreten.<br />
Hier wird das Dilemma der<br />
deutschen Führung mit dem Einsatz der<br />
Ausländer schon deutlich: Man brauchte<br />
die fremden Arbeitskräfte dringend für die<br />
deutsche Kriegswirtschaft, fürchtete aber<br />
auch ihr massenhaftes Hereinströmen ins<br />
Reich. Soweit es sich um "germanische"<br />
Volksgruppen handelte, wie Holländer,<br />
Flamen, Dänen und Norweger, waren sie<br />
willkommen; soweit es um Verbündete wie<br />
Italiener oder Ungarn ging, musste man<br />
trotz aller Befürchtungen die Regeln der<br />
freundschaftlichen Verbundenheit einhal-<br />
ten. Selbst den nichtgermanischen<br />
Kriegsgegnern aus Frankreich zollte man<br />
Respekt und erträgliche Arbeitsbedin-<br />
gungen. Aber gegenüber den "rassisch<br />
nicht wertvollen Randvölkern" aus dem<br />
Osten, denen man im zukünftigen Europa<br />
unter deutscher Oberhoheit nur die Rolle<br />
von Arbeitssklaven zugedacht hatte, trieb<br />
der Rassenwahn seine übelsten Blüten.<br />
Der deutsche Bürokratismus machte sich<br />
durch immer neue Verordnungen und<br />
Ergänzungen zu den Verordnungen<br />
unentbehrlich in der Hoffnung, daß durch<br />
Paragraphen und die Androhung von<br />
Strafen jedes menschliche Verhalten in<br />
den Griff zu bekommen und jede<br />
Widersetzlichkeit im Keim zu ersticken sei.<br />
Denn angestrebt war. "die Arbeitskraft der<br />
polnischen Zivilarbeiter im größtmöglichen<br />
Umfang für die deutsche Wirtschaft<br />
einzuspannen, trotzdem aber alle Gefah-<br />
ren abzuwenden, die für die Sicherheit<br />
und den rassischen Bestand des deut-<br />
schen Volkes entstehen:" (Himmler nach<br />
Marßolek-Ott, S. 412)<br />
Bremen gehörte mit Hamburg und<br />
Kiel zum Wehrkreis X, dem rüstungsinten-<br />
sivsten im Deutschen Reich. 80 % der<br />
bremischen Produktion bildeten Rü-<br />
stungsgüter, herausragend waren der<br />
Flugzeug- und Schiffbau. Die Folge waren<br />
die schon im Mai 1940 einsetzenden<br />
Luftangriffe, ca. 170 im Verlauf des<br />
Krieges, eine 70%-ige Zerstörung der<br />
Stadt und, um auf unser spezielles Thema<br />
zu kommen, eine reichliche Versorgung<br />
mit fremdvölkischen Arbeitskräften. Wie<br />
viele es insgesamt waren, steht nicht fest,<br />
vorsichtigen Schätzungen zufolge müßten<br />
es während des gesamten Krieges ca.<br />
70.000 gewesen sein. Ein genaueres<br />
Ergebnis erbrachte eine Zählung vom<br />
September 1944, bei der die Insassen der<br />
rund 200 in Bremen existierenden Lager<br />
erfasst wurden. Es handelte sich zu<br />
diesem Zeitpunkt um 38.567 Personen,<br />
um 12.653 Frauen und 25.914 Männer;<br />
die männliche Gruppe war also doppelt so<br />
stark wie die weibliche. Dazu kamen noch<br />
im Privatquartier Wohnende und in der<br />
Landwirtschaft Beschäftigte.<br />
26
Im Februar 1940 traf der erste Transport<br />
mit 110 polnischen Zivilarbeitern in<br />
Bremen ein. Wieweit die Menschen zu-<br />
nächst freiwillig kamen, wie von den<br />
Behörden immer wieder behauptet wurde,<br />
sei dahingestellt. Aber schon bald, als sich<br />
die Lebens- und Arbeitsbedingungen, vor<br />
allem auch die Verdienstmöglichkeiten, als<br />
sehr viel schlechter erwiesen als ver-<br />
sprochen und das Leben der Zivilarbeiter<br />
durch die sog. "Polenerlasse" streng<br />
reglementiert wurde, versuchten viele<br />
nach Hause zurückzukehren, wo sie die<br />
Illusionen der eventuell noch Interes-<br />
sierten zunichte machten. Die Rekru-<br />
tierung weiterer Arbeitskräfte konnte nur<br />
noch zwangsweise erfolgen. Von April<br />
1940 an galt im Generalgouvernement,<br />
d.h. in dem von der Wehrmacht besetzten<br />
Teil Polens, für alle Jahrgänge zwischen<br />
1915 und 1925 Arbeitsdienstpflicht in<br />
Deutschland. Jede Woiwodschaft hatte<br />
eine bestimmte Anzahl von Personen zu<br />
stellen. Dementsprechend wurden junge,<br />
kräftige Leute nachts aus den Betten<br />
geholt und den Transporten zugeordnet.<br />
Da aber schon viele Kandidaten vor-<br />
sichtshalber in die Wälder geflüchtet<br />
waren und die Kontingente nicht zusam-<br />
menkamen, ging man dazu über, durch<br />
Razzien solche Personen, die sich gerade<br />
auf der Straße bewegten, einzufangen und<br />
mit ihnen die Transporte aufzufüllen. (erst<br />
vor wenigen Wochen erzählte eine alte<br />
Dame bei einer Veranstaltung der<br />
Deutsch-Polnischen Gesellschaft, wie sie<br />
als junges Mädchen in Krakau<br />
nichtsahnend in solch eine Razzia geriet<br />
und sich zwei Tage später in Nordhausen<br />
im Harz als Zwangsarbeiterin wiederfand.)<br />
Was erwartete die Polinnen in Bremen?<br />
Nach oft demütigenden ärztlichen<br />
Untersuchungen und Entlausungsaktionen<br />
wurden die Neuankömmlinge, nach<br />
Geschlechtern getrennt, in Lagern unter-<br />
gebracht, die teils auf dem Firmengelände<br />
der Großbetriebe, teils in zweckent-<br />
fremdeten Schulen. Restaurants, Kino-<br />
sälen oder Fabrikhallen eingerichtet wor-<br />
den waren. Das Leben der "Zivilarbeiter<br />
und -arbeiterinnen polnischen Volkstums",<br />
wie die amtliche Bezeichnung lautete, war<br />
genau geregelt. (M.-Ott. S. 409). Streng<br />
verboten war das Verlassen des Aufent-<br />
haltsortes. Während der nächtlichen<br />
Sperrstunden durfte auch die Unterkunft<br />
nicht verlassen werden. Die Benutzung<br />
öffentlicher Verkehrsmittel war nur in<br />
Ausnahmefällen erlaubt, jeder gesellige<br />
Umgang mit der deutschen Bevölkerung,<br />
insbesondere der Besuch von Theatern,<br />
Kinos, ja sogar der Gottesdienst war ver-<br />
boten, Gaststättenbesuch und Tanzver-<br />
gnügen nur in eigens für Polen reser-<br />
vierten Lokalen erlaubt. Wer mit einer<br />
deutschen Frau oder einem deutschen<br />
Mann geschlechtlich verkehrte, sollte mit<br />
dem Tode bestraft werden. Die den<br />
Arbeiterinnen und Arbeitern übergebenen<br />
Abzeichen, ein großes P auf einem qua-<br />
dratischen Stück Stoff, mußten auf<br />
sämtlichen Kleidungsstücken auf der rech-<br />
27
ten Brustseite gut sichtbar angenäht<br />
werden - eine Vorwegnahme der Stigmati-<br />
sierung durch die „Judensterne“ um an-<br />
derthalb Jahre.<br />
Eingerahmt wurden diese drako-<br />
nischen Verbote von moralischen<br />
Appellen. Das Großdeutsche Reich gebe<br />
jedem, der freiwillig zur Arbeit nach<br />
Deutschland gekommen sei, Lohn und<br />
Brot, wenn er seine Arbeit zufrieden-<br />
stellend verrichte. Wer jedoch nachlässig<br />
sei und die Bestimmungen mißachte,<br />
werde unnachsichtig zur Rechenschaft<br />
gezogen, was eine Anzeige bei der Po-<br />
lizei, Überstellung an die Gestapo,<br />
Überweisung ins Arbeitserziehungslager<br />
oder ins KZ bedeutete. Die Verordnung<br />
wurde den Gestapostellen "nur zum<br />
Dienstgebrauch", "nur zur mündlichen<br />
Weitergabe" zugeleitet. Darüber zu spre-<br />
chen oder zu schreiben war strengstens<br />
verboten.<br />
Grundsätzlich galten diese Anwei-<br />
sungen auch für die sogenannten Ost-<br />
arbeiterinnen und Ostarbeiter, die im<br />
Verlauf des Russlandfeldzugs aus der<br />
Sowjetunion nach Deutschland gebracht<br />
wurden; aber ihr Status war noch schlech-<br />
ter und dem der sowjetischen Kriegs-<br />
gefangenen angenähert, was sich vor<br />
allem in einer völlig unzureichenden<br />
Ernährung niederschlug. Ihre Lager waren<br />
mit Stacheldraht umzäunt, sie durften sie<br />
nur unter Bewachung verlassen. Sie<br />
wurden nicht in Russland angeworben,<br />
sondern zwangsweise ins deutsche Reich<br />
überführt, was ihnen den treffenden Na-<br />
men "Zivilgefangene" eintrug. Auch sie<br />
mußten sich durch ein Abzeichen mit der<br />
Aufschrift "Ost" kenntlich machen. Bei den<br />
Transporten waren mehr als die Hälfte<br />
Frauen und Mädchen. (Herbert S. 178)<br />
Zu diesen Rahmenbedingungen<br />
kamen durch immer neue Verordnungen<br />
der bremischen Polizei noch weitere<br />
Einschränkungen hinzu, so z.B. in der 5.<br />
Polizeiverordnung vom Februar 1942 das<br />
Verbot zu fotografieren oder Fotoapparate<br />
zu besitzen, Fahrräder zu benutzen oder<br />
zu besitzen, die öffentlichen Grünanlagen<br />
zu betreten, in der Öffentlichkeit polnische<br />
Lieder zu singen. In den Ortsteilen nördl-<br />
ich der Lesum war das Betreten der<br />
Kaufläden nur zu bestimmten Stunden<br />
erlaubt, und auf den Bürgersteigen durften<br />
nicht mehr als zwei ausländische Per-<br />
sonen nebeneinander gehen - das spiegelt<br />
den Unmut der einheimischen Bevöl-<br />
kerung wider, die sich im Umfeld der<br />
<strong>Bremer</strong> Wollkämmerei von der großen<br />
Anzahl der Fremdarbeiterinnen bereits an<br />
den Rand gedrängt sah.<br />
Die Größe und Ausstattung der<br />
Lager und der Arbeitseinsatz, der ab-<br />
verlangt wurde, unterschied sich erheblich.<br />
Entscheidend war auch. wie die Vorge-<br />
setzten und das Aufsichtspersonal sich<br />
verhielten. Da gab es sadistisch veran-<br />
lagte Personen, die ihre Macht genüsslich<br />
ausspielten, schlugen und prügelten; aber<br />
28
auch solche, die ein Auge zudrückten,<br />
wenn die jungen Mädchen von einem<br />
Sonntagnachmittagsurlaub nicht pünktlich<br />
zurückkamen, die von der Arbeit er-<br />
schöpften Frauen heimlich eine Ruhe-<br />
pause verschafften oder ihr Leistungssoll<br />
herabsetzten. Wir hören von korrupten<br />
Küchenleiterinnen, die von den spärlichen<br />
Rationen noch die nahrhaftesten Bestand-<br />
teile abzweigten, aber auch von Vorar-<br />
beitern, die sich für eine etwas bessere<br />
Ernährung "ihrer" Frauen einsetzten und<br />
Abfälle beim Schlachthof und zusätzliche<br />
Suppen auf der Arbeitsstelle organisierten.<br />
Die Unterbringung in den Lagern<br />
war mehr oder weniger schlecht. Zwei-<br />
oder dreistöckige Betten in völlig über-<br />
füllten, stickigen Räumen waren die Regel.<br />
Die zuständigen Behörden setzten die<br />
Frauen bei der Errichtung von Luftschutz-<br />
bunkern, in der Zementindustrie, beim<br />
Straßen- und Brückenbau, beim Amt für<br />
Kanalisation und Abfuhrwesen, beim Sied-<br />
lungsbau, beim Gartenbauamt, und vor<br />
allem auch bei der Beseitigung von<br />
Fliegerschäden ein. Diese Aufgabe wurde<br />
immer wichtiger, je mehr die Luftangriffe<br />
zunahmen. Im Januar 1943 waren 400<br />
Ostarbeiterinnen bei der Enttrümmerung<br />
beschäftigt: Im Januar 1944 war dieser<br />
Einsatz so vordringlich geworden, daß<br />
selbst die Zuweisung einer einzigen<br />
Ostarbeiterin für eine andere Tätigkeit<br />
nicht genehmigt wurde. Alle neu ein-<br />
getroffenen Arbeitskräfte durften nur beim<br />
Bunkerbau und bei der Beseitigung von<br />
Fliegerschäden eingesetzt werden (StaB<br />
4,29/1 - 1275).<br />
Wenn auch alle die genannten<br />
Aufgabenfelder Schmutz- und Schwer-<br />
arbeit bedeuteten, so war der Einsatz bei<br />
der Enttrümmerung darüber hinaus noch<br />
sehr gefährlich. Blindgänger, einstürzende<br />
Mauern und Gewölbe bedrohten die<br />
Räumtrupps. Andererseits war es bei<br />
solchen Einsätzen möglich, Lebensmittel<br />
oder auch Kleidung in den Ruinen zu<br />
suchen und sich anzueignen. Daß dies<br />
ohne Rücksicht auf die drohende<br />
Lebensgefahr oft geschah, zeugt von dem<br />
Leidensdruck und der großen Not. Die<br />
beste Gelegenheit dazu gab es während<br />
des Fliegeralarms und der Bomben-<br />
angriffe, denn dann befand sich außer den<br />
Zwangsarbeitern kaum noch jemand auf<br />
der Straße. Den „rassisch minderwertigen“<br />
Slawen war der Zugang zu den Bunkern<br />
grundsätzlich verwehrt. Selbst die Per-<br />
sonen, die beim Bunkerbau beschäftigt<br />
waren, mußten bei Alarm den Schutzraum<br />
verlassen. Wohl gab es bei den einzelnen<br />
Lagern behelfsmäßige sog. Erdbunker, die<br />
aber kaum Schutz boten. Bei einem<br />
Luftangriff am 12. Oktober 1944 sind in<br />
Hastedt Polinnen und Russinnen, die bei<br />
der Großwäscherei Hayungs beschäftigt<br />
waren, in einem solchen Erdbunker ver-<br />
schüttet worden und umgekommen. Die<br />
Auferstehungsgemeinde, deren Kirche<br />
jetzt auf diesem Gelände steht, hat die<br />
Vorgänge von damals ausführlich doku-<br />
mentiert. Teilweise verlangten die Arbeit-<br />
29
geber auch, daß die Arbeit während des<br />
Fliegeralarms nicht unterbrochen werden<br />
durfte. Was das an Angst und auch an<br />
Aggressionen bei den Betroffenen aus-<br />
lösen mußte, kann sich jeder vorstellen.<br />
Die Entlohnung der Arbeiterinnen<br />
aus dem Osten war zu Beginn so niedrig,<br />
daß einzelne Firmen sich um die billigen<br />
Hilfskräfte rissen. Dieser unmittelbaren<br />
Bereicherung wurde schnell ein Riegel<br />
vorgeschoben, indem die Differenz<br />
zwischen dem Tariflohn und den<br />
tatsächlich ausgezahlten Löhnen von den<br />
Arbeitgebern als "Sozialausgleichsab-<br />
gabe" oder "Ostarbeiterabgabe" an den<br />
Fiskus abgeführt werden mußte. Von den<br />
Bruttolöhnen, die sich jedenfalls in den<br />
untersten Lohngruppen am Tariflohn<br />
orientierten, wurden für Unterkunft und<br />
Verpflegung 1,50 RM pro Tag einbehalten,<br />
so daß der auszuzahlende Betrag sich<br />
schließlich nur noch auf 5 oder 10 Pfen-<br />
nige täglich belief. Von diesem "Verdienst"<br />
mussten oft noch Fahrtkosten, Bekleidung<br />
und Schuhe finanziert werden.<br />
Im Januar 1943 war mit der verheerenden<br />
Niederlage der 6. Armee vor Stalingrad<br />
der Wendepunkt des Krieges erreicht. Auf<br />
vielen Gebieten begann man umzu-<br />
steuern; so auch in der Ausländerpolitik.<br />
Nun setzte man die Arbeitskräfte aus dem<br />
Osten nicht mehr nur für ungelernte<br />
Schwerarbeit ein, sondern entsprechend<br />
ihrer beruflichen Qualifikation, was sich für<br />
die Betriebe als sehr günstig erwies; ja<br />
man begann sogar, geeignete Personen<br />
zu Fachkräften auszubilden. Da jetzt nach<br />
Leistungslohn bezahlt wurde, waren die<br />
auszuzahlenden Summen höher. Eine<br />
Chance, diese Beträge an die Familien in<br />
der Heimat zu transferieren, bestand<br />
praktisch nicht, war auch aus öko-<br />
nomischen Gründen nicht gewollt. Teil-<br />
weise wurde der Lohn in Lagergeld<br />
ausgezahlt, teilweise wurde das Geld vom<br />
sog. "Ostarbeitersparen" aufgesogen. Der<br />
Tag, an dem diese Sparguthaben realisiert<br />
werden konnten, kam freilich nie, so daß<br />
sämtliche Arbeitsverhältnisse sich als<br />
krasse Ausbeutung darstellen.<br />
Wenn die deutschen Unternehmen<br />
sich auch nicht direkt am Billiglohn ihrer<br />
Beschäftigten bereichern konnten, weil<br />
das Finanzamt die Gewinnspanne kassier-<br />
te, so hatten sie doch enorme Vorteile<br />
durch die Ausweitung ihrer Geschäfts-<br />
tätigkeit, wie sie mit Hilfe der Fremd-<br />
ländischen möglich war. So mancher<br />
Betrieb, der in den 30er Jahren einen<br />
bescheidenen Umfang hatte, ging aus<br />
dem Einsatz in der Kriegswirtschaft auf<br />
Dauer gestärkt und vergrößert hervor.<br />
Auch der Staat hat durch den Einsatz der<br />
Ostarbeiterinnen in seinen Eigenbetrieben<br />
und durch ein erhöhtes Steueraufkommen<br />
kräftig an den Fremdarbeitern verdient.<br />
Bei der schweren Arbeit und der<br />
völlig unzureichenden Versorgung kam es<br />
zu häufigen Krankmeldungen. Die Arbeit-<br />
geber waren misstrauisch und sprachen<br />
30
von „Faulkranken“, die angeblich alle<br />
etwas mit dem Magen hätten, was nicht<br />
verwundere, da sie auch verdorbene<br />
Lebensmittel“ in sich reinstopften"<br />
(Mutschke S. 47).<br />
Wie die Versorgung der Kranken<br />
sich gestaltete, hing sehr von der<br />
Einstellung des medizinischen Personals<br />
ab. Soweit sie sich an ihr Berufsethos<br />
erinnerten, suchten sie ihren Patienten<br />
durch Krankschreibungen eine Atempause<br />
zu verschaffen. Für Schwerkranke gab es<br />
zentrale Krankenstationen. Zu Anfang des<br />
Krieges wurden die nicht mehr Ar-<br />
beitsfähigen in ihre Heimat zurück-<br />
geschickt; in den Jahren danach aber<br />
unterzog man die Kranken mehreren<br />
Kontroll-Untersuchungen, ob sie nicht<br />
doch noch als Arbeitskräfte wieder-<br />
hergestellt werden könnten, und es fanden<br />
kaum mehr Rücktransporte statt.<br />
Etwas Ähnliches kann von den<br />
schwangeren Frauen gesagt werden. In<br />
den Akten ist häufig die Rede von dem<br />
"nicht unbedingt erfreulichen Kindersegen"<br />
bei Russinnen und Polinnen (StaB 4,29,'l -<br />
1271). Waren Schwangerschaften bei<br />
deutschen Frauen höchst erwünscht nach<br />
dem Motto: "Der Führer braucht<br />
Soldaten!", so missbilligte man bei den<br />
Zivilarbeiterinnen vor allem die „bedroh-<br />
liche Stärkung des fremden Volkstums“<br />
und den Ausfall der Arbeitskraft. Zunächst<br />
wurden die Schwangeren nämlich in ihre<br />
Heimat zurückgeschickt, später aber<br />
vermutete man, wahrscheinlich nicht ganz<br />
zu Unrecht, daß eben diese Aussicht auf<br />
Heimkehr für so manche Schwangerschaft<br />
ursächlich war. Deshalb wurde vom<br />
Rücktransport abge-sehen, und die<br />
Betriebe, die viele Frauen beschäftigten,<br />
aufgefordert, innerhalb ihrer Lager Ein-<br />
richtungen für die Geburtshilfe und die<br />
Betreuung der Neugeborenen zu schaffen.<br />
An einem Zuwachs der slawischen<br />
Völker konnte auf deutscher Seite kein<br />
Interesse bestehen. Es galt, die Arbeits-<br />
kraft der fremdländischen Frauen optimal<br />
auszubeuten, wobei Kinder nur hinderlich<br />
sein konnten, da ihre Betreuung nicht nur<br />
Zeit, sondern auch Nahrung und Be-<br />
kleidung kosten würde.<br />
Im <strong>Bremer</strong> Umland gab es diverse<br />
"Ausländerkinder-Pflegestätten", wo die<br />
Aufzucht der Säuglinge erfolgen sollte. Die<br />
Mütter wehrten sich aber vehement<br />
dagegen, ihre Kinder dort abzugeben, weil<br />
die Sterblichkeitsrate erschreckend hoch<br />
war. 50 % bis 90 % der Säuglinge endeten<br />
kläglich, verhungerten oder starben wegen<br />
mangelnder Sorgfalt in der Pflege. In<br />
Bremen scheint es ein solches Heim nicht<br />
gegeben zu haben. Der Betriebsführer der<br />
Firma "Weser-Flug" sprach im Januar<br />
1943 bei einer Versammlung der Lager-<br />
führer seine Überzeugung aus, daß die<br />
russische Mutter ihr Kind niemals in eine<br />
solche Pflegestätte weggeben würde.<br />
Deshalb hatte der Betrieb eine eigene<br />
31
Entbindungsstation und Kinderkrippe ein-<br />
gerichtet (StaB 4.29/1 - ä271).<br />
Damit war es freilich nicht getan.<br />
Es gab auch schon ältere Kinder in den<br />
Lagern, die mit ihren Familien nach<br />
Bremen gekommen waren. Diese Kinder<br />
mußten beaufsichtigt und beschäftigt<br />
werden, brauchten Unterkunft, Nahrung<br />
und Bekleidung, bis sie schließlich im Alter<br />
von 14, manchmal aber auch schon von<br />
12 Jahren zur Arbeit herangezogen<br />
werden konnten. Der noch unproduktive<br />
Nachwuchs aber war den Behörden ein<br />
Dorn im Auge, und die schwangeren<br />
Frauen wurden sehr nachdrücklich auf die<br />
Möglichkeit einer Abtreibung hingewiesen<br />
- all das in krassem Gegensatz zur<br />
deutschen Bevölkerungspolitik, die Ab-<br />
treibungen mit der Todesstrafe bedrohte.<br />
Die Haltung gegenüber den<br />
„Fremdvölkischen“ wandelte sich im<br />
Verlauf des Krieges. Hatte man zu Anfang<br />
die Zivilarbeiter aus dem Osten nur für<br />
Schwerarbeit in Steinbrüchen, zur Trok-<br />
kenlegung von Mooren, zum Straßenbau<br />
etc. heranziehen wollen, ganz im Sinne<br />
einer "Vernichtung durch Arbeit", so wurde<br />
es doch bald notwendig, sie auch in der<br />
Industrie einzusetzen trotz großer Angst<br />
vor Geheimnisverrat und Sabotage. Man<br />
stellte dann aber doch mit Erstaunen fest,<br />
wie diszipliniert gerade die "sowjetischen<br />
Untermenschen" arbeiteten, welch hohe<br />
Leistung insbesondere die Russinnen<br />
erreichten, nämlich 50-75 % der Leistung<br />
eines deutschen Arbeiters und 90-100 %<br />
der Leistung deutscher Frauen - und wie<br />
gut ausgebildet viele waren. Und noch<br />
einen Vorteil boten die Ostarbeiterinnen:<br />
Es gab für sie keine Schutzvorschriften<br />
wie für die deutschen Frauen, die z.B.<br />
keine Nachtarbeit leisten durften. So<br />
wurden die Ostarbeiterinnen zu den<br />
idealen Beschäftigten, die man hem-<br />
mungslos ausbeuten konnte. (Herbert S.<br />
324)<br />
Durch Leistungslohn, durch Prämi-<br />
en und Urlaubsvergünstigungen suchte<br />
man die Menschen bei Laune zu halten.<br />
Die Bemühungen um eine bessere<br />
Ernährung waren allerdings nicht von<br />
Erfolg gekrönt, weil auch die Versorgung<br />
der deutschen Bevölkerung schlechter<br />
wurde. Aber man versuchte, für mehr<br />
Abwechslung zu sorgen, Künstler aus den<br />
Lagerinsassen zu rekrutieren, die in der<br />
Freizeit für ein buntes Programm sorgen<br />
sollten. Weihnachten, Neujahr und Ostern<br />
durften nach dem russischen Kalender<br />
begangen werden, ja sogar ein Wett-<br />
bewerb "Noch schönere Lager" wurde<br />
ausgeschrieben, so grotesk das klingen<br />
mag (StaB 4,29/1 -1271).<br />
Überliefert wird aber auch, daß<br />
einzelne <strong>Bremer</strong>innen und <strong>Bremer</strong><br />
versucht haben, das Los der fremden<br />
Frauen etwas zu lindern. So war es ohne<br />
großes Aufsehen zu erregen möglich,<br />
oben auf die gefüllten Mülltonnen kleine<br />
Päckchen mit Lebensmitteln zu legen.<br />
32
Kinder mit Liebesgaben zu den Frauen zu<br />
schicken oder einen Korb mit Äpfeln<br />
zufällig an der richtigen Stelle fallen zu<br />
lassen, erforderte schon mehr Mut und<br />
Geschicklichkeit. Männer hatten als Auf-<br />
sichtskräfte oder Vorgesetzte bei der<br />
Arbeit die Möglichkeit, sich schützend vor<br />
die ihnen Anvertrauten zu stellen. Immer,<br />
wenn ich bei der Beschäftigung mit der<br />
tristen Materie auf solche Zeugnisse von<br />
Menschlichkeit gestoßen bin, war es ein<br />
Lichtblick und ein Aufatmen, aber bald hat<br />
mich wieder die bange Frage beschlichen,<br />
ob diese Einzelfälle uns nur deshalb so<br />
ausführlich geschildert werden, weil sie so<br />
selten waren. Über den Umfang der<br />
Hilfeleistungen werden wir nie Klarheit<br />
erhalten, aber wenn wir uns vor Augen<br />
führen, wie jeder, der sich zur Hilfe<br />
entschlossen hat. sich selbst und seine<br />
Familie, seine Kinder, in Gefahr brachte,<br />
so wiegt jedes kleine Beispiel schwer.<br />
Stimmen, dass Ostarbeiter streng,<br />
aber gerecht behandelt werden müßten,<br />
dass es sinnlos sei, durch Prügel eine<br />
höhere Leistung erzwingen zu wollen,<br />
dass berechtigte Klagen nicht bestraft,<br />
sondern ausgeräumt werden müßten,<br />
hatte es immer gegeben. (StaB 4.29 i -<br />
1271). Als aber das Kriegende näher-<br />
rückte, trat zu solchen Überlegungen die<br />
Angst: Wie würden sich die Ausländer, die<br />
im Jahre 1944 rund ein Drittel der <strong>Bremer</strong><br />
Wohnbevölkerung ausmachten, dann ver-<br />
halten? Würden sie sich für erlittenes<br />
Unrecht an ihren Peinigern und an den<br />
Einheimischen rächen? Gab es doch<br />
schon Hinweise auf ein neues<br />
Selbstbewußtsein der „Fremdländischen“.<br />
Von jungen Russinnen, die bei Borgward<br />
arbeiteten, wird berichtet, daß sie im März<br />
1944 ihren Vorarbeiter baten, ihnen rote<br />
Stofffarbe zu besorgen - zu welchem<br />
Zweck, das verrieten sie nicht. "Und am 8.<br />
März, dem Internationalen Frauentag,<br />
kamen diese sowjetischen Frauen alle -<br />
weit über 100 - morgens bei Arbeitsbeginn<br />
eine Treppe herunter - alle mit roten Kopf-<br />
tüchern, wie eine rote Welle - gingen<br />
durch die Halle und an ihre Arbeitsplätze.<br />
So feierten sie den 8. März 1944! Es war<br />
eine Heldentat.... Diese Demonstration hat<br />
auf die deutschen Arbeiter einen großen<br />
Eindruck gemacht." (Marßolek-Ott, S.<br />
422).<br />
Ob diese Loyalität zu ihrer sowjet-<br />
russischen Heimat den jungen Frauen ein<br />
Jahr später, als der Krieg zu Ende ging<br />
und die Zwangsarbeiterinnen auf die eine<br />
oder andere Weise wieder den Heimweg<br />
antraten, genutzt und sie vor dem Vorwurf<br />
bewahrt hat, sie hätten den Feind mit ihrer<br />
Hände Arbeit unterstützt - wir wissen es<br />
nicht. Wohl aber ist bekannt, daß für viele<br />
dieser "displaced persons", dieser entwur-<br />
zelten Menschen, die Leidenszeit mit dem<br />
Ende des Krieges noch nicht vorüber war,<br />
dass sie für ihren Zwangseinsatz in<br />
Deutschland noch zusätzlich bestraft<br />
wurden.<br />
33
Benutzte Literatur und Quellen<br />
Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Bonn 1999<br />
Inge Marßolek - Rene Ott: Bremen im 3.<br />
Reich. Bremen 1986<br />
Hartmut Müller; Die Frauen von<br />
Obernheide. Bremen 1988<br />
Peter Mutschke: Zwangsarbeit.<br />
Ungedruckte Magisterarbeit Bremen 1986<br />
.<br />
Raimond Reiter: Tötungsstätten für<br />
ausländische Kinder im 2. Weltkrieg.<br />
Hannover 1993<br />
StaB 4,29/1 - 1271, 1275, 1276, 1278.<br />
Verordnung Himmlers über die Kennzeichnung polnischer Zwangsarbeiterm<br />
Gesamtzeitraum 1939 bis 1945 leisteten insgesamt ca. 1,6 Mio polnische Zivilisten und ca.<br />
300.000 polnische Kriegsgefangene in Deutschland Zwangsarbeit.<br />
34
<strong>Bremer</strong> Frauen von A bis Z. - ein<br />
biografisches Lexikon. Bremen 1991<br />
Das <strong>Bremer</strong> Frauenlexikon wurde im<br />
Rahmen der Feministischen Geschichts-<br />
werkstatt von belladonna erarbeitet. Bei<br />
einem ersten Treffen von Interessentinnen<br />
im Jahre 1990 war überlegt worden,<br />
welches Thema bearbeitet werden sollte.<br />
Ich machte damals den Vorschlag, ein<br />
Nachschlagewerk über <strong>Bremer</strong> Frauen<br />
zusammenzustellen.<br />
Bei meiner Arbeit im Staatsarchiv<br />
hatte ich die beiden Bände „Bremische<br />
Biographien des 19. Jahrhunderts“ und<br />
den nachfolgenden Band „Bremische<br />
Biographien von 1912 - 1962 “ als sehr<br />
hilfreich gerne benutzt. Nur war meine<br />
Suche nach Biographien von Frauen in<br />
diesen zu 97% bedeutenden Männern<br />
gewidmeten Wälzern kaum einmal von<br />
Erfolg gekrönt. Dass in den Jahren 1912<br />
bis 1962 neben 544 Männern nur 21<br />
Frauen der Erwähnung wert befunden<br />
wurden, entspricht nicht der historischen<br />
Realität, sondern dem spezifischen Blick-<br />
winkel der Verfasser.<br />
Die Ausstellung des Staatsarchivs<br />
„<strong>Bremer</strong> Frauen in der Weimarer Republik<br />
1918 – 1933“ hatte schon 1987 deutlich<br />
gemacht, wie viele Frauen auch hierzu-<br />
lande nach der Erringung des Stimmrechts<br />
und des Zugangs zu allen Berufen wich-<br />
tige Beiträge zum öffentlichen Leben<br />
geleistet haben. Ihre Spuren im<br />
Gedächtnis ihrer Familien, in Bürger-<br />
schaftsprotokollen und Tageszeitungen, in<br />
Werkverzeichnissen und Vereinsakten<br />
auszugraben, war in vielen Fällen echte<br />
Pionierarbeit, und die Ergebnisse sollten<br />
nicht wieder verloren gehen. So entstand<br />
der Plan zu einem speziellen Frauen-<br />
lexikon, und die Gruppe hat sich ans Werk<br />
gemacht, das nach einem guten Jahr<br />
vorlag und gleich nach seinem Erscheinen<br />
zu einem Bestseller wurde.<br />
Das Frauenlexikon ist keine<br />
Veröffentlichung des <strong>Bremer</strong> Frauen-<br />
museums. Es entstand kurz vor der<br />
Gründung unseres Vereins unter der<br />
Leitung von Hannelore Cyrus, die als<br />
Herausgeberin firmiert Neben ihr werden<br />
als Herausgeberinnen folgende Frauen<br />
genannt, die heute unserem Verein<br />
angehören: Christine Holzner-Rabe, Edith<br />
Laudowicz, Renate Meyer-Braun und ich.<br />
Außerdem haben die Vereinsfrauen<br />
Romina Schmitter und Sabine Toppe<br />
wichtige Beiträge geleistet. Da das<br />
Lexikon seit vielen Jahren vergriffen ist,<br />
haben wir die von den genannten Frauen<br />
geschriebenen Porträts und denen, die<br />
uns ihre Genehmigung dazu gaben, ins<br />
Internet gestellt., um sie auf diese Weise<br />
weiterhin zugänglich zu machen.<br />
Das Lexikon stellt mit Ausnahme<br />
der Gräfin Emma von Lesum, nur Frauen<br />
des 19. und 20. Jahrhunderts dar, da die<br />
35
Quellenlage für die frühere Zeit sich als zu<br />
dürftig erwies.<br />
Obwohl die Auswahl stark vom<br />
Wissen und den Interessen der<br />
Mitarbeiterinnen geprägt wurde, so glaube<br />
ich doch, dass wir den genannten<br />
Zeitraum fast vollständig erfasst haben.<br />
Die wenigen Lücken, die moniert wurden,<br />
wären leicht zu füllen, wenn eine<br />
Neuauflage des Buches in Aussicht<br />
stünde, aber leider sind wir momentan<br />
nicht in der Lage, uns diese Arbeit<br />
vorzunehmen.<br />
Eingeteilt sind die Texte nach den<br />
Berufen und Tätigkeiten, denen die<br />
Frauen ihre Reputation verdanken, d.h.<br />
den Autorinnen, Künstlerinnen, Päda-<br />
goginnen, Politikerinnen und den<br />
<strong>Bremer</strong>innen in Verbänden und verschie-<br />
denen Berufen. Die einzelnen Lebens-<br />
bilder sind von unterschiedlicher Länge,<br />
zum großen Teil durch Porträtfotos<br />
ergänzt. Die Nennung der benutzten<br />
Literatur am Rand der jeweiligen Texte ist<br />
sehr benutzerfreundlich und wird hof-<br />
fentlich noch so manche Leserin zu<br />
weiteren Nachforschungen anregen.<br />
Das Verdienst des Lexikons<br />
besteht nicht in der kurzgefassten<br />
Darstellung altbekannter <strong>Bremer</strong> Persön-<br />
lichkeiten, die selbstverständlich nicht<br />
ausgeklammert werden konnten, sondern<br />
vielmehr im Erinnern an Frauen, die wenig<br />
bekannt, schon halb vergessen und von<br />
der endgültigen Tilgung aus dem<br />
kollektiven Gedächtnis bedroht sind.<br />
Diesem Schicksal sind Frauen schnell<br />
unterworfen. Wer viele Biographien gele-<br />
sen hat, weiß ein Lied davon zu singen,<br />
dass die Persönlichkeit und das Agieren<br />
der Väter meist ausführlich beschrieben<br />
wird, während von den Müttern entweder<br />
gar nicht oder nur am Rande die Rede ist.<br />
Das erklärt sich daraus, dass das tägliche<br />
Wirken und Sorgen der Hausfrau unin-<br />
teressant ist, das gelegentliche Auftreten<br />
der Väter bei besonderen Anlässen ent-<br />
weder Abwechslung und Vergnügen oder<br />
Furcht und Schrecken bedeutet und sich<br />
tief ins Gedächtnis eingegraben hat.<br />
Besonders vom Vergessen bedroht sind<br />
alleinstehende Frauen, von denen oft nicht<br />
einmal ein Bildnis überliefert ist, weil nach<br />
ihrem Tode niemand mehr ein Interesse<br />
daran findet. Auch bei den Frauen aus<br />
proletarischem Milieu steht es schlecht um<br />
die Überlieferung.<br />
Autorinnen<br />
Gemeinsam ist fast allen im<br />
Lexikon erwähnten Schriftstellerinnen die<br />
Herkunft aus gut bürgerlichem Haus. Da<br />
sind die Damen, die als Ehefrauen Ge-<br />
dichte und Novellen, häufig auch Erin-<br />
nerungsbilder aus der eigenen Kindheit zu<br />
Papier brachten und veröffentlichten.<br />
Heraus ragen zwei Frauen, die in der Mitte<br />
des 19. Jh. sich in der 48er Revolution<br />
einen Namen machten: Louise Aston, die<br />
geschiedene Frau, die die freie Liebe<br />
propagierte, Männerhosen trug und an<br />
36
den Kämpfen um Schleswig-Holstein<br />
teilgenommen hatte. Sie war keine<br />
<strong>Bremer</strong>in, heiratete aber den <strong>Bremer</strong> Arzt<br />
Eduard Meier, den sie in ihr Schicksal als<br />
Verfemte und allerorten Ausgewiesene mit<br />
hineinzog.<br />
Ein anderes Beispiel weiblicher<br />
Einmischung mit der Feder zeigt die<br />
Tochter eines <strong>Bremer</strong> Tischlermeisters,<br />
Marie Mindermann, die die Ehe ausschlug,<br />
mit anonymen Schriften in den <strong>Bremer</strong><br />
Kirchenkampf eingriff und für ihre Über-<br />
zeugung ins Gefängnis ging, danach aber<br />
mit unpolitischen Gedichten und Erzäh-<br />
lungen ihren Unterhalt verdienen musste.<br />
Wegen ihrer Reformideen wurde<br />
die Lehrerin Tami Oelfken in der NS-Zeit<br />
aus dem Beruf gedrängt, und nachdem sie<br />
in die Schriftstellerei ausgewichen war,<br />
auch mit Schreibverbot belegt. Unter<br />
Pseudonym für deutsche Zeitungen im<br />
Ausland schreibend und ständig auf der<br />
Flucht vor der Gestapo konnte sie sich nur<br />
mühsam über Wasser halten. Eine<br />
Rehabilitierung nach 1945 blieb ihr<br />
versagt, weil sie als Sozialistin im<br />
Adenauerdeutschland Anstoß erregte. Ihr<br />
Werk ist für das Lesepublikum noch zu<br />
entdecken Zu großer Bekanntheit ge-<br />
langten zwei Heimatdichterinnen, Anna<br />
Andresen und Alma Rogge, die in enger<br />
Verbundenheit mit ihrer bäuerlichen<br />
Herkunft und der plattdeutschen Sprache<br />
ihre Werke schufen.<br />
Künstlerinnen<br />
117 Seiten sind im Frauenlexikon<br />
Künstlerinnen gewidmet. 60 Namen wer-<br />
den genannt und mit teils sehr kurzen,<br />
teils ausführlichen Texten gewürdigt. Ge-<br />
meinsames Merkmal ist ihre bürgerliche<br />
Herkunft, es sind Frauen aus <strong>Bremer</strong> Pa-<br />
trizierfamilien darunter.<br />
Da die Kommentatorin vor dieser<br />
Fülle kapitulieren muss, möchte ich mich<br />
auf folgende Randbemerkung beschrän-<br />
ken: Vor zwei Wochen war ich zu Besuch<br />
in Freiburg im Breisgau, einer Stadt im<br />
Süden unserer Republik, ausgesprochen<br />
weit von Bremen entfernt. Wer beschreibt<br />
mein Erstaunen, als ich in einem neu<br />
organisierten Stadtteil auf den Paula-<br />
Modersohn-Platz stieß! Was in ihrer<br />
Heimatstadt Bremen nicht gelungen ist,<br />
diese weltweit bekannte Künstlerin,<br />
vermutlich die bekannteste <strong>Bremer</strong>in über-<br />
haupt, im öffentlichen Raum in ange-<br />
messenem Rahmen zu präsentieren, ist<br />
nun in Freiburg, das meines Wissens<br />
keine besondere Beziehung zu Paula hat,<br />
Wirklichkeit geworden. Dass die Namens-<br />
gebung den Mädchennamen der Künst-<br />
lerin verschweigt und damit ihr Werk in<br />
den Dunstkreis ihres Mannes Otto Moder-<br />
sohn verlegt, ist zwar ein schmerzlicher<br />
Schönheitsfehler. Trotzdem freue ich mich,<br />
dass die BürgerInnen der Schwarzwald-<br />
metropole ihren Gesichtskreis so entschei-<br />
dend erweitert haben.<br />
37
Doch was ein Fortschritt für<br />
Freiburg ist, ist eine Schande für Bremen.<br />
Wir sollten in unseren Bemühungen nicht<br />
nachlassen, diesen Schandfleck aus der<br />
<strong>Bremer</strong> Agenda zu tilgen!<br />
Von Elisabeth Hannover-Drück wurden<br />
folgende Porträts geschrieben:<br />
Marie Therese Cabisius<br />
Anna Elisabeth Dittrich<br />
Elisabeth Forck<br />
Tusnelde Forck<br />
Johanne Kippenberg<br />
Berta Johanna Lürssen<br />
Elisabeth Lürssen<br />
Johanne Roselius<br />
Anna Schomburg<br />
Maria Schröder<br />
Anna Vietor<br />
Cecilie Brickenstein<br />
Elise Kesselbeck<br />
Henny Sattler<br />
Meta Sattler<br />
Emmalene Bulling<br />
38
Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung<br />
über Rosa Luxemburg im Gewerk-<br />
schaftshaus Bremen 1999<br />
Es ist mir eine Freude und Ehre,<br />
dass ich heute, am 9. November 1999,<br />
einige Worte zur Eröffnung der Aus-<br />
stellung über Rosa Luxemburg im <strong>Bremer</strong><br />
DGB-Haus sagen kann.<br />
Bitte erwarten Sie nicht, dass mir in<br />
wenigen Minuten eine vollständige Wür-<br />
digung dieser außergewöhnlichen Frau,<br />
ihres Kampfes und ihrer Wirkung gelingen<br />
könnte. Ich werde versuchen, einige Ge-<br />
sichtspunkte aufzuführen, die mir wichtig<br />
und charakteristisch erscheinen.<br />
Zunächst wurde ich stutzig, als ich<br />
vom Datum der Eröffnung hörte: Was hat<br />
Rosa Luxemburg mit dem 9. November,<br />
diesem Schicksalstag der Deutschen, zu<br />
tun?<br />
Ganz aktuell ist ja heute das<br />
Gedenken an den Fall der Mauer vor zehn<br />
Jahren - an einen Glücksfall in der<br />
deutschen Geschichte. Verfolgen wir aber<br />
dieses Datum durch den Lauf unseres<br />
Jahrhunderts, so stoßen wir auf<br />
Umbruchssituationen und Ereignisse mit<br />
düsterer Vorbedeutung, die alle eng<br />
miteinander verknüpft sind.<br />
Der 9. Nov. 1918 war der Tag, an<br />
dem der Kaiser abdankte und gleich<br />
zweimal die Republik, die "deutsche"<br />
durch Philipp Scheidemann und die "freie<br />
sozialistische" durch Karl Liebknecht<br />
ausgerufen wurde. Damit kündigten sich<br />
schon die blutigen Auseinandersetzungen<br />
um die neue Staatsform an: Sollte<br />
Deutschland parlamentarische Republik<br />
oder Räterepublik werden? Es war auch<br />
der Tag, der Rosa Luxemburg nach<br />
zweieinhalb Jahren "Schutzhaft" endlich<br />
die Freiheit wiedergab, und an dem ihre<br />
letzte aktive Lebensphase begann.<br />
Den Hitlerputsch vom 8./9. No-<br />
vember 1923 hat sie nicht mehr erlebt,<br />
den Versuch Hitlers, mit einem Marsch auf<br />
Berlin den "Novemberverbrechem" die<br />
Macht zu entreißen, ebenso wenig die<br />
Reichspogromnacht vom 9./10. November<br />
1938.<br />
In diese Reihe gehört auch das<br />
Attentat auf Hitler vom 8. November 1939,<br />
verübt von dem Schreiner Georg Eisler,<br />
um den Krieg zu verhindern. Diese Tat<br />
eines Einzelgängers ist erst in den letzten<br />
Jahren eindeutig dem deutschen Wider-<br />
stand zugerechnet und allgemein bekannt<br />
gemacht worden.<br />
Judenpogrome hat es zu Rosa<br />
Luxemburgs Zeiten in Deutschland nicht<br />
gegeben, wohl aber Antisemitismus und<br />
rassistische Hetze. Trotzdem mochte das<br />
Kaiserreich den in Rußland und Russisch-<br />
Polen lebenden Juden als ein Hort der<br />
Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Ord-<br />
nung erscheinen, während ihre Heimat-<br />
länder immer wieder von Judenver-<br />
folgungen erschüttert wurden., so z.B.<br />
Polen durch das Pogrom von 1881.<br />
Damals war Rosa Luxemburg zehn Jahre<br />
39
alt; die Familie lebte in Warschau. Sie<br />
gehörte zu den assimilierten Juden, hielt<br />
sich vom jüdischen Gemeindeleben und<br />
den altüberkommenen religiösen Bräu-<br />
chen fern, ohne allerdings zum Christen-<br />
tum zu konvertieren. Im Hause sprachen<br />
die Luxemburgs nicht jiddisch, sondern<br />
polnisch, russisch und deutsch. Besonders<br />
Rosas Mutter begeisterte sich für die<br />
Literatur der deutschen Romantik und für<br />
Friedrich Schiller.<br />
Für Rosa Luxemburg war ihre<br />
jüdische Abstammung kein Thema, mit<br />
dem sie sich öffentlich auseinandergesetzt<br />
hätte. Die zionistische Bewegung erntete<br />
nur ihren Spott, denn sie war grundsätzlich<br />
gegen die Aufteilung der Menschen nach<br />
Rassen und Nationen und die Gründung<br />
entsprechender neuer Staatsgebilde.<br />
Es war in den letzten Jahren viel<br />
die Rede von der "doppelten Behin-<br />
derung", jüdisch und weiblich zu sein.<br />
Aber auch diese "Behinderung" durch ihr<br />
Geschlecht hat Rosa Luxemburg ignoriert,<br />
wohl mitbedingt durch die Tatsache, daß<br />
sie eine hervorragende, der ihrer Brüder<br />
gleichwertige Schulbildung genossen hat-<br />
te, wie es für die Töchter emanzipierter<br />
jüdischer Familien viel früher üblich war<br />
als für ihre christlichen Schwestern, und<br />
daß sie studieren konnte. Gleichzeitig mit<br />
ihr waren auch deutsche Frauen an der<br />
Universität in Zürich eingeschrieben, z.B.<br />
die Hamburgerin Anita Augspurg, die<br />
später als eine der führenden Frauen-<br />
rechtlerinnen von sich reden machte.<br />
Rosa Luxemburg hat keinen Kontakt zu<br />
der gleichfalls Jura Studierenden gesucht<br />
und sich nie in der Theorie für die Rechte<br />
der Frauen eingesetzt, wenn auch ihre<br />
ganze Lebenspraxis ein Ringen war um<br />
gleichwertige Anerkennung in der Männer-<br />
gesellschaft. Aber als starke Persönlichkeit<br />
von großer Durchsetzungskraft und<br />
scharfer Intelligenz, von unbändigem<br />
Kampfgeist und frappierender Zivilcourage<br />
hat sie ihre Weiblichkeit wohl nie als<br />
Defizit betrachtet. Ihr als Marxistin ging es<br />
nicht um den Gegensatz der Ge-<br />
schlechter, sondern um den Gegensatz<br />
zwischen Arbeit und Kapital, nicht um die<br />
Frauen allein, sondern um das Proletariat.<br />
Viele Menschen kennen Rosa<br />
Luxemburg weniger als Politikerin, son-<br />
dern von einer anderen Seite, die land-<br />
läufig als "weiblich" eingestuft wird und in<br />
Rosas an Facetten reicher Persönlichkeit<br />
große Bedeutung hatte. Viele haben sich<br />
bewegen lassen von ihren Briefen aus<br />
dem Gefängnis, in denen sich ihr tiefes<br />
Mitgefühl mit der im Krieg und durch den<br />
Krieg geschundenen und leidenden<br />
Kreatur ausspricht, aber auch ihre an-<br />
steckende Freude an allen Erscheinungen<br />
der Natur vor ihrem Zellenfenster, seien es<br />
Pflanzen, Insekten oder Vögel.<br />
Ursprünglich hatte Rosa Luxem-<br />
burg Naturwissenschaften studieren wol-<br />
len und nicht Nationalökonomie und<br />
Statistik. Sie verfügte über ein umfang-<br />
reiches botanisches Wissen, das sie<br />
ständig vervollkommnete und erweiterte.<br />
40
Auch dies betrieb sie mit der ihr eigenen<br />
Vehemenz, so daß sie eines Tages aus<br />
Ärger in Ohnmacht fiel, weil sie Name und<br />
Familie einer auf den Wiesen von<br />
Lichterfelde gefundenen Pflanze nicht<br />
bestimmen konnte.<br />
Leidenschaftlichkeit war Rosa<br />
Luxemburgs Wesensmerkmal; sie prägte<br />
auch ihre Beziehungen zu Kampf-<br />
genossen und politischen Gegnern, zu<br />
Freundinnen und Liebhabern. Feinde<br />
fürchteten die gnadenlose Schärfe ihres<br />
Urteils, die Verhöhnung durch ihre treff-<br />
sichere Ironie; aber auch verdiente<br />
Parteigenossen zitterten vor diesem<br />
"Hecht im Froschteich der deutschen<br />
Sozialdemokratie".<br />
Karl Kautsky beschrieb die Wirkung<br />
der jungen Frau, die 1898 mit 27 Jahren<br />
nach Berlin kam und sofort in der Partei<br />
eine Rolle zu spielen begann, folgen-<br />
dermaßen: "Meisterin des Wortes und der<br />
Feder, reich belesen, mit starkem<br />
theoretischen Sinn, scharfsinnig und<br />
schlagfertig, mit einer geradezu fabel-<br />
haften Unerschrokkenheit und Respekt-<br />
losigkeit, die sich vor niemand beugte,...<br />
erregte sie schon bei ihrem ersten<br />
Auftreten allgemeine Aufmerksamkeit und<br />
gewann die begeisterte Zustimmung, ja<br />
stellenweise geradezu schwärmerische<br />
Bewunderung derjenigen, deren Sache sie<br />
vertrat, sowie den bittersten Haß<br />
derjenigen, gegen die sie den Kampf<br />
aufnahm."<br />
Die Deutsche Sozialdemokratie<br />
galt um die Jahrhundertwende als die<br />
bedeutendste Partei der Internationale.<br />
Um sich hier ein vielversprechendes<br />
Wirkungsfeld zu eröffnen, hatte Rosa<br />
Luxemburg durch eine Scheinehe die<br />
deutsche Staatsangehörigkeit erworben.<br />
Doch sie störte sich an der Saturiertheit<br />
der Partei und der Gewerkschaften, die<br />
nach der Aufhebung des Sozialisten-<br />
gesetzes sich zu Massenorganisationen<br />
mit fester bürokratischer Struktur und<br />
wohlgefüllten Streikkassen entwickelt<br />
hatten. Die großen alten Männer an der<br />
Spitze, die wie Petrefakte aus der hero-<br />
ischen Phase der Partei im 19. Jahr-<br />
hundert in die neue Zeit hineinragten,<br />
genossen in der Welt und in den eigenen<br />
Reihen fraglose Autorität, wogegen der<br />
Feuergeist Rosa Luxemburgs aufbe-<br />
gehrte. "Man muß Bebel und die anderen<br />
Greise vorwärtsstoßen", war ihre Über-<br />
zeugung, und wenn ihr mit dem Verdikt:<br />
"Du Gelbschnabel, ich könnte Dein Groß-<br />
vater sein", der Mund verboten werden<br />
sollte, so bedeutete das für sie nur das<br />
Eingeständnis, daß besagter Großvater<br />
mit seinen logischen Gründen auf dem<br />
letzten Loch pfeife. Die alte Garde der<br />
"Parteiphilister" wußte ihre Leistungen für<br />
die SPD wohl zu schätzen. Sie war eine<br />
hinreißende Rednerin, eine erfolgreiche<br />
Agitatorin, aber auch eine viel beachtete<br />
Theoretikerin zu Fragen der National-<br />
ökonomie und der politischen Strategie<br />
und wurde als einzige Frau als Dozentin<br />
an die Parteischule berufen.<br />
41
Trotzdem blieb das gegenseitige<br />
Verhältnis immer zwiespältig. Niemand<br />
war vor Rosas scharfer Zunge sicher.<br />
Weder aus Pietät noch aus "Kamerad-<br />
schaftlichkeit" war sie zu irgendwelchen<br />
Kompromissen bereit, und als der alte<br />
Bebel sich erbot, ihre Schulden zu<br />
begleichen, fasste sie das als patri-<br />
archalische Gönnerhaftigkeit auf, die sie<br />
empörte.<br />
Um der Gerechtigkeit willen<br />
müssen wir anerkennen, daß die SPD, die<br />
damals ein breites Spektrum von<br />
politischen Strömungen umfaßte, der<br />
radikalen Linken Rosa Luxemburg eine<br />
Plattform bot, von der aus sie für ihre<br />
großen Themen, die dem Zeitgeist der<br />
wilhelminischen Epoche total wider-<br />
sprachen, eintreten konnte. Sie kämpfte<br />
gegen Militarismus, Aufrüstung und Rekru-<br />
tenschinderei, gegen das deutsche Welt-<br />
machtstreben und die Kriegsgefahr. Dem<br />
nationalistischen Selbstbestimmungsrecht<br />
der Völker setzte sie den Internati-<br />
onalismus entgegen. "Die Heimat des<br />
Proletariers ist die Internationale", so<br />
lautete ihr Diktum. Mit den Genossen gab<br />
es Machtspiele, bald scherzhaft unter-<br />
schwellig ausgetragen, bald in bitteren<br />
Ernst und heftige Auseinandersetzungen<br />
mündend, die einen endgültigen Bruch<br />
herbeiführten. Mit ihren Freundinnen aber<br />
blieb Rosa Luxemburg. über die Jahre hin<br />
treu verbunden. Sie entstammten alle dem<br />
sozialistischen Milieu, waren Kampfgefähr-<br />
tinnen wie Clara Zetkin, Mitarbeiterinnen<br />
und Seelentrösterinnen, die aber auch<br />
harsche Kritik erdulden mußten, wenn sie<br />
den Erwartungen Rosas nicht entsprachen<br />
und sich kleinmütig zeigten. Doch ließ sie<br />
es nie zum Äußersten kommen, sondern<br />
lenkte mit unwiderstehlichem Charme im<br />
letzten Augenblick immer wieder ein.<br />
Nicht so gegenüber dem pol-<br />
nischen Revolutionär Leo Jogiches, ihrer<br />
großen Liebe aus der Studienzeit in<br />
Zürich. Auch in ihren privaten Bezie-<br />
hungen zu Männern war sie kompro-<br />
misslos und fordernd, obwohl sie sich<br />
bewußt war, keine besonders vorteilhafte<br />
Erscheinung zu sein.<br />
Mit ihrem Hüftleiden, ihrer winzigen<br />
Statur und ihrer sehr ausgeprägten Nase<br />
entsprach sie keineswegs dem weiblichen<br />
Schönheitsideal. Luise Kautsky urteilte;<br />
"Ihr Äußeres war klein und wäre un-<br />
scheinbar gewesen, hätten nicht ihre<br />
schönen leuchtenden Augen, das feine<br />
Oval des Gesichts, der schöne Teint und<br />
das reiche dunkle Haar sowie haupt-<br />
sächlich der Ausdruck von Intelligenz sie<br />
verschönt." Weil Jogiches dem Enga-<br />
gement für die Weltrevolution den Vorrang<br />
vor allem Privaten gab, trennte sich Rosa<br />
nach Jahren des sehnsüchtigen, doch ver-<br />
geblichen Hoffens und Werbens gänzlich<br />
von ihm.<br />
Ihre enge Beziehung zu Kostja<br />
Zetkin und ihre Freundschaft mit Hans<br />
Diefenbach zerstörte der erste Weltkrieg.<br />
Dass nicht nur diese ihrem Herzen so<br />
nahestehenden jungen Männer, sondern<br />
auch Millionen unbekannter Soldaten<br />
42
täglich der Todesgefahr im Schützen-<br />
graben ausgesetzt waren, dass die von ihr<br />
erhoffte internationale Solidarität der<br />
Proletarier in Uniform bei Kriegsbeginn in<br />
Patriotismus umgeschlagen, ihr jahre-<br />
langer Kampf vergeblich gewesen war,<br />
dass schließlich die deutschen Sozial-<br />
demokraten geschlossen den Kriegs-<br />
krediten zugestimmt hatten - diese Erfah-<br />
rungen haben sie zutiefst erschüttert.<br />
Die Frau, die aktiv an der<br />
russischen Revolution von 1905 teil-<br />
genommen und damals bekannt hatte:<br />
"Ich lebe am fröhlichsten im Sturm", war<br />
fast für die gesamte Dauer des Krieges<br />
zur Tatenlosigkeit in Gefängnis- und<br />
Festungshaft verdammt. In den engen, oft<br />
übelriechenden Zellen wehrte sie sich mit<br />
privater und politischer Korrespondenz<br />
gegen die Verzweiflung.<br />
Mit der "Juniusbroschüre" legte sie<br />
1915 eine prophetische Vorausschau auf<br />
das Kriegsende vor, entstanden im<br />
Weibergefängnis in Berlin. Ihre kritischen<br />
Anmerkungen zur Oktoberrevolution in<br />
den "Spartakusbriefen" enthalten die<br />
vielzitierten Sätze, die ihr Verständnis<br />
eines demokratischen Sozialismus kurz<br />
umreißen: "dass ohne freie ungehemmte<br />
Presse, ohne ungehindertes Vereins- und<br />
Versammlungsleben gerade die Herr-<br />
schaft breiter Volksmassen undenkbar ist.<br />
Freiheit nur für die Anhänger der<br />
Regierung, nur für die Mitglieder einer<br />
Partei... ist keine Freiheit. Freiheit ist<br />
immer nur die Freiheit des anders<br />
Denkenden...". Diese Abhandlung schrieb<br />
sie im Breslauer Gefängnis.<br />
Am 9. November 1918 wurde Rosa<br />
Luxemburg aus der Haft entlassen. Sie<br />
war krank und durch ein Magenleiden<br />
geschwächt, aber, wie Clara Zetkin es<br />
ausdrückte: "Die kleine, zerbrechliche<br />
Rosa war die Verkörperung beispielloser<br />
Energie. Sie forderte jeden Augenblick das<br />
Höchste von sich und erhielt es. Wenn sie<br />
unter einer Anstrengung zusammen-<br />
zubrechen drohte, so 'erholte' sie sich bei<br />
einer noch größeren Leistung. Bei Arbeit<br />
und Kampf wuchsen ihr Flügel."<br />
Sie reiste nach Berlin, eilte vom<br />
Bahnhof direkt in die Redaktion der „Roten<br />
Fahne". In den ihr noch verbleibenden<br />
Wochen setzte sie alle Kraft daran, in<br />
Artikeln und Flugschriften immer wieder<br />
aufs neue die Ziele der Revolution und<br />
Wege zu ihrer Verwirklichung aufzuzeigen.<br />
Wie stets betonte sie die führende Rolle<br />
der Massen, aber auch die Notwendigkeit,<br />
daß das Proletariat noch viele praktische<br />
Erfahrungen im Kampf am Arbeitsplatz<br />
machen und den Klassenkampf hinaus<br />
aufs Land tragen müsse, denn nur mit der<br />
Zustimmung der großen Mehrheit des<br />
deutschen Volkes könne die Revolution<br />
gelingen. Es kann nicht meine Aufgabe<br />
sein, hier den Verlauf der Novem-<br />
berrevolution zu skizzieren. Innerhalb die-<br />
ses insgesamt tragischen Geschehens<br />
spielte sich die persönliche Tragödie der<br />
Rosa Luxemburg ab. Ihre letzten Lebens-<br />
tage waren von der Entscheidung ver-<br />
43
düstert, die sie wider besseres Wissen an<br />
den verfehlten und aussichtslosen Berliner<br />
Aufstand zugunsten des Polizeipräsi-<br />
denten Eichhorn fesselte. Zu früh war<br />
nach ihrer Überzeugung losgeschlagen<br />
worden, aber sie blieb zusammen mit Karl<br />
Liebknecht in einer Art von Nibelungen-<br />
treue an der Seite der bereits im Kampf<br />
stehenden Arbeiter.<br />
Die beiden verließen Berlin nicht,<br />
obwohl sich Agitation und Mordhetze<br />
gegen sie bedrohlich steigerten. Als sie<br />
am 15. Januar 1919 in ihrem letzten Zu-<br />
fluchtsort in Wilmersdorf verhaftet wurden,<br />
konnten sie sich keine Illusionen über ihr<br />
Schicksal machen. Beide wurden noch am<br />
gleichen Abend von Angehörigen der<br />
Garde-Kavallerie-Schützendivision<br />
umgebracht, der Leichnam von Rosa<br />
Luxemburg im Landwehrkanal versenkt.<br />
"Ordnung herrscht in Berlin", so<br />
hatte sie ihren letzten Artikel in der "Roten<br />
Fahne" überschrieben. "Ihr stumpfen<br />
Schergen! Eure Ordnung ist auf Sand<br />
gebaut. Die Revolution wird sich morgen<br />
schon wieder rasselnd in die Höhe richten<br />
und zu eurem Schrecken mit Posau-<br />
nenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich<br />
werde sein!"<br />
Übertragen wir diese Worte von der<br />
Wiederkunft auf die Person, die sie einst<br />
niederschrieb, so werden wir uns bewußt,<br />
wie aktuell Rosa Luxemburgs Vermächtnis<br />
gerade heute wieder ist. Ihr Kampf, so will<br />
mir scheinen, ist noch nicht ausgekämpft.<br />
Die Revolution wird sich morgen schon<br />
wieder rasselnd in die Höhe richten und zu<br />
eurem Schrecken mit Posaunenklang<br />
verkünden: Ich war, ich bin, ich werde<br />
sein!"<br />
Dieses Bild Rosa Luxemburg hing über dem<br />
Schreibtisch von Elisabeth<br />
44
Kaiserin Friedrich und die deutsche<br />
Frauenbewegung<br />
ein Beitrag zum Preußenjahr 2001/2002<br />
Das sogenannte "Preußenjahr" hat<br />
in der Hansestadt keinen großen Widerhall<br />
gefunden. Wen wird das wundernehmen,<br />
waren die <strong>Bremer</strong> doch immer auf ihre<br />
Selbständigkeit stolz und bedacht; der<br />
Beitritt zum Norddeutschen Bund im Jahre<br />
1866 und der Anschluß der ehemaligen<br />
Freihandelszone an den Zollverein waren<br />
schwer umkämpfte Entscheidungen.<br />
Unser kulturelles Leben wird seit<br />
einiger Zeit von gewissen Jahreszahlen<br />
gelenkt, die aus den Tiefen der Ge-<br />
schichte ausgegraben, allgemein postuliert<br />
und dementsprechend thematisiert und<br />
gefeiert werden. Vielleicht ist es in unserer<br />
Zeit, in der wir in der Fülle des Wissens-<br />
werten, des Sehens- und des Hörens-<br />
werten untergehen, ganz hilfreich, wenn<br />
unsere zerstreute Aufmerksamkeit jeweils<br />
auf eine bestimmte Person, ein beson-<br />
deres Werk, eine bestimmte Epoche ge-<br />
lenkt und gebündelt wird. Wir erhalten<br />
dadurch die Chance, nicht nur Ver-<br />
gessenes wieder ins Gedächtnis zu rufen,<br />
sondern unser Verständnis auch zu<br />
erweitern, da solche Jubiläen regelmäßig<br />
Forschung und Lehre neu beflügeln. Dass<br />
durch eine solche Fokussierung des<br />
öffentlichen Interesses auf ein Thema so<br />
manches, was ebenfalls Beachtung ver-<br />
diente, marginalisiert wird und untergeht,<br />
sei nur am Rande bemerkt.<br />
So manchem Bildungsbürger mag noch im<br />
Kopf gewesen sein, dass es im Jahre<br />
1999 Goethes 250. Geburtstag zu feiern<br />
galt; dass wir aber 2001 an den Kurfürsten<br />
von Brandenburg denken sollten, der sich<br />
vor 300 Jahren zum König in Preußen<br />
gekrönt hatte, das mußte uns als Anlaß<br />
zum Jubiläum erst einmal gesagt werden.<br />
Königreiche und ihre tonan-<br />
gebenden Personen bildeten in den<br />
letzten Jahrzehnten keineswegs den<br />
bevorzugten Gegenstand historischer<br />
Forschung; deshalb waren die preu-<br />
ßischen Herrscher und insbesondere ihre<br />
Gemahlinnen im öffentlichen Bewusstsein<br />
kaum mehr präsent. Der Dokumentarfilm<br />
über Wilhelm II. "Majestät brauchen Son-<br />
ne" schlug 2001 eine erste Bresche in das<br />
allgemeine Desinteresse. Wilhelms Mutter<br />
Victoria, die spätere Kaiserin Friedrich,<br />
wurde im Film mit einem sehr harten Urteil<br />
über ihren Sohn zitiert, das aufhorchen<br />
ließ.<br />
Internationale Aufmerksamkeit wur-<br />
de Victoria durch eine vom Hause Hessen<br />
veranstaltete Tagung in Kronberg im Tau-<br />
nus zuteil: Am 5. August 1901 war die<br />
Kaiserin in ihrem Witwensitz Schloss<br />
Friedrichshof in Kronberg gestorben, ein<br />
weiterer Gedenktag im Preußenjahr, un-<br />
serer Zeit und unserem Gefühl näher als<br />
die Krönung von 1701.<br />
In der feministischen Geschichts-<br />
schreibung hat Victoria immer eine ge-<br />
wisse Rolle gespielt, galt sie doch als<br />
Förderin der deutschen Frauenbewegung.<br />
45
Ich war gespannt darauf, ob das<br />
Preußenjahr mehr Licht in diese Bezie-<br />
hung bringen würde.<br />
Victoria oder Vicky, wie ihr<br />
Kosename lautete, wurde am 20.<br />
November 1840 auf Schloß Windsor gebo-<br />
ren. Ihre Mutter, Queen Victoria, war durch<br />
mehrere überraschende Todesfälle unver-<br />
hofft zur Thronerbin geworden und hatte<br />
als 18jährige 1837 die Regierung im briti-<br />
schen Empire angetreten. Die Historiker<br />
nennen ihre bis 1901 andauernde Herr-<br />
schaft das liberale Zeitalter Englands, eine<br />
Epoche der größten Prosperität und der<br />
fortschrittlichen Entwicklungen im Innern<br />
und nach außen. England war unum-<br />
stritten die führende Weltmacht. Die<br />
Queen heiratete 1840 den Prinzen Albert<br />
von Sachsen-Coburg-Gotha, einen Mann,<br />
den sie vergötterte, und der, als zweiter<br />
Sohn aus kleinem Fürstenhause, sich in<br />
die Rolle des Prinzgemahls ohne<br />
politischen Einfluß fügen mußte, bald aber<br />
weitreichende Pläne für eine unblutige<br />
Einigung und Demokratisierung Deutsch-<br />
lands und für eine englisch-deutsche<br />
Allianz entwickelte. Zunächst aber fand<br />
sein Ehrgeiz in der Ausbildung seiner<br />
ältesten Tochter eine lohnende Aufgabe.<br />
Vicky war hoch begabt. Sie wuchs<br />
dreisprachig auf, und ihr fabelhaftes Ge-<br />
dächtnis erlaubte ihr bis ins Alter, alles<br />
einmal Gelesene jederzeit zur Verfügung<br />
zu haben. Ihr Vater forderte die Erledigung<br />
von Aufgaben, die weit über ihr Alter<br />
hinausgingen und sie auf die Rolle einer<br />
regierenden Fürstin vorbereiten sollten. Er<br />
nahm sie beispielsweise mit ins Parlament<br />
und ließ sie anschließend den Inhalt der<br />
vorgetragenen Reden schriftlich zusam-<br />
menfassen. Vor der Eröffnung der Welt-<br />
ausstellung in London im Jahre 1851 hatte<br />
Albert seiner Tochter sämtliche Exponate<br />
so genau erklärt, dass die Zehnjährige den<br />
Auftrag übernehmen konnte, den Prinzen<br />
Friedrich Wilhelm von Preußen durch die<br />
Ausstellung zu führen. Sollte diese Begeg-<br />
nung schon mit gewissen Hintergedanken<br />
arrangiert worden sein, so war ihr ein<br />
durchschlagender Erfolg beschieden:<br />
Friedrich Wilhelm, im Familie-<br />
nkreise Fritz genannt, der 20-jährige hü-<br />
nenhafte und als Idealbild männlicher<br />
Schönheit gepriesene Prinz verliebte sich<br />
in die klein gewachsene, etwas pumme-<br />
lige, noch recht kindliche Vicky. Sehr zur<br />
Freude der beiden Elternpaare bat<br />
Friedrich vier Jahre später um Vickys<br />
Hand.<br />
Weniger positiv waren die Reak-<br />
tionen auf diese Verlobung in England und<br />
in Preußen. Die Times beklagte, dass "die<br />
Tochter Englands" an das preußische<br />
Königshaus gegeben werde, das sein<br />
Verfassungsversprechen von 1848 dem<br />
Volke nicht gehalten habe und überdies<br />
mit dem erzreaktionären Zarenreich<br />
verbündet sei. Die Ultrakonservativen in<br />
Preußen waren entsetzt. Bismarck<br />
befürchtete einen starken englischen<br />
Einfluss auf den Berliner Hof, während die<br />
46
liberalen Kräfte gerade auf diesen Einfluss<br />
große Hoffnungen setzten.<br />
Für die allzu junge Braut gab es<br />
noch eine Wartefrist von zwei Jahren bis<br />
zu ihrem 17. Geburtstag. "Mein höchster<br />
Begriff von irdischer Glückseligkeit ist, Dir<br />
eine gute Frau sein zu können", schrieb<br />
sie an ihren Verlobten; aber andererseits<br />
fürchtete sie auch den Abschied von den<br />
Eltern und das steife Hofzeremoniell in<br />
Berlin. Die glückliche Ehe, die Vicky und<br />
Fritz 30 Jahre lang führen sollten, war in<br />
der von Mißtrauen und Ablehnung ver-<br />
gifteten Atmosphäre am preußischen Hof<br />
das emotionale Refugium für die vielfach<br />
gescholtene und verkannte Prinzessin.<br />
Am 8. Februar 1858 zog das junge<br />
Paar feierlich in Berlin ein, Vicky bei<br />
beißender Kälte tief dekolletiert im offenen<br />
Wagen. Das Publikum jubelte, doch am<br />
preußischen Hofe fürchtete man die<br />
"Engländerin", von der man nicht wusste,<br />
ob sie sich rasch in eine Preußin verwan-<br />
deln würde.<br />
Dem stand vieles entgegen.<br />
Preußen war im Vergleich mit der Welt-<br />
macht England wenig entwickelt; allein<br />
schon das Fehlen von Badezimmern im<br />
königlichen Schloss schockierte die junge<br />
Frau und begründete bei ihr die unselige<br />
Gewohnheit, die Vorzüge ihres Heimat-<br />
landes bei jeder Gelegenheit zu betonen.<br />
Sich diplomatisch zu verhalten, wider-<br />
sprach Vickys Temperament. Die häufigen<br />
Besuche der Eltern und Brüder in Berlin,<br />
die nicht abreißende Korrespondenz mit<br />
Vater und Mutter, die ihre junge Tochter<br />
nicht aus ihrer Obhut entlassen konnten<br />
und viele Anforderungen, auch politischer<br />
Art, an sie stellten, waren für Vicky nicht<br />
nur erfreulich. Sie überforderten die junge<br />
Prinzessin und brachten sie in Gegensatz<br />
zu ihrer Berliner Umgebung, die diese<br />
engen Beziehungen mit Argwohn beob-<br />
achtete.<br />
Bei ihrer Ankunft in Berlin wurde<br />
Vicky von allen Seiten bedeutet, daß eine<br />
Frau am Hofe sich niemals in die Politik<br />
einmischen dürfe. Sie aber war dazu<br />
erzogen worden, sich eine politische<br />
Meinung zu bilden und sie auch zu<br />
vertreten. Dagegen fand ihre Schwieger-<br />
mutter Augusta, - damals noch<br />
Kronprinzessin, dann Königin in Preußen<br />
und schließlich deutsche Kaiserin -, dass<br />
die junge Prinzessin recht wenig Schliff<br />
besaß und das Hofzeremoniell kaum<br />
beherrschte. Augustas Versuchen, Vicky<br />
nach ihren Vorstellungen zu formen,<br />
widersetzte sich die junge Frau aber<br />
heftig. Sie empfand die von Augusta sehr<br />
geliebten und häufig veranstalteten Di-<br />
ners, bei denen der Hofstaat nachmittags<br />
um vier Uhr in voller Abendtoilette erschei-<br />
nen mußte, und die anschließenden Bälle<br />
als "geistlos und öde", zumal sie kein<br />
Nachtmensch war und immer mit dem<br />
Einschlafen kämpfen mußte. Dazu kam,<br />
dass sie in den Jahren von 1859 bis 1872<br />
acht Kinder zur Welt brachte, was aber<br />
keineswegs bedeutete, dass sie während<br />
ihrer Schwangerschaften von den höfi-<br />
47
schen Verpflichtungen befreit gewesen<br />
wäre.<br />
Vickys Ideal war ein zwangloses<br />
Familienleben auf dem Lande, wie sie es<br />
aus ihrem Elternhaus gewohnt war. Ihrer<br />
Mutter schrieb sie über das "Käfigleben"<br />
am Berliner Hof: "Aus Vergnügen, The-<br />
ater, Gesellschaften etc. mache ich mir<br />
nichts, hasse und fliehe das alles viel-<br />
mehr. Die frivole, nutzlose Existenz, die<br />
man hier führt, in ihrer tötenden Mono-<br />
tonie, finde ich geradezu vernichtend für<br />
Geist und Körper." Augusta war als<br />
Weimarer Prinzessin mit liberalen<br />
Vorstellungen aufgewachsen und hatte die<br />
Heirat zwischen Vicky und Fritz sehr<br />
protegiert, weil sie sich in ihrer<br />
Schwiegertochter eine Mitstreiterin erhoff-<br />
te. Da sich aber Temperament und Le-<br />
bensweise der Princess Royal so gar nicht<br />
ihren Wünschen anbequemen wollten,<br />
wandelte sich Augustas anfängliche<br />
Sympathie für Vicky in Ablehnung.<br />
Der Widerstreit zwischen ihren<br />
englischen Überzeugungen und den<br />
preußischen Traditionen und Empfind-<br />
lichkeiten sollte Vickys Leben in tragischer<br />
Weise überschatten und beeinflussen, so<br />
auch bei der Geburt des Thronfolgers<br />
Wilhelm am 27. Januar 1859. Deutsche<br />
Ärzte und englische, von der Queen vor-<br />
sichtshalber in das "rückständige Berlin"<br />
geschickt, standen sich bei der Nieder-<br />
kunft der 18-jährigen Prinzessin miss-<br />
trauisch gegenüber. Auch der fort-<br />
schrittlich gesinnte werdende Vater war<br />
anwesend. Wegen der Steißlage des<br />
Kindes brachten die extrem schmerz-<br />
haften Wehen, denen die junge Frau über<br />
viele Stunden ausgesetzt war, keinen<br />
Fortschritt beim Geburtsvorgang.<br />
Die Queen, selbst neunfache<br />
Mutter, hatte sich zeitlebens gegen der<br />
"Weiber Schicksal" empört, immer wieder<br />
"wie Kühe oder Hunde" zu schmerzhaften<br />
Geburten verdammt zu sein. Sie gehörte<br />
zu den ersten Frauen, die sich unter<br />
Chloroform entbinden ließen, und machte<br />
so diese Methode der Schmerzbe-<br />
kämpfung populär. Dementsprechend hat-<br />
te sie ihrem Leibarzt Sir James Clark eine<br />
große Flasche Chloroform nach Berlin<br />
mitgegeben, aber man zögerte lange,<br />
Vicky diese Erleichterung zu gewähren.<br />
Zur Leitung der Entbindung hatte<br />
der König Prof. Dr. Martin, den renom-<br />
miertesten Frauenarzt Berlins, bestimmt.<br />
Weil ein Diener die Nachricht an Professor<br />
Martin, dass er sofort im Palast erscheinen<br />
möge, nicht persönlich überbracht, son-<br />
dern der Post anvertraut hatte, kam Martin<br />
mit zehnstündiger Verspätung zu der<br />
Niederkunft, zu einem Zeitpunkt, als kaum<br />
jemand noch an das Überleben von Mutter<br />
und Kind glaubte. Martin wagte den<br />
rettenden Eingriff, das Kind im Mutterleib<br />
zu drehen und auf die Welt zu holen. Bei<br />
diesen Manipulationen wurde das Nerven-<br />
geflecht der linken Schulter so nachhaltig<br />
beschädigt, dass der linke Arm auf Dauer<br />
gelähmt und 15 cm kürzer blieb als der<br />
rechte. Vicky empfand zunächst das<br />
48
Hochgefühl, ihre erste Pflicht als Lan-<br />
desmutter erfüllt und die Thronfolge<br />
gesichert zu haben. Bald aber wandelte<br />
sich ihre Freude in Beschämung und<br />
Schuldbewusstsein. Dass ihr Sohn nicht<br />
vollkommen war. empfand sie als per-<br />
sönliches Versagen. Wie sollte ein<br />
Behinderter in Preußen regieren, wo die<br />
Könige Offiziere waren und sich ihrem<br />
Volk hoch zu Roß als Heerführer zeigten?<br />
Wilhelm wurde zum Sorgenkind, er, auf<br />
dem so viele Hoffnungen ruhten. Genau<br />
wie seiner Mutter war auch Wilhelm<br />
bereits eine Rolle in dem großen Plan<br />
zugedacht, den Prinzgemahl Albert mit<br />
anderen Angehörigen des Hauses Coburg<br />
für Deutschland und Europa entwickelt<br />
hatte, dem Coburger Plan. Die nationale<br />
Einigung Deutschlands unter Führung<br />
Preußens, die in den Kämpfen der 48er-<br />
Revolution nicht gelungen war, aber<br />
weiterhin als große Aufgabe dem 19.<br />
Jahrhundert gestellt blieb, hoffte man auf<br />
unblutigem Wege zu erreichen.<br />
Voraussetzung dafür war die<br />
Umwandlung Preußens, dem sein König<br />
Ende 1848 eine Verfassung ohne<br />
angemessene Volksvertretung aufoktro-<br />
yiert hatte, in eine konstitutionelle Monar-<br />
chie nach englischem Muster. Wenn die<br />
liberalen Kräfte sich durchsetzen könnten,<br />
würde Preußen "moralische Eroberungen<br />
in Deutschland machen", als deutsche<br />
Vormacht eine unwiderstehliche Anzie-<br />
hungskraft auf die kleineren Staaten<br />
ausüben und so die Vereinigung auf der<br />
Grundlage einer liberalfortschrittlichen<br />
Gesinnung möglich werden. Eine Allianz<br />
der beiden germanischen Völker England<br />
und Deutschland sollte dann dem Frieden<br />
in Europa eine sichere Grundlage geben.<br />
Die Eheschließung zwischen Vicky und<br />
Fritz schien schon ein Meilenstein auf<br />
diesem Wege, zeigte sich der preußische<br />
Thronfolger doch als Mann von liberaler<br />
Gesinnung. Die junge Frau an seiner Seite<br />
sollte ihn in seinen Bestrebungen unter-<br />
stützen, die Wende in der preußischen<br />
Politik mit herbeiführen und ihren ältesten<br />
Sohn im Sinne des Coburger Planes<br />
erziehen.<br />
49
Wäre Fritz im Jahre 1862, als sein<br />
Vater an Abdankung dachte, Vickys Rat<br />
gefolgt und hätte nach der Krone<br />
gegriffen, so hätte der Coburger Plan eine<br />
Chance gehabt, verwirklicht zu werden.<br />
Statt dessen wurde Bismarck, Gegner aller<br />
liberalen Bestrebungen, preußischer<br />
Ministerpräsident. In Victoria sah er die<br />
"englische Spionin am preußischen Hofe",<br />
die es auszuschalten galt, zumal sie nach<br />
allgemeiner Überzeugung ihren Fritz völlig<br />
beherrschte. Erbarmungslos machte Bis-<br />
marck sie zur Zielscheibe seiner Intrigen<br />
und Verleumdungen und zusammen mit<br />
ihrem Mann zum Opfer seiner Ausgren-<br />
zungspolitik. Doch das Kronprinzenpaar<br />
blickte noch voll Hoffnung in die Zukunft.<br />
Vickys großes Ziel war es, ihren Sohn auf<br />
seine zukünftige Rolle vorzubereiten. Sie<br />
konfrontierte Wilhelm, der als Kind viele<br />
schmerzhafte Prozeduren zur Behandlung<br />
seines Armes über sich hatte ergehen<br />
lassen müssen, als Jugendlichen mit den<br />
höchsten Anforderungen. Wenn sie ihm<br />
auch in Briefen an ihre Mutter voll<br />
Bitterkeit jede Begabung und alle guten<br />
Charaktereigenschaften absprach, so ver-<br />
suchte sie diese Mängel durch immer<br />
neue Anregungen zu kompensieren, wel-<br />
che dickleibigen Wälzer er neben seinem<br />
12-Stundentag als Schüler lesen, wie er<br />
sich in den Fremdsprachen vervollkom-<br />
mnen, wie viele Briefe er ihr schreiben<br />
sollte. Das Ende vom Lied war, dass der<br />
ursprünglich zärtliche Sohn, der davon<br />
träumte, mit seiner Mutter auszufahren<br />
und ihre schönen Hände zu küssen, mit<br />
Ablehnung auf ihre Ansprüche reagierte<br />
und ins Lager der Gegner seiner Eltern<br />
hinüber gezogen wurde.<br />
Zu diesen Gegnern zählten in<br />
erster Linie Bismarck, der mächtigste<br />
Mann in Preußen, mit seinen Partei-<br />
gängern, später auch Wilhelm I. und seine<br />
Gemahlin Augusta. Sie erblickten in den<br />
liberalen Auffassungen des Kronprin-<br />
zenpaares eine große Gefahr für den<br />
preußischen Staat. Man ging so weit, auf<br />
einen Ausschluß Friedrichs von der<br />
Thronfolge hinzuarbeiten. Bismarck be-<br />
gann schon frühzeitig, das Ansehen von<br />
Fritz und Vicky systematisch zu unter-<br />
graben und dafür zu sorgen, dass ihre<br />
50
Verdienste, z.B. Friedrichs überragende<br />
Erfolge als Heerführer in den Kriegen<br />
gegen Dänemark, Österreich und Frank-<br />
reich, niemals die gebührende Würdigung<br />
fanden. Ebenso erging es Vicky, die sich<br />
um die Einrichtung von Lazaretten und<br />
gute Pflege für die Verwundeten geküm-<br />
mert hatte.<br />
Schließlich hat das Schicksal im<br />
Sinne der Konservativen eingegriffen . Als<br />
Fritz nach 3O jähriger Wartezeit an den<br />
Stufen des Thrones im März 1888 Kaiser<br />
wurde, war er an Kehlkopfkrebs auf den<br />
Tod erkrankt und hatte nur noch 99 Tage<br />
zu regieren. Das Leiden des Kronprinzen<br />
hatte wieder zu einem Medizinerstreit<br />
geführt. Während die deutschen Ärzte<br />
frühzeitig die Diagnose "Krebs" stellten,<br />
zog Vicky den englischen Spezialisten<br />
Mackenzie heran. Dieser glaubte, das<br />
Übel durch Aufenthalt in guter Luft<br />
bekämpfen zu können. Als seine Diagnose<br />
sich als falsch erwies, war es zu spät für<br />
eine Operation, was wiederum Victoria<br />
angelastet wurde.<br />
Für die Brutalität, mit der der<br />
Kampf gegen Fritz und Vicky geführt<br />
wurde, nur zwei Beispiele: Noch zu<br />
Lebzeiten des alten Kaisers wurden dem<br />
schwer kranken Fritz bestimmte königliche<br />
Entscheidungsrechte entzogen und auf<br />
seinen Sohn übertragen, was einer Vor-<br />
wegnahme seines Todes gleichkam.<br />
Kaum hatte Friedrich III: am 15. Juni 1888<br />
im Neuen Palais in Potsdam die Augen für<br />
immer geschlossen, besetzte und durch-<br />
suchte auf Befehl des neuen Kaisers<br />
Wilhelm II. eine Abteilung Bewaffneter das<br />
Schloss, um zu verhindern, dass wichtige<br />
Dokumente nach England geschafft<br />
werden könnten. Vicky hatte allerdings<br />
vorgesorgt und schon im Mai die Tage-<br />
bücher ihres Mannes nach England<br />
schmuggeln lassen.<br />
Für Victoria bedeutete der Tod des<br />
geliebten Gatten das jähe Ende ihres<br />
Einflusses und ihrer Hoffnungen, politisch<br />
wirken zu können. Nach dem Tod der<br />
Kaiserin Augusta im Januar 1890 hatte<br />
Vicky damit gerechnet, deren Rolle als<br />
Schutzherrin des Roten Kreuzes und der<br />
Vaterländischen Frauenvereine zu über-<br />
nehmen; Wilhelm II. aber überging seine<br />
Mutter und übertrug diese Aufgabe seiner<br />
jungen Frau. Außerdem verlangte er, dass<br />
Victoria das Neue Palais verlassen sollte.<br />
Nach langem Suchen errichtete sich die<br />
Kaiserin Friedrich, wie sie sich jetzt nann-<br />
te, ihren Witwensitz in Kronberg im Tau-<br />
nus, wo Schloss Friedrichshof, heute<br />
Schlosshotel, noch in seiner ursprüng-<br />
lichen Einrichtung zu besichtigen ist. Zu<br />
der architektonischen Gestaltung des<br />
Gebäudes und der Ausschmückung der<br />
Räume trug Victoria dank ihrer künst-<br />
lerischen Begabung und ihres erlesenen<br />
Geschmacks Entscheidendes bei. Sie rich-<br />
tete sich ein Atelier ein, wo sie als<br />
leidenschaftliche und sehr talentierte<br />
Malerin ihrer Lieblingsbeschäftigung nach-<br />
ging. Auch wurde ihr die Genugtuung,<br />
dass sie in dem begrenzten Umfeld der<br />
kleinen Taunusgemeinde viel von dem auf<br />
51
den Weg bringen konnte, was ihr immer<br />
als Verbesserungen in den Bereichen<br />
Bildung, Kultur, Hygiene und Kranken-<br />
pflege am Herzen gelegen hatte. Das<br />
Victoria-Pensionat und eine Schule der<br />
englischen Fräulein wurden gegründet, die<br />
Volks-Bibliothek, die Kronberger Maler-<br />
kolonie entstanden, Elektrifizierung, Was-<br />
serversorgung und Kanalisation wurden<br />
durch den Bau des Schlosses voran-<br />
getrieben, die medizinische Versorgung<br />
durch den Einsatz von Victoria-<br />
Schwestern und ein Krankenhausprojekt<br />
verbessert. Reiche Frankfurter Familien<br />
siedelten sich an und begründeten damit<br />
die heutige Qualität des Ortes als Promi-<br />
nentenquartier. Zahlreiche Berühmtheiten,<br />
vor allem auch die eigenen Kinder mit<br />
ihren Familien genossen die Gastfreund-<br />
schaft der Kaiserin Friedrich. Auch<br />
Wilhelm II. näherte sich der Mutter wieder<br />
und erschien dann und wann zu Besuch.<br />
Am 5. August 1901 ist die Kaiserin<br />
Friedrich in Kronberg gestorben. In ihrem<br />
Nachruf bezeichnete Helene Lange sie als<br />
"die erste Fürstin, die ihren vollen Einfluss<br />
für die Frauenbewegung einsetzte, zu<br />
einer Zeit, in der die Acht weiter Kreise<br />
noch schwer auf ihr lastete."<br />
Es ist schwierig, den Ursprung der<br />
deutschen Frauenbewegung auf ein<br />
bestimmtes Jahr zu fixieren. Als beim<br />
Übergang von der handwerklichen zur<br />
maschinellen Produktion in den vom<br />
Textilgewerbe abhängigen Regionen<br />
schwere Notzeiten anbrachen, waren auch<br />
die Frauen betroffen, die sich bislang<br />
durch Spinnen, Weben, Stricken, Sticken<br />
und Klöppeln einen bescheidenen Ver-<br />
dienst hatten erarbeiten können. Am<br />
bekanntesten wurde der Aufstand der<br />
schlesischen Weber im Jahre 1844, der für<br />
viele andere Notlagen stellvertretend<br />
steht. Die Niederschlagung dieser<br />
Hungerrevolte durch preußisches Militär<br />
empörte schon die Zeitgenossen und<br />
wurde in der Presse kritisch kommentiert.<br />
Dabei lenkte die aus bürgerlichen Kreisen<br />
stammende Schriftstellerin Louise Otto die<br />
Aufmerksamkeit auf das Los der freige-<br />
52
setzten Arbeiterinnen, die sich und ihre<br />
Kinder nicht mehr ernähren konnten.<br />
Das soziale Engagement, der<br />
Kampf um das "Recht der Frauen auf<br />
Erwerb" war eine der Wurzeln der<br />
deutschen Frauenbewegung, die durch die<br />
48er Revolution einen gewaltigen Auf-<br />
schwung nahm. Frauen auf den Barri-<br />
kaden, Freischärlerinnen hoch zu Ross mit<br />
der Pistole im Gürtel erregten viel<br />
Aufsehen, waren aber doch nur einzelne.<br />
In vielen Städten entstanden 1848 Frau-<br />
envereine, die die Männer in ihrem Kampf<br />
unterstützten; in Frauenzeitungen wurde<br />
das revolutionäre Gedankengut verbreitet.<br />
Die bedeutendste, von Louise Otto<br />
redigierte, erschien unter dem Motto:<br />
"Dem Reich der Freiheit werb ich<br />
Bürgerinnen!" Aus den Zuschriften der<br />
Leserinnen lässt sich noch heute das<br />
ausgedehnte Netzwerk der Frauenini-<br />
tiativen rekonstruieren. Neben den<br />
politisch ausgerichteten demokratischen<br />
Vereinen gab es solche, die sich für<br />
Frauenbildung einsetzten oder für eine<br />
Assoziation der Arbeiterinnen. All diese<br />
Bestrebungen fielen ab 1849/50 der<br />
Reaktion zum Opfer wie auch die Zeitung<br />
von Louise Otto. Um dieses gefährliche<br />
Presseorgan auszuschalten, wurde eigens<br />
die sogenannte "Lex Otto" erlassen,<br />
wonach Frauen Zeitschriften nicht mehr<br />
verantwortlich redigieren durften. Noch<br />
härter traf die Frauen das Verbot, sich in<br />
politischen Vereinen zu organisieren, ja<br />
sogar die Anwesenheit von "Frauens-<br />
personen, Schülern und Lehrlingen" bei<br />
politischen Veranstaltungen war nicht<br />
mehr erlaubt und bildete einen Grund zur<br />
Auflösung der Versammlung.<br />
Als die Frauen nach Lockerung der<br />
reaktionären Verbote vorsichtig begannen,<br />
sich neu zu organisieren, war Victoria<br />
bereits Kronprinzessin in Preußen. Im<br />
Oktober 1865 hatte der "Leipziger Frauen-<br />
bildungsverein", dem auch Louise Otto<br />
angehörte, zu einer Frauenkonferenz ein-<br />
geladen, auf der die Gründung des<br />
"Allgemeinen Deutschen Frauenvereins"<br />
(ADF) beschlossen wurde. Dieses Ereignis<br />
steht am Beginn der organisierten deut-<br />
schen Frauenbewegung.<br />
Bemerkenswert ist, dass Louise<br />
Otto einen der eingeladenen, den Frauen-<br />
bestrebungen wohlwollend gegenüber-<br />
stehenden Herrn bat, die Konferenz zu<br />
eröffnen. Der lehnte ab mit der Begrün-<br />
dung, dass die Frauen ihre Sache selber<br />
führen müssten, sonst sei sie von vorn-<br />
herein verloren. Wenn es damals auch<br />
große Überwindung kostete, als Frau in<br />
der Öffentlichkeit zu sprechen, so man-<br />
gelte es Louise Otto sicher nicht an dem<br />
nötigen Mut; sie wußte aber, dass sie<br />
keine gute Rhetorikerin war und deshalb<br />
der Sache schaden könnte. An ihre Stelle<br />
trat als "zündende Rednerin", wie sie<br />
allgemein eingeschätzt wurde, in Zukunft<br />
Auguste Schmidt, Freundin von Louise<br />
Otto, mit der gemeinsam sie die Vereins-<br />
zeitschrift "Neue Bahnen" herausgab.<br />
53
Der Grundsatz: "Alles für die<br />
Frauen durch die Frauen" fand in den<br />
Statuten des ADF den Niederschlag, dass<br />
nur Frauen und Mädchen dem Verein<br />
beitreten konnten, Männer aber nur als<br />
Ehrenmitglieder mit beratender Stimme<br />
geduldet waren. Dies war ein revolutionär<br />
feministischer Ansatz in einer Zeit, als die<br />
Vorstände von Frauenvereinen aus Män-<br />
nern zu bestehen pflegten. Der Aus-<br />
schluss von Männern aus dem ADF ging<br />
vielen Frauen zu weit und wurde auch von<br />
den liberal gesinnten Kreisen abgelehnt.<br />
Doch Louise Otto beharrte auf dem<br />
emanzipatorischen Grundsatz der weibli-<br />
chen Selbsthilfe.<br />
Als Vereinszweck wurde die<br />
Förderung der Bildung von Frauen und die<br />
Durchsetzung ihres Rechts auf Erwerb<br />
proklamiert. Alle Hindernisse, die der<br />
weiblichen Arbeit im Wege standen,<br />
sollten beseitigt werden. Dabei war vor al-<br />
lem an Frauen aus dem bürgerlichen<br />
Mittelstand gedacht, für die es an standes-<br />
gemäßen Verdienstmöglichkeiten man-<br />
gelte, während die Proletarierinnen ohne<br />
ideologische Hürden jede noch so<br />
schwere, schmutzige oder gar sittlich<br />
anrüchige Arbeit annehmen konnten bzw.<br />
mussten. Louise Otto lag es am Herzen,<br />
auch die Arbeiterinnen in den ADF<br />
einzubeziehen, aber die proletarischen<br />
Frauen schufen sich bald ihre eigenen<br />
Organisationen und formierten sich zur<br />
sogenannten proletarischen Frauenbe-<br />
wegung, die uns im Zusammenhang mit<br />
der Kronprinzessin und späteren Kaiserin<br />
nicht zu interessieren braucht.<br />
Berufsmöglichkeiten für die Töchter<br />
des Mittelstandes zu schaffen, war auch<br />
das Ziel des im Jahre 1866 in Berlin<br />
gegründeten "Vereins zur Förderung der<br />
Erwerbsfähigkeit des weiblichen Ge-<br />
schlechts", des nach seinem Initiator<br />
benannten "Lette-Vereins". Unumwunden<br />
bekannte Lette: "Was wir nicht wollen und<br />
niemals, auch nicht in noch so fernen<br />
Jahrhunderten wünschen und bezwecken,<br />
ist die politische Emanzipation und<br />
Gleichberechtigung der Frauen." Wer das<br />
anstrebe, setze sich in Widerspruch mit<br />
den 1.OOO-jährigen Einrichtungen aller<br />
Staaten, mit der "Natur und Bestimmung<br />
des Weibes und mit der göttlichen<br />
Weltordnung. Der alte Satz: "Das Weib<br />
schweige in der Gemeinde", gelte für alle<br />
Zeiten, auch in der Politik.<br />
Das Angebot von qualifizierten<br />
Ausbildungsgängen für seine Töchter<br />
entsprach den Wünschen des liberalen<br />
Bürgertums. Schon in der konstituierenden<br />
Sitzung des Vereins erklärten 300 Berliner<br />
Honoratioren ihren Beitritt. Sie befanden<br />
sich in höchster Gesellschaft: Kronprin-<br />
zessin Victoria übernahm das Protektorat,<br />
und auch der Kronprinz fühlte sich dem<br />
Verein eng verbunden, was zu dessen<br />
Attraktivität sehr beitrug. Er wurde von den<br />
zahlungskräftigen Mitgliedern, auch von<br />
Victoria selbst, finanziell gut ausgestattet.<br />
Die Leitung hatte ein Ausschuss von 20<br />
54
Männern, die fünf Frauen in den<br />
Ausschuss hinzuwählen konnten. "Der<br />
Lette-Verein war ein von Männern<br />
initiierter und verwalteter Verein zum<br />
Wohle der Frauen, wobei die Männer<br />
bestimmten, worin das Wohl der Frauen<br />
bestand," so das Fazit von Ute Gerhard.<br />
Überdies ging es nur um das Wohl der<br />
Frauen aus den gehobenen Ständen.<br />
Fabrikarbeiterinnen, Tagelöhnerinnen auf<br />
dem Lande und Dienstboten waren, im<br />
Unterschied zum ADF, ausdrücklich vom<br />
Vereinszweck ausgenommen. Als Vorbild<br />
diente die "Society for employment of<br />
women", die Lette bei seinen Erkun-<br />
dungsreisen in England kennengelernt<br />
hatte. Im Lette-Verein betrachtete man die<br />
Frauenfrage nur als "Brotfrage", die durch<br />
Bereitstellung von Erwerbsmöglichkeiten<br />
gelöst werden konnte. Damit sollte auch<br />
weitergehenden Emanzipationswünschen<br />
der Frauen die Spitze abgebrochen<br />
werden. (Trotz allem sei Herrn Lette Dank:<br />
Wir sitzen hier in den Räumen des<br />
Frauen-Erwerbs- und Ausbildungsvereins,<br />
der unter dem Namen "Verein zur<br />
Erweiterung des weiblichen Arbeitsge-<br />
bietes" 1867 nach dem Vorbild des Lette-<br />
Vereins in Bremen gegründet wurde. Er<br />
kann heute auf das stolze Alter von 135<br />
Jahren zurückblicken.) Der ADF betonte<br />
im Gegensatz zu Lette die weit über die<br />
Sicherung des Unterhalts hinausgehenden<br />
Ziele der Frauenemanzipation, ihre ideale<br />
Seite, wonach die Frauen sich nicht nur<br />
beruflich ausbilden, sondern all ihre Kräfte<br />
entwickeln sollten, um für die "Kultur-<br />
aufgabe der Frau", ihr einflußreiches<br />
Wirken in der Öffentlichkeit, gerüstet zu<br />
sein.<br />
Doch die Kriege gegen Dänemark,<br />
Österreich und Frankreich mobilisierten<br />
die Frauen in anderer Weise. Königin<br />
Augusta von Preußen gründete 1866 den<br />
ersten Vaterländischen Frauenverein, der<br />
es sich zur Aufgabe machte, die Pflege in<br />
den Lazaretten zu verbessern, Verbands-<br />
material herzustellen und andere Hilfs-<br />
dienste für das Heer zu leisten. Innerhalb<br />
von drei Jahren wuchs die Zahl der<br />
Vaterländischen Frauenvereine auf nahe-<br />
zu 300, die sich dann unter dem Zeichen<br />
des Roten Kreuzes zusammenschlossen.<br />
In den Vorständen saßen vorwiegend<br />
Männer, und zwar hohe Offiziere und<br />
Regierungsbeamte; die Damen waren von<br />
Adel. Im Kriegsfall übernahm die Ge-<br />
neralität die Leitung. Die Aufgaben und<br />
Anforderungen, die der Krieg an die Für-<br />
stinnen stellte, sprachen Vicky unmittelbar<br />
an, war England doch berühmt für seine<br />
tüchtigen, von Florence Nightingale<br />
geschulten Krankenschwestern. Englische<br />
Hygienevorschriften, die an erster Stelle<br />
das Erfordernis nach frischer Luft<br />
umfassten, wollte Vicky in den deutschen<br />
Lazaretten einführen, womit sie aber bei<br />
ihrer Schwiegermutter auf Ablehnung<br />
stieß. Vicky verließ deshalb Berlin und<br />
baute in Bad Homburg ein Musterlazarett<br />
nach ihren Vorstellungen auf. Zusammen<br />
mit ihrer Schwester Alice, die den Groß-<br />
herzog von Hessen und bei Rhein<br />
55
geheiratet hatte und in Darmstadt<br />
residierte, leistete die Kronprinzessin<br />
wertvolle organisatorische Arbeit. Da sie<br />
aber den König nicht um Erlaubnis gefragt<br />
hatte, ob sie Berlin mit ihren Kindern<br />
verlassen dürfe, wurde sie in rauem Ton<br />
zurückbefohlen.<br />
Die Vaterländischen Frauenvereine<br />
werden nicht zur Frauenbewegung ge-<br />
rechnet, im Gegenteil, sie gruben den<br />
emanzipatorischen Bestrebungen für eine<br />
geraume Zeit das Wasser ab. Mit patri-<br />
otischer Begeisterung, als 1871 mit der<br />
Reichsgründung die Einigung Deutsch-<br />
lands endlich vollzogen war, ist es zu<br />
erklären, dass die Vaterländischen Frau-<br />
envereine bald 12mal so viele Mitglieder<br />
zählten wie die Ortsgruppen des ADF.<br />
Auch Victoria, die im Grunde ihres Her-<br />
zens den Krieg verabscheute, hat sich von<br />
den militärischen Erfolgen, die zum Teil<br />
auch ihrem Fritz zu verdanken waren,<br />
umstimmen lassen. Sie war vielleicht nie<br />
so sehr Preußin wie zur Zeit des 70er-<br />
Krieges, vollendete sich doch jetzt der<br />
Coburger Plan, der politische Auftrag, mit<br />
dem sie nach Preußen gekommen war,<br />
wenn auch unter anderen Vorzeichen.<br />
Dass Deutschlands Einigung durch<br />
"Eisen und Blut" erreicht worden war und<br />
Deutschlands Größe auf seinem Militär-<br />
apparat basierte, beeinflusste auch die<br />
deutsche Frauenbewegung. Als sich aus<br />
der Schweiz die Frauengruppe der<br />
"Internationalen Friedens- und Freiheits-<br />
liga" mit einer Friedensbotschaft an die<br />
deutschen und französischen Frauen<br />
wandte, wurde diese Adresse nicht nur<br />
vom Lette-Verein, sondern auch vom ADF<br />
abgelehnt. Louise Otto hatte im Jahre<br />
1870 den barbarischen Kulturzustand, in<br />
dem Kriege noch möglich seien, beklagt<br />
und darauf zurückgeführt, dass den<br />
Frauen zu wenig Einfluss im öffentlichen<br />
Leben zugestanden werde. Sie forderte<br />
einmal mehr gleiche Rechte für alle, auch<br />
wenn die Frauen keinen Kriegsdienst<br />
leisteten. Solche Auffassungen und pol-<br />
itischen Forderungen wurden aber auch<br />
im ADF immer weiter in den Hintergrund<br />
gedrängt. Die Verbesserung der Mäd-<br />
chenbildung wurde nun zum Hauptan-<br />
liegen der bürgerlichen Frauenbewegung.<br />
Die Mädchenbildung lag im 19.<br />
Jahrhundert noch sehr im Argen, und<br />
wenn wir von der Situation in Bremen<br />
ausgehen, so können wir sie als kata-<br />
strophal bezeichnen. Erst 1844 war hier<br />
die allgemeine Schulpflicht eingeführt<br />
worden, und die Zustände an den 20<br />
städtischen und kirchlichen Schulen bilde-<br />
ten einen Hauptbeschwerdepunkt in der<br />
48er-Revolution. Daneben bestanden 80<br />
private Anstalten, viele davon winzige<br />
Winkelschulen. Die Mädchenbildung, so-<br />
weit sie über den Elementarunterricht<br />
hinausging, war nur privat organisiert. Um<br />
1848 gab es in Bremen 13 private Schulen<br />
für Töchter, an deren Spitze Frauen<br />
standen. Ein Seminar zur Ausbildung von<br />
Lehrern war 1810 gegründet worden, zu<br />
dem Mädchen jedoch nicht zugelassen<br />
56
waren. Junge Frauen, die den Beruf der<br />
Lehrerin ergreifen wollten, konnten sich<br />
zwar an dieser Anstalt prüfen lassen; aber<br />
für sie bestand die doppelte Benach-<br />
teiligung, dass sie weder eine geregelte<br />
Schulbildung genießen noch sich in einem<br />
zielgerichteten Lehrgang auf ihr Amt vor-<br />
bereiten konnten, so dass das Bestehen<br />
des Examens fast einem Glücksspiel<br />
gleichkam.<br />
Im Jahre 1859 wurde August<br />
Kippenberg aufgefordert. Seminarkurse für<br />
angehende Lehrerinnen anzubieten. Aus<br />
diesen Anfängen entwickelte sich die 1870<br />
eröffnete "Höhere Mädchenschule von A.<br />
Kippenberg". Sie umfasste neun Jahr-<br />
gänge von den Sechs- bis zu den 15-<br />
jährigen. Danach war die Weiterbildung<br />
zur Lehrerin auf dem Seminar möglich.<br />
Unterrichtet wurde in 16 Fächern, wobei<br />
die Naturwissenschaften etwas stief-<br />
mütterlich behandelt wurden. Angestrebt<br />
war eine lebensnahe Bildung und eine<br />
gründliche Vorbereitung für den "weib-<br />
lichen Beruf“, womit die Aufgaben der<br />
Mutter und Gattin gemeint waren.<br />
Etwa 30 Lehrkräfte, vorwiegend<br />
Frauen, arbeiteten an der Schule. Am<br />
Seminar aber, also auf der Oberstufe,<br />
unterrichteten fast nur Männer, die<br />
hauptamtlich an Knabenschulen angestellt<br />
waren, unter ihnen einige mit aka-<br />
demischer Bildung. Vergleichbare Ver-<br />
hältnisse gab es auch in den anderen<br />
deutschen Ländern. Die an Mädchen-<br />
schulen unterrichtenden Herren schlossen<br />
sich in einem Verband zusammen, denn<br />
sie waren an einer Absicherung ihrer<br />
Stellung interessiert. 1762 hatte Rousseau<br />
postuliert, dass die Erziehung der Frauen<br />
ganz im Hinblick auf die Männer ge-<br />
schehen müsse, denn, so seine Begrün-<br />
dung, die Frau sei eigens geschaffen, um<br />
dem Manne zu gefallen. Noch über 100<br />
Jahre später äußerte sich 1872 eine in<br />
Weimar tagende Versammlung von<br />
Mädchenschullehrern im Rousseauschen<br />
Sinne mit dem Satz, der inzwischen eine<br />
traurige Berühmtheit erlangt hat: "Es gilt,<br />
dem Weibe eine der Geistesbildung des<br />
Mannes in der Allgemeinheit der Art und<br />
der Interessen ebenbürtige Bildung zu<br />
ermöglichen, damit der deutsche Mann<br />
nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit und<br />
Engherzigkeit seiner Frau an dem<br />
häuslichen Herde gelangweilt und in<br />
seiner Hingabe an höhere Interessen<br />
gelähmt werde."<br />
Doch als die Mädchenschullehrer<br />
1876 erneut in Köln zusammenkamen,<br />
stand im Mittelpunkt der Debatte die von<br />
August Kippenberg vertretene These,<br />
dass die Mitwirkung von wissenschaft-<br />
lichen Lehrerinnen auf der Oberstufe der<br />
Mädchenschulen "unentbehrlich" sei. Da-<br />
mit griff er eine Forderung der Frauen-<br />
bewegung auf, die den Grundsatz vertrat:<br />
"Frauen sollen durch Frauen erzogen<br />
werden." Voraussetzung eines solchen<br />
Einsatzes von Lehrerinnen auf der<br />
Oberstufe war, ihnen den Weg in eine<br />
reguläre Ausbildung von Staats wegen zu<br />
eröffnen. Kippenbergs Vorstoß fand wenig<br />
57
Gegenliebe; das "unentbehrlich" wurde zu<br />
einem "wünschenswert" verwässert.<br />
Es sollte noch elf Jahre dauern, bis<br />
eine entsprechende Petition an das<br />
Preußische Kultusministerium und das<br />
Abgeordnetenhaus eingereicht wurde,<br />
flankiert durch die berühmte "Gelbe<br />
Broschüre" der engagierten Lehrerin<br />
Helene Lange, in der sie die ganze Misere<br />
des Mädchenschulwesens in Deutschland<br />
dargestellt hatte. Diese Broschüre löste<br />
einen Sturm der Entrüstung aus, nicht<br />
über die geschilderten Zustände, sondern<br />
über die bildungspolitischen Forderungen<br />
der Frauen, hinter denen man eine Um-<br />
wälzung der gesellschaftlichen Ordnung<br />
witterte. Langfristig ging es um eine<br />
geregelte Vorbereitung auf das Abitur und<br />
um die Zulassung von Frauen zum<br />
Studium auch an deutschen Universitäten,<br />
nachdem die deutschen Studentinnen<br />
jahrelang hatten nach Zürich ausweichen<br />
müssen.<br />
Die Frauenbewegung hatte schon<br />
in der 48er-Revolution die Förderung der<br />
Volksbildung auf ihre Fahnen geschrieben.<br />
In den patriotischen 70er Jahren war<br />
dieses Ziel etwas in den Hintergrund<br />
getreten, und erst Ende der 80er Jahre<br />
erstarkte die Bewegung wieder. Im Sinne<br />
ihrer Kulturaufgabe sollten Frauen in allen<br />
Bildungsinstitutionen, angefangen bei den<br />
Fröbelschen Kindergärten, und nach den<br />
Vorstellungen von Kronprinzessin Victoria<br />
auch in den Kadettenanstalten, tätig sein<br />
und sie als Lehrerinnen mit ihrer "geistigen<br />
Mütterlichkeit" durchdringen.<br />
Das Bildungsthema war Vicky auf<br />
den Leib geschneidert, war doch ihr<br />
eigenes Leben so ganz auf das Erwerben<br />
von Bildung ausgerichtet. Hier konnte sie<br />
wieder einmal auf ihr Heimatland als<br />
Vorbild verweisen, wo eine breite<br />
Volksbildungsbewegung, die sogenannte<br />
"adult education" zur Harmonisierung der<br />
Klassengegensätze beitrug. Auch die<br />
Forderungen von Frauenrechtlerinnen<br />
nach höherer Bildung und Univer-<br />
sitätsstudium waren aufgegriffen worden,<br />
hatten zur Entstehung von High Schools<br />
für Mädchen und in den 70er Jahren zur<br />
Gründung der drei Ladies' Colleges<br />
Newnham, Girton und Holloway geführt,<br />
die Studienmöglichkeiten für Frauen<br />
anboten und "selbstverständlich" unter<br />
weiblicher Leitung standen. Große<br />
Hoffnungen verknüpften sich bei den<br />
Vorkämpferinnen der Frauenbildung in<br />
Berlin mit dem öffentlichen Eintreten des<br />
Kronprinzenpaares für ihre Ziele. Doch<br />
endete Vickys kurze Regierungszeit schon<br />
wieder, als die Frauenbildungsbewegung<br />
in ihre erfolgreichste Phase eintrat.<br />
Welche Möglichkeiten der Einfluss-<br />
nahme hatte die Kronprinzessin? Wenn<br />
sie das Protektorat für eine Schule oder<br />
für einen Verein übernahm, so bedeutete<br />
das eine große gesellschaftliche Auf-<br />
wertung und war mit namhaften<br />
Geldspenden aus ihrer Privatschatulle<br />
58
verknüpft, was weitere Geldspenden nach<br />
sich zog. Vicky hat fast alle Frauen-<br />
initiativen in Berlin unterstützt. In einem<br />
Brief an ihren Sohn Wilhelm entwickelte<br />
sie 1879 ihre Pläne: Verbesserung von<br />
Schulen, Krankenhäusern und Wohnun-<br />
gen der Armen, Museen und Akademien<br />
gründen, Förderung der Kunst und der<br />
Künstler, Berlin durch Parks, Gärten und<br />
Plätze attraktiv gestalten, Kirchen und den<br />
Kirchengesang verschönern. Ein solches<br />
Engagement war für eine Fürstin im 19.<br />
Jahrhundert nicht ungewöhnlich. Wodurch<br />
das Kronprinzenpaar aber hervorstach,<br />
das war sein unerschrockenes Eintreten<br />
für gesellschaftlich geächtete oder wenig<br />
angesehene Gruppen. Zur Zeit von anti-<br />
semitischen Ausschreitungen in Berlin z.B.<br />
besuchten Vicky und Fritz demonstrativ<br />
den Gottesdienst in einer Berliner Syna-<br />
goge, Fritz in voller Uniform. Zu den<br />
Empfängen im Kronprinzenpalais wurden<br />
auch Juden geladen, ebenso wie<br />
Bankiers, Künstler und Gelehrte, die alle<br />
bisher nicht als hoffähig gegolten hatten.<br />
1872 unterstützte das Kronprinzenpaar<br />
eine Petition an den Reichstag, wonach<br />
Frauen zum Dienst bei Post, Telegra-<br />
phenanstalten und Eisenbahn Zugang<br />
finden sollten. Als die "Gelbe Broschüre"<br />
zunächst nur Empörung auslöste, sorgte<br />
Victoria durch ihr öffentlich bekundetes<br />
starkes Interesse dafür, dass die Schrift<br />
wenigstens zur Kenntnis genommen und<br />
beantwortet wurde.<br />
Ohne Vorurteile arbeitete Victoria<br />
in ihrem "Vertrautenkreis" mit bürgerlichen<br />
Frauen zusammen. Zu dieser Runde, in<br />
der viele Projekte vorbesprochen wurden,<br />
gehörten Helene Lange, Minna Cauer,<br />
Henriette Schrader-Breymann, auch eine<br />
<strong>Bremer</strong>in, Hedwig Heyl, geborene Crüse-<br />
mann, Anna Schepeler-Lette und viele<br />
andere, alles Personen, die der bürger-<br />
lichen Frauenbewegung zuzuordnen sind<br />
und zum Teil durch ihre Männer der<br />
besten Berliner Gesellschaft angehörten.<br />
Mit einer Louise Otto sich an einen Tisch<br />
zu setzen, hätte Victoria niemals wagen<br />
können, sie hätte es auch nicht gewollt.<br />
Was hat nun Victoria tatsächlich bewirken<br />
können? Auf ihr Engagement geht die<br />
Gründung des Victoria-Lyzeums in Berlin<br />
zurück, das nach dem Muster von<br />
Newham eingerichtet war.<br />
Victoria schickte Luise Fuhrmann<br />
zu Florence Nightingale, wo diese sich das<br />
Rüstzeug holte, um anschließend deut-<br />
sche Krankenschwestern, die Victoria-<br />
Schwestern, im Sinne Nightingales aus-<br />
zubilden. Bald folgte die Gründung des<br />
Vereins für häusliche Krankenpflege.<br />
1888, während ihrer Regierungszeit,<br />
vermittelte die Kaiserin Helene Lange<br />
einen Studienaufenthalt in England, damit<br />
sie sich einen Begriff von den dortigen<br />
Bildungseinrichtungen machen konnte. Als<br />
Lange zurückkam, trat ihr Victoria tränen-<br />
überströmt als Witwe entgegen mit den<br />
resignierenden Worten: "Ich habe keinen<br />
Einfluss mehr."<br />
59
Hatten die Frauen einst auf aller-<br />
höchste Unterstützung für ihre Pläne<br />
gehofft, so wurde es jetzt geradezu prekär,<br />
sich mit der Kaiserin Friedrich zu<br />
verbünden, der so viel Ablehnung, vor<br />
allem durch den eigenen Sohn, entge-<br />
genschlug. Andererseits war die<br />
Frauenbewegung inzwischen so erstarkt,<br />
dass sie auch ohne Protektion auf ihrem<br />
Wege weitergehen konnte. Victoria blieb<br />
der Bildungsbewegung verbunden. Sie<br />
wohnte persönlich der Eröffnung der "kei-<br />
neswegs hoffähigen" Realkurse für Frauen<br />
bei, die die Bildung der höheren Töchter<br />
auf eine konkrete naturwissenschaftliche<br />
Grundlage stellen sollten; sie sandte ein<br />
Begrüßungstelegramm zur Gründung des<br />
Allgemeinen Deutschen Lehrerin-<br />
nenvereins im Jahre 1890, zu dessen<br />
Zielsetzungen sie sich öffentlich bekannte<br />
- "eine einzigartige Auszeichnung", wie<br />
Helene Lange kommentierte.<br />
Zu der im Oktober 1895 abge-<br />
haltenen Vorstandssitzung des Bundes<br />
deutscher Frauenvereine in Frankfurt am<br />
Main kam Victoria vom nahegelegenen<br />
Kronberg herüber, um teilzunehmen.<br />
Selten ist über eine historische Persön-<br />
lichkeit so widersprüchlich geurteilt worden<br />
wie über Kaiserin Friedrich. "Von der<br />
Parteien Gunst und Hass verwirrt,<br />
schwankt sein Charakterbild in der<br />
Geschichte", sagt Schiller über Wallen-<br />
stein. Das lässt sich auf Victoria über-<br />
tragen. John C. G. Röhl, einer der besten<br />
Kenner des Lebens von Wilhelm II.,<br />
schrieb über Victoria: "Diese liberale,<br />
intelligente, belesene, selbstbewusste,<br />
perfektionistische, leidenschaftliche und<br />
willensstarke Frau bildete das<br />
Kernproblem im Leben des letzten<br />
deutschen Kaisers." Dass die Kaiserin<br />
Friedrich eine hochintelligente und<br />
gebildete Frau war, ein brillanter Geist,<br />
wird niemand bestreiten. Mit dem Selbst-<br />
bewusstsein der Princess Royal machte<br />
sie sich zunächst daran, ihren Mann<br />
politisch zu erziehen. Sie setzte diplo-<br />
matische Kommuniques für ihn auf, die er<br />
abschreiben sollte! An ihrem 6. Hoch-<br />
zeitstag lobte sie ihn: "Welchen Sprung<br />
hast du in diesen sechs Jahren gemacht!"<br />
Sie werde nicht ruhen, bis er für die ganze<br />
Welt ein Muster geworden sei. Friedrich,<br />
der Schwächere in dieser Ehe, akzeptierte<br />
Vickys Belehrungen, war sie ihm doch<br />
eine große Stütze in Zeiten von Hoff-<br />
nungslosigkeit und Depressionen, unter<br />
denen er häufig litt.<br />
Anders aber verhielt sich Sohn<br />
Wilhelm. Als er nach langem Drängen der<br />
Mutter ihr endlich einen Brief geschrieben<br />
hatte, hielt sie ihm vor, dass es nicht<br />
"Meine liebe Mama"; sondern "Meine sehr<br />
liebe Mama" heißen müsse, und auch die<br />
Unterschrift "Dein Dich liebender Sohn"<br />
wurde beanstandet, sie müsse "Dein<br />
gehorsamer Sohn" lauten. Auch Ortho-<br />
graphie und Handschrift genügten ihren<br />
Ansprüchen nicht, Ansprüchen, die sich an<br />
ihrer eigenen Erziehung und an ihren<br />
Fähigkeiten orientierten und ihr ein<br />
60
Verständnis für die Schwächen anderer<br />
unmöglich machten.<br />
Leidenschaftlich war sie von der<br />
Richtigkeit ihrer Überzeugungen erfüllt.<br />
Eine ihrer vertrauten Freundinnen, Marie<br />
von Bunsen, bezeichnete es als die Tragik<br />
von Victorias Schicksal, dass sie<br />
Selbstverschulden niemals einsah. Immer<br />
sei sie für die Benachteiligten eingetreten,<br />
oft aber waren Ort und Zeitpunkt für ihre<br />
Kampagnen schlecht gewählt. Sie habe<br />
mehr Temperament als taktisches Ge-<br />
schick besessen und sich auf viele<br />
Auseinandersetzungen eingelassen, in de-<br />
nen sie unterliegen mußte. Das hätte einer<br />
zukünftigen Kaiserin nicht passieren<br />
dürfen. Sie sei ein Vollblutmensch ge-<br />
wesen, mit Leidenschaft ihre Ansichten<br />
vertretend, mit Erbitterung und Tränen<br />
über das Unrecht klagend. Von schönen,<br />
edlen Grundsätzen ausgehend, habe sie<br />
sich eine Welt erbaut, und was nicht<br />
hineinpasste, schonungslos verworfen.<br />
So stand sie auch in der Gefahr,<br />
sich durch das Eintreten für die bür-<br />
gerlichen Frauen und deren teils vehe-<br />
ment bekämpfte Aktivitäten zu kom-<br />
promittieren. Sie folgte aber auch in<br />
diesem Punkt nur ihrer Überzeugung. Der<br />
liberale Geist, der sie in gleicher Weise<br />
wie die Frauenbewegten erfüllte, machte<br />
sie zu natürlichen Bundesgenossen. Die<br />
Hochschätzung von Bildung und Aus-<br />
bildung war Victoria in Fleisch und Blut<br />
übergegangen. Sie schilderte 1891, wie<br />
sie sich seit Jahren um die Einrichtung<br />
eines Damen- Colleges bemüht habe,<br />
aber Wilhelm II. bezeichne Frauenbildung<br />
als unnötig, und schreibt dann folgendes:<br />
"Wenn Frauen nur eine Art von höheren<br />
Dienerinnen bleiben, muss die ganze<br />
Nation darunter leiden. Aber selbst-<br />
süchtige Männer sind töricht genug zu<br />
glauben, dass sie auf unwissenden<br />
Frauen leichter herumtrampeln können." In<br />
der Unterordnung der Frau sah sie den<br />
Hauptgrund des deutschen Nationalismus<br />
und Militarismus, des deutschen Fremden-<br />
hasses und der Ablehnung liberaler Werte.<br />
In Deutschland sei die Frau "nicht die<br />
Gefährtin ihres Mannes bei allen seinen<br />
Geschäften, ...nicht seine Rathgeberin,...<br />
steht nicht auf derselben Bildungsstufe als<br />
er, theilt nicht die Interessen der Männer<br />
und ist im Hause nicht die unumschränkte<br />
Herrin." Nehme eine Frau sich diese<br />
Rechte heraus, so werde sie "als ge-<br />
fährlich, herrschsüchtig, lächerlich, ver-<br />
dreht angesehen, und es wird ihr der Krieg<br />
gemacht!" Was man am Berliner Hof<br />
wünsche, sei eine Prinzessin, die sich in<br />
alles fügt, sich gut anzieht, hübsch<br />
aussieht, mit jedem ein banales Wort zu<br />
reden weiß und in ihrem eigenen Haus<br />
eine Puppe ist, wie eine Türkin im Harem.<br />
Victoria hat sich oft mit bitteren Worten<br />
über die deutschen Frauen beklagt, die<br />
kleinbürgerliche Ansichten pflegten und es<br />
nicht verstanden hätten, sich eine<br />
angesehenere Stellung zu erobern.<br />
Der für die bürgerliche Frauen-<br />
bewegung zentrale Gedanke der Müt-<br />
terlichkeit lag Vicky sehr nahe. Sie liebte<br />
61
ihre Kinder zärtlich, war ständig um sie,<br />
und fünf von ihnen hat sie auch selbst<br />
gestillt, was ihr bei den drei Ältesten nicht<br />
gestattet worden war. "Immer ein Baby an<br />
der Brust oder eines erwarten, sonst ist es<br />
nicht nett", schrieb sie an die Queen, die<br />
entsetzt war über die Ansichten ihrer<br />
Tochter. Auch das Konzept der "geistigen<br />
Mütterlichkeit", der Lebensentwurf vieler<br />
Lehrerinnen, fand ihr Verständnis. Weiter<br />
aber ging ihr Engagement nicht; die<br />
Forderungen der Radikalen nach dem<br />
Frauenstimmrecht und der völligen Gleich-<br />
berechtigung waren ihr fremd.<br />
Wenn wir abschließend hören, wie<br />
Victoria ihr Verständnis von Frauen-<br />
emanzipation umreißt, so werden wir<br />
feststellen, dass sie stets im Bezugs-<br />
rahmen von Ehe und Familie verharrt und<br />
der Frau eine dienende Rolle zuschreibt:<br />
"Obwohl es nicht notwendig oder wün-<br />
schenswert ist, dass wir die Männer<br />
kopieren oder ihre Berufe ergreifen,<br />
können wir doch unser Leben bereichern<br />
und nützlicher für unsere Ehemänner und<br />
Familien, für unsere Häuslichkeit und<br />
unser Land sein, wenn wir ausgebildet<br />
sind und solide Kenntnisse haben. Es ist<br />
so viel zu tun auf der Welt, dass ich nicht<br />
einsehe, warum Frauen nicht mithelfen<br />
sollten, so gut sie es können, und je<br />
besser sie erzogen sind, desto fähiger<br />
werden sie dazu sein."<br />
Die Abbildungen stammen aus<br />
dem Buch: Frederick Ponsonby: Briefe der<br />
Kaiserin Friedrich, Berlin 1929<br />
62
Rede von Ute Gerhard anlässlich der<br />
Trauerfeier am 9.10.2009<br />
Für Elisabeth<br />
Viele von uns, auch ich, haben mit<br />
Elisabeths Tod eine gütige, kluge und<br />
unersetzliche Freundin verloren. Und es<br />
geht uns sicher allen so, dass wir erst mit<br />
ihrem so unerwarteten, plötzlichen Tod<br />
begreifen, wie viel sie uns bedeutete, was<br />
wir ihr verdanken, - ja, was ich ihr noch<br />
hätte sagen mögen und wie sehr ich sie<br />
geschätzt und gemocht habe. Sie war mir<br />
eine „Schwester(n)seele“, eine die „ganz<br />
verstand“, die zuhörte, teilnahm und riet,<br />
mit der mich Erfahrungen und Interessen<br />
verbanden, und die immer da war, sich<br />
schon im voraus kümmerte, weil sie<br />
wusste, was einer/m gut tut. Die<br />
Bezeichnung „Schwesterseele“ findet sich<br />
in Paula Becker-Modersohns Tagebuch,<br />
eine Formulierung, die in der ‚hohen Zeit’<br />
der alten Frauenbewegung um 1900<br />
populär wurde. Und es kommt mir so vor,<br />
als ob zwischen Paula Becker und<br />
Elisabeth eine gewisse Seelenver-<br />
wandtschaft bestand: in der Radikalität,<br />
auch unbequeme Wahrheiten<br />
auszudrücken, verbunden mit Warmher-<br />
zigkeit, einem tiefen Mitgefühl und einer<br />
praktischen Nüchternheit. In ihrer Tage-<br />
bucheintragung vom 31.3.1902 spricht<br />
Paula von der „Illusion, dass es eine<br />
Schwesterseele gäbe“, „…ein Wesen zu<br />
finden, das versteht. Und ist es vielleicht<br />
doch besser ohne diese Illusion…? Dies<br />
schreibe ich in mein Küchen-<br />
Haushaltsbuch am Ostersonntag 1902,<br />
sitze in meiner Küche und koche<br />
Kalbsbraten.“<br />
Zum ersten Mal begegnet bin ich<br />
Elisabeth vor knapp 40 Jahren, in der neu<br />
eröffneten <strong>Bremer</strong> Uni, gleich im ersten<br />
oder zweiten Semester 1970/71, im Kreis<br />
mehrerer Frauen, die in der Regel bereits<br />
eine akademische Ausbildung hinter sich<br />
hatten, doch nun nach oder mit Kindern<br />
und Haushalt ihre brachliegenden intel-<br />
lektuellen Kräfte anwenden und erweitern<br />
wollten, d.h. in die Wissenschaft oder<br />
einen akademischen Beruf drängten. Es<br />
war die Frauengeneration, die nach dem<br />
Krieg wohl gleichberechtigt hatte studieren<br />
können, für die jedoch Mutterschaft zu-<br />
gleich die Aufgabe der eigenen Ambi-<br />
tionen und selbstverständlich den Rück-<br />
zug an Heim und Herd bedeutete, wäh-<br />
rend ihre Partner, Ehemänner, gleichzeitig<br />
in ihren bürgerlichen Berufen durchaus<br />
reüssierten. In dieser Konstellation war die<br />
Revolte der Frauen angelegt, und doch<br />
war die Situation bei Elisabeth ja eigentlich<br />
eine andere, durchaus außergewöhnliche:<br />
sie hatte schließlich neben ihren sechs<br />
Kindern bereits in der Mitte der 1960er<br />
Jahre zusammen mit Heinrich Hannover<br />
zwei wichtige, die Vergangenheit not-<br />
wendig erhellende und politisch wirksame<br />
Bücher geschrieben, über die „Politische<br />
Justiz“ in der Weimarer Republik (1966)<br />
und über den „Mord an Rosa Luxemburg<br />
und Karl Liebknecht“ (1967) – wie hatte<br />
sie das nur geschafft! In der Widmung, die<br />
63
sie Klaus Gerhard, dem „1. Feministen in<br />
Bremen“, wie sie charmant hinzufügte,<br />
1973 in das geschenkte Exemplar der<br />
‚Politischen Justiz’ schrieb, heißt es: und<br />
E. Hannover – denn „ein historisches<br />
Buch, an dem eine Frau mitgeschrieben<br />
hat, das kauft doch kein Mensch!“<br />
(Originalton Fischer-Verlag 1965).<br />
Elisabeth war eine Verbündete von<br />
Anfang an. Dank des allgemeinen gesell-<br />
schaftlichen Aufbruchs, der von neuen<br />
sozialen und politischen Bewegungen<br />
getragen wurde, war unsere erste kleine<br />
gemeinsame Revolte nur konsequent,<br />
wenn auch recht ungehörig: Der freund-<br />
liche Gastprofessor, der extra aus Freiburg<br />
angereist war, um an der Reform-<br />
universität einen Kurs zur Geschichte der<br />
Frauenbewegung anzubieten, wurde von<br />
uns bereits in der dritten Seminarstunde<br />
abgesetzt. Wir übernahmen Planung und<br />
Diskussion der Lektüren, denn von nun an<br />
„machten wir unsere Geschichte selbst.“<br />
Das ist wörtlich zu nehmen, von da<br />
an hat uns die Frauenbewegung getragen,<br />
haben wir sie mitgestaltet, gab es viele<br />
gemeinsame Projekte, bei denen Elisa-<br />
beth Ideengeberin, oft die treibende Kraft,<br />
die methodisch und inhaltlich fundierte<br />
Historikerin war, deren kritischen Verstand<br />
und deren politische Radikalität man nur<br />
anfangs wegen ihrer allzu großen<br />
Zurückhaltung und Bescheidenheit<br />
unterschätzen konnte. Aus den ersten<br />
Frauengruppen, die Privates als Poli-<br />
tisches und damit Veränderbares er-<br />
kannten, bildete sich Mitte der 70er Jahre<br />
eine Arbeitsgemeinschaft und ein Freun-<br />
dinnen-Trio mit Elisabeth, Romina<br />
Schmitter und mir heraus, das uns nun<br />
mehr als 30 Jahre verbunden, gestärkt<br />
und beflügelt hat. – Es ist übrigens ein<br />
Missverständnis, wenn diese kollektiven<br />
Lernprozesse der Frauenbewegung als<br />
männerfeindlich bezeichnet werden, im<br />
Gegenteil, sie entlasteten von individuellen<br />
Schuldvorwürfen in den Geschlechter-<br />
beziehungen. – Nach ersten gemein-<br />
samen Weiterbildungsveranstaltungen in<br />
der Volkshochschule zu Frauenthemen<br />
haben wir zu dritt 1979 im Syndikat-Verlag<br />
eine gekürzte Ausgabe der „Frauen-<br />
Zeitung“ von Louise Otto herausgegeben<br />
unter dem Titel „Dem Reich der Freiheit<br />
werb’ ich Bürgerinnen“, eine Quelle, die<br />
unseren Blick auf die Anfänge der<br />
Frauenbewegung in Deutschland gründ-<br />
lich veränderte.<br />
Von da an hat dieses Freundin-<br />
nennetz getragen über alle Entfernungen<br />
und biographischen Veränderungen<br />
hinweg, Elisabeth war inzwischen am<br />
Kippenberggymnasium eine für viele<br />
Schülerinnen und Schüler rettende und<br />
inspirierende Lehrerin. Als ich an die<br />
Universität Frankfurt berufen wurde,<br />
hatten wir gerade einen Auftrag vom<br />
Staatsarchiv erhalten, eine erste Aus-<br />
stellung zum Frauenwahlrecht vorzu-<br />
bereiten. Elisabeth und Romina<br />
übernahmen dies und begannen bald, als<br />
64
abgeordnete Lehrerinnen mehrere Aus-<br />
stellungen sowie „Texte und Materialien<br />
zum historisch-politischen Unterricht“ zu<br />
erarbeiten. Elisabeths Werk sind die<br />
umfangreichen Quellenbände mit Kom-<br />
mentaren zur Ausübung des Frauen-<br />
wahlrechts sowie zur Frauenerwerbsarbeit<br />
in Bremen in der Weimarer Republik.<br />
Außerdem schrieb sie viele Texte u.a. für<br />
die Ausstellung über die Friedens-<br />
bewegung in Bremen (1898 bis 1958) oder<br />
1998, zum 150-jährigen Gedenken an die<br />
1848er Revolution, nun schon gemeinsam<br />
mit dem „<strong>Bremer</strong> <strong>Frauenmuseum</strong>“, die im<br />
Blick auf Bremens Geschichte überaus<br />
lesenswerte Dokumentation über Marie<br />
Mindermann. Zwischendurch hat sie z.B.<br />
für die Feministischen Studien immer<br />
wieder englische Texte übersetzt und war<br />
bis vor kurzem Beirätin der Redaktion<br />
dieser interdisziplinären Zeitschrift.<br />
Ihre beachtliche Zahl von Beiträgen<br />
in Sammelbänden, ihre wunderbaren<br />
Vorträge, insbesondere die vielen bio-<br />
graphischen Portraits bedeutender, aber<br />
vergessener Frauen kann ich hier nicht<br />
aufführen, manches mag da noch in ihrem<br />
Computer schlummern. Allen Texten<br />
gemeinsam ist ihr klarer, prägnanter und<br />
geistvoller Stil, die gründliche historische<br />
Recherche, ein feiner Humor, der, eine<br />
Geschichte erzählend, zu fesseln<br />
verstand, und ihr leidenschaftliches<br />
Interesse aufzuklären, mit diesen<br />
Frauengeschichten für mehr Gerechtigkeit<br />
zu streiten. Beim neuerlichen Lesen<br />
kommt es mir so vor, als ob sie in den<br />
Portraits der in ihrer Zeit ungewöhnlichen,<br />
begabten und beeindruckenden Frauen,<br />
die so vielfältige Aufgaben der Sorge für<br />
andere, der Erziehung und Bildung mit<br />
öffentlichem Wirken in ihrer Person<br />
vereinigten – wie etwa Johanne Kippen-<br />
berg, Marie Mindermann oder die Kaiserin<br />
Friedrich – manche Selbstbeschreibung<br />
mitgeliefert hat.<br />
Den Rahmen für ihre Aktivitäten<br />
bildete seit 1991 der Verein „<strong>Bremer</strong><br />
<strong>Frauenmuseum</strong>“, den sie mitbegründet hat<br />
und dessen langjährige Vorsitzende sie<br />
war. Der Verein hat es sich zur Aufgabe<br />
gemacht, die Leistungen von <strong>Bremer</strong><br />
Frauen in allen Lebensbereichen, in Kunst<br />
und Gesellschaft zu erforschen, sie vor<br />
dem Vergessen zu bewahren. Auch<br />
hierbei hat Elisabeth nicht nur glänzende<br />
Reden gehalten, Artikel und Briefe ge-<br />
schrieben und an die Türen der<br />
Amtsstuben geklopft, sie hat darüber<br />
hinaus bei den jährlichen Sommerfesten<br />
noch im August dieses Jahres in ihr Haus<br />
und ihren Garten eingeladen. Ja, ich darf<br />
nicht unerwähnt lassen, was für eine<br />
wundervolle Gastgeberin Elisabeth war.<br />
Auch seitdem sie allein lebte, hat sie<br />
gegen alle gesellschaftliche Konvention<br />
und Trends eine Kultur der Gastlichkeit<br />
gepflegt, wobei das köstlich zubereitete<br />
Mahl nur das Entrée zu lebhaften, immer<br />
spannenden Gesprächen war. Denn sie<br />
verstand es, Themen zu setzen, zu<br />
65
moderieren und auch die heftigsten De-<br />
batten amüsant zu Ende zu führen.<br />
Eine ihrer nachhaltigsten und<br />
erfolgreichsten Initiativen im <strong>Bremer</strong><br />
<strong>Frauenmuseum</strong> war die Aktion zur Be-<br />
schilderung der <strong>Bremer</strong> Straßen mit<br />
Frauennamen und ihre Ergänzung durch<br />
Legenden. Inzwischen hat sich die Zahl<br />
der so benannten Straßen auf 57 erhöht,<br />
gibt es sogar einen Senatsbeschluss, der<br />
vorsieht, in Zukunft vermehrt Frauen-<br />
namen zu führen. Wir erinnern uns alle,<br />
wie schwierig es war, für die wohl<br />
inzwischen berühmteste <strong>Bremer</strong>in Paula<br />
Becker-Modersohn eine angemessene<br />
Lokalität zu finden. In ihrer Rede zur<br />
Einweihung des „Paula Modersohn-<br />
Becker-Steges“ in den Wallanlagen<br />
zwischen Kunsthalle und Theater be-<br />
schrieb Elisabeth mit feiner Ironie den<br />
„langen steinigen Weg zum Steg“ und<br />
wusste selbst aus dieser Verlegenheit<br />
Trost zu spenden, indem sie vorschlug:<br />
„Der kurze, unscheinbare Steg, der doch<br />
die Aufmerksamkeit des Betrachters sofort<br />
fesselt, weil er souverän auf ein Geländer<br />
verzichtet, nur durch eine Kette von<br />
Lichtern begrenzt, die sich bei Dunkelheit<br />
im Wasser spiegeln, … verdient es, den<br />
Namen einer mutigen Künstlerin zu tragen<br />
Zuletzt noch eine Besonderheit: Bei all<br />
ihren Auftritten und Unternehmungen,<br />
ihren Geburtstagen und in der schweren<br />
Zeit ihrer Krankheit waren ihre Töchter –<br />
im Wechsel oder mindestens eine –<br />
dabei, helfend oder mit einem Blumen-<br />
strauß. Das war sehr beeindruckend und<br />
das war für Elisabeth wichtig, darüber<br />
haben wir noch ganz zuletzt gesprochen.<br />
Deshalb bin ich sicher, dass Ihr vier sowie<br />
Eure Kinder das Erbe Eurer Mutter auf die<br />
eine oder ganz andere Weise weiter<br />
tragen, fortführen werdet. Das ist für uns<br />
alle heute der einzige Trost.<br />
Elisabeth Hannover-Drück<br />
3.6.1928 – 23.9.2010<br />
66