2012, Heft 18, S. 5-15 - PRuF

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02.12.2012 Aufrufe

Rezensionen MIP 2012 18. Jhrg. so z. B. eine teilweise Jahrhunderte zurückreichende Auflistung der Familienvorfahren der interviewten SPD-Politiker. Alle dreizehn Biographien folgen dabei einem historiographischen Aufbau. Grundlage sind „oft vielstündige politisch-biographische Interviews“ (10). Unterteilt sind die dreizehn Eliteninterviews in zwei Generationen. Die erste Generation umfasst sieben Interviewpartner aus der „ältere[n] und jüngere[n] Nachkriegsgeneration der historischen SPD“. Sechs Interviewpartner der zweiten Generation werden als „Protagonisten der neuen SPD“ zusammengefasst. Reinhardt selbst bezeichnet die von ihm durchgeführten Interviews als „teilweise biographisch[] und teilweise themenzentriert[], leitfadengestützt[] und teilstandardisiert[]“ (182). Damit scheinen die Interviews alles gleichzeitig erfüllen zu sollen. Insgesamt stellen sich alle dreizehn Biographien als ergebnisorientierte Zusammenfassung der Interviews in den Worten des Autors dar, in die regelmäßig Kurzzitate aus den Interviews sowie Zitate aus weiteren Quellen eingestreut werden. Die sich aus den Interviews ergebenden Biographien erweisen sich dabei als enttäuschend. Neben einer rein ordnenden Inhaltsangabe der Interviews darf man keinen tiefergehenden analytischen Gehalt erwarten. Der Eindruck einer, wenn auch gerafften, Nacherzählung der Interviews beschleicht so den Leser. IV. Krise einer Dissertationsschrift? Die „Ergebnisse“ des Vergleichs der Fallstudien lassen sich äußerst knapp zusammenfassen: Ein überwiegender Teil der interviewten SPD-Politiker entstammt „den solidarischen und kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieus“ (514). Es zeigt sich ein heterogener sozialer Hintergrund der SPD-Spitzenpolitiker beider Generationen betreffs ihrer parteipolitischen Bindung (516). Der Vergleich der Habitūs ergibt eine „Dominanz der modernisierten konservativen Arbeitnehmermilieus (Neue Manager und Leistungsorientiert- Ständische)“ (528-535). Und schließlich zeigt sich eine „Dominanz der SPD-Rechten und ihrer Vorstellung von einer Teilhabegerechtigkeit“ (548). 178 Wie lässt sich also die Arbeit von Reinhardt bewerten? Als zentraler Kritikpunkt an der Arbeit muss die Operationalisierung der zentralen Hypothese(n) genannt werden. Reinhardt misst die Repräsentationsfähigkeit und deren Wandel auf der SPD-Führungsebene anhand der Interviews mit dreizehn SPD-Spitzenpolitikern und deren Unterteilung in zwei Generationen. Um aber tatsächlich ein Repräsentationsdefizit auf der SPD- Führungsebene zu einem beliebigen Zeitpunkt feststellen zu können, hätte Reinhardt die Positionen der SPD-Führungspersönlichkeiten mit der Meinungsverteilung in der Bevölkerung und/ oder bei den SPD-Wählern abgleichen müssen. Auf welcher Grundlage will Reinhardt anhand seiner Daten eine gesicherte Aussage über den Wandel der Repräsentationsfähigkeit auf der SPD-Führungsebene machen können, wenn er diejenigen, die repräsentiert werden, den Prinzipal, die Bürger, nicht einmal in seiner Untersuchung berücksichtigt? Was kann man Reinhardt zu Gute halten? Sehr ausführlich ist das Literaturverzeichnis (577- 623). Alle wesentlichen Autobiographien von und Interviews mit SPD-Führungspersönlichkeiten haben Verwendung gefunden, es fehlt allerdings größtenteils eine Berücksichtigung der englischen Fachliteratur. Die Interviews können als Ergänzung zu den bereits vorhandenen Autobiographien und als eine Art „Ersatz“ zu nicht vorhandenen Autobiographien genutzt werden. Insgesamt ist die vorliegende Dissertationsschrift kaum analytisch, sondern überwiegend eine reine Faktensammlung und -aufzählung und dient damit allerhöchstens als Nachschlagewerk zur SPD-Geschichte. Wer auch über die vielen formalen und stilistischen Mängel hinwegsehen kann, die nötige Ausdauer mitbringt und sich für Details aus dem Leben von SPD-Politikern interessiert, wird in den dreizehn Biographien vielleicht doch noch einiges für ihn Interessantes entdecken können. Allen anderen sei von einer Lektüre abgeraten. Jan Kette, M. A.

MIP 2012 18. Jhrg. Rezensionen Patricia M. Schiess Rütimann: Politische Parteien – Privatrechtliche Vereinigungen zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht, Stämpfli Verlag AG Bern, gleichzeitig Bd. 41 der Reihe Schriften zum Parteienrecht und zur Parteienforschung, Nomos Verlag, Baden- Baden 2011, 726 S., 145 CHF, 134 €, ISBN 978-3-7272-8800-5 (Stämpfli), ISBN 978-3- 8329-6959-2 (Nomos). Mit dem Buch von Patricia Schiess Rütimann liegt nunmehr eine weitere parteienrechtliche Habilitationsschrift vor, vorgelegt an der Universität Zürich. Wie auch die Habilitationsschrift von Foroud Shirvani10 aus dem letzten Jahr, wählt die Verfasserin eine interdisziplinäre Herangehensweise. Dies ist beim Betrachtungsgegenstand und Untersuchungsziel sicherlich sinnvoll, denn politische Parteien sind kein normatives Konstrukt des Staats- und Verfassungsrechts. Parteien haben sich weitestgehend außerhalb des Staatsrechts und gegen die dominierenden staatstheoretischen Konzepte und Ideologien entwickelt. Das Recht der politischen Parteien wird in der Praxis nur dann effektive Wirkungen entfalten, wenn es diejenigen Bezüge zu den Nachbardisziplinen herstellt, die es ermöglichen, auf einer empirisch tragfähigen Basis das Phänomen zu analysieren. Die Untersuchung von Patricia Schiess Rütimann geht über diesen interdisziplinären Ansatz allerdings noch hinaus und bezieht auch eine Rechtsvergleichung mit ein. Dies erklärt wohl auch den enormen Umfang der Arbeit von immerhin 726 Seiten und 3849 Fußnoten. Die Habilitationsschrift konzentriert sich auf die Untersuchung der schweizerischen und der belgischen Parteien als privatrechtliche Vereinigungen, die durch ihre Aufgaben und Funktionen in einer Demokratie maßgeblich durch das öffentliche Recht geprägt und überformt sind. Die Organisation und Willensbildung der politischen Parteien sowie die Mitgliedschaft in den Parteien in der Schweiz und in Belgien stehen dabei im Fokus der Betrachtung. Dabei wird eine Gesamtschau der privat- und öffentlich-rechtlichen 10 Foroud Shirvani, Das Parteienrecht und der Strukturwandel im Parteiensystem, 2010. Bestimmungen sowie der von den Parteien selbst getroffenen internen Regelungen vorgenommen. Mit der Schweiz betrachtet die Verfasserin ein Land, das kein spezielles Gesetzeswerk für die politischen Parteien vorweisen kann, und mit Belgien ein Land, das lediglich rudimentäre Spezialregelungen hat. Erkenntnisse zum deutschen Parteienrecht und zu den deutschen Parteien, die ja eine sehr spezielle und dichte Regelung erfahren haben, werden teilweise einbezogen. So etwa bei der verfassungsrechtlichen Stellung, der parteiinternen Schiedsgerichtsbarkeit und bei der inneren Ordnung der Parteien. Die Untersuchung gliedert sich in fünf Teile. Im ersten Teil werden die Grundlagen behandelt, wie etwa die verfassungsrechtliche Stellung und die Definition der politischen Parteien. Der zweite Teil befasst sich mit der Organisation der Parteien im weitesten Sinne, d.h. der Rechtsform, Gliederung, der Möglichkeit von Sanktionen insbesondere gegen Mitglieder. Erörtert wird in diesem Teil auch die Transparenz der Parteien im Hinblick auf ihre Tätigkeiten, aber auch auf die Parteifinanzen. Für die Schweiz, die keine öffentliche Finanzierung der Parteien kennt, wird dabei festgestellt, dass die finanzielle Situation der politischen Parteien, von einzelnen Presseberichten abgesehen, unbekannt ist. Es bestehen keine besonderen Vorgaben für die Buchführung und keine Offenlegungspflichten. Transparenz ist keinesfalls gegeben und wird gesetzlich auch nicht verlangt. Der Verhaltenskodex zur Parteienfinanzierung einer der politischen Parteien bringt es auf den Punkt: die finanzielle Unterstützung durch Unternehmen sei von großer Bedeutung und für die politische Arbeit sei wichtig, dass neben den Parteifunktionären niemand die Namen der Spender und die Höhe der Spende kenne (S. 353 Rn. 705 m.w.N.). Ganz anders die Situation in Belgien, wo eine gesetzliche Regelung zur öffentlichen Finanzierung der politischen Parteien mit darin verankerten Offenlegungspflichten besteht. Im dritten Teil wendet sich Schiess Rütimann dem Verhältnis der Parteien zu den Fraktionen und deren Mitgliedern, den gewählten Abgeordneten, zu und wagt damit einen Blick auf die an sich von den politischen Parteien abgekoppelten Politik- 179

Rezensionen MIP <strong>2012</strong> <strong>18</strong>. Jhrg.<br />

so z. B. eine teilweise Jahrhunderte zurückreichende<br />

Auflistung der Familienvorfahren der interviewten<br />

SPD-Politiker. Alle dreizehn Biographien<br />

folgen dabei einem historiographischen<br />

Aufbau. Grundlage sind „oft vielstündige politisch-biographische<br />

Interviews“ (10). Unterteilt<br />

sind die dreizehn Eliteninterviews in zwei Generationen.<br />

Die erste Generation umfasst sieben Interviewpartner<br />

aus der „ältere[n] und jüngere[n]<br />

Nachkriegsgeneration der historischen SPD“.<br />

Sechs Interviewpartner der zweiten Generation<br />

werden als „Protagonisten der neuen SPD“ zusammengefasst.<br />

Reinhardt selbst bezeichnet die<br />

von ihm durchgeführten Interviews als „teilweise<br />

biographisch[] und teilweise themenzentriert[],<br />

leitfadengestützt[] und teilstandardisiert[]“ (<strong>18</strong>2).<br />

Damit scheinen die Interviews alles gleichzeitig<br />

erfüllen zu sollen.<br />

Insgesamt stellen sich alle dreizehn Biographien<br />

als ergebnisorientierte Zusammenfassung der Interviews<br />

in den Worten des Autors dar, in die regelmäßig<br />

Kurzzitate aus den Interviews sowie<br />

Zitate aus weiteren Quellen eingestreut werden.<br />

Die sich aus den Interviews ergebenden Biographien<br />

erweisen sich dabei als enttäuschend. Neben<br />

einer rein ordnenden Inhaltsangabe der Interviews<br />

darf man keinen tiefergehenden analytischen<br />

Gehalt erwarten. Der Eindruck einer,<br />

wenn auch gerafften, Nacherzählung der Interviews<br />

beschleicht so den Leser.<br />

IV. Krise einer Dissertationsschrift?<br />

Die „Ergebnisse“ des Vergleichs der Fallstudien<br />

lassen sich äußerst knapp zusammenfassen: Ein<br />

überwiegender Teil der interviewten SPD-Politiker<br />

entstammt „den solidarischen und kleinbürgerlichen<br />

Arbeitnehmermilieus“ (514). Es zeigt<br />

sich ein heterogener sozialer Hintergrund der<br />

SPD-Spitzenpolitiker beider Generationen betreffs<br />

ihrer parteipolitischen Bindung (516). Der<br />

Vergleich der Habitūs ergibt eine „Dominanz<br />

der modernisierten konservativen Arbeitnehmermilieus<br />

(Neue Manager und Leistungsorientiert-<br />

Ständische)“ (528-535). Und schließlich zeigt<br />

sich eine „Dominanz der SPD-Rechten und ihrer<br />

Vorstellung von einer Teilhabegerechtigkeit“<br />

(548).<br />

178<br />

Wie lässt sich also die Arbeit von Reinhardt bewerten?<br />

Als zentraler Kritikpunkt an der Arbeit<br />

muss die Operationalisierung der zentralen Hypothese(n)<br />

genannt werden. Reinhardt misst die<br />

Repräsentationsfähigkeit und deren Wandel auf<br />

der SPD-Führungsebene anhand der Interviews<br />

mit dreizehn SPD-Spitzenpolitikern und deren<br />

Unterteilung in zwei Generationen. Um aber tatsächlich<br />

ein Repräsentationsdefizit auf der SPD-<br />

Führungsebene zu einem beliebigen Zeitpunkt<br />

feststellen zu können, hätte Reinhardt die Positionen<br />

der SPD-Führungspersönlichkeiten mit<br />

der Meinungsverteilung in der Bevölkerung und/<br />

oder bei den SPD-Wählern abgleichen müssen.<br />

Auf welcher Grundlage will Reinhardt anhand<br />

seiner Daten eine gesicherte Aussage über den<br />

Wandel der Repräsentationsfähigkeit auf der<br />

SPD-Führungsebene machen können, wenn er<br />

diejenigen, die repräsentiert werden, den Prinzipal,<br />

die Bürger, nicht einmal in seiner Untersuchung<br />

berücksichtigt?<br />

Was kann man Reinhardt zu Gute halten? Sehr<br />

ausführlich ist das Literaturverzeichnis (577-<br />

623). Alle wesentlichen Autobiographien von<br />

und Interviews mit SPD-Führungspersönlichkeiten<br />

haben Verwendung gefunden, es fehlt allerdings<br />

größtenteils eine Berücksichtigung der<br />

englischen Fachliteratur. Die Interviews können<br />

als Ergänzung zu den bereits vorhandenen Autobiographien<br />

und als eine Art „Ersatz“ zu nicht<br />

vorhandenen Autobiographien genutzt werden.<br />

Insgesamt ist die vorliegende Dissertationsschrift<br />

kaum analytisch, sondern überwiegend eine reine<br />

Faktensammlung und -aufzählung und dient<br />

damit allerhöchstens als Nachschlagewerk zur<br />

SPD-Geschichte. Wer auch über die vielen formalen<br />

und stilistischen Mängel hinwegsehen<br />

kann, die nötige Ausdauer mitbringt und sich für<br />

Details aus dem Leben von SPD-Politikern interessiert,<br />

wird in den dreizehn Biographien vielleicht<br />

doch noch einiges für ihn Interessantes<br />

entdecken können. Allen anderen sei von einer<br />

Lektüre abgeraten.<br />

Jan Kette, M. A.

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