2012, Heft 18, S. 5-15 - PRuF

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02.12.2012 Aufrufe

Aufgespießt Simon T. Franzmann – Wie der Erfolg der Piratenpartei [...] MIP 2012 18. Jhrg. Wie soll nun neben der Öffentlichkeit und den politischen Konkurrenten der analytisch-empirische Politikwissenschaftler einerseits, der theoretisch-normativ orientierte Politikwissenschaftler andererseits damit umgehen? Für den Empiriker stellt sich das Problem, dass die obigen Aussagen nur schwerlich in klassische inhaltsanalytische Kategorien wie „negative Aussagen zur Verfassung“ einzuordnen sind. Im Grunde geht nämlich aus der übergeordneten Argumentation der Piratenprogramme hervor, dass Transparenz als das Kontrollmittel angesehen wird, die freiheitliche und demokratische Grundordnung, so wie sie im Grundgesetz skizziert wird, überhaupt erst zu erreichen. Die Intention ist also nicht gegen die Verfassung gerichtet. Hier wird die grundsätzliche Frage nach der Funktionsweise der Demokratie gestellt. Die Kernfrage lautet: Wie groß sollte der Handlungsspielraum eines Abgeordneten in einer repräsentativen Demokratie sein? Ein Ignorieren dieser Frage ist keinesfalls angebracht, weil das angesprochene Dilemma den Kern jeder demokratisch verfassten Gesellschaft betrifft. Für den politikwissenschaftlichen Theoretiker stellt sich das Problem, die im Alltagsleben vorgeprägten neuen Begrifflichkeiten einer systematischen Analyse zugänglich zu machen. Theoretiker und Empiriker können diese Aufgaben nur im Einklang erfolgreich bewältigen. Der theoretisch uniformierte Empiriker würde auf Grund des mangelnden Begriffsinstrumentariums ebenso zu einer Fehlinterpretation der Realität kommen wie der Theoretiker, der sich ausschließlich mit Ideengeschichte beschäftigt und Graswurzeldebatten ignoriert. Der Erfolg der Piratenpartei stellt Gesellschaft, Politik und Wissenschaft vor die Herausforderung, sich mit dieser direktdemokratischen Demokratiekonzeption auseinanderzusetzen. Insbesondere wird erörtert werden müssen, inwieweit bei den technischen Möglichkeiten die Grenzen unseres repräsentativ-demokratischen Systems durch neue Partizipations- und Kontrollmöglichkeiten sinnvollerweise verschoben werden sollten – oder vielleicht umso mehr verteidigt werden müssen. Denn die Existenz neuer technischer Möglichkeiten zur Kontrolle und Partizipation bedeutet nicht zwangsläufig, dass deren 126 Einsatz wirklich zu einer Verbesserung der Demokratiequalität führen muss. Eine ähnliche Debatte könnte in Zukunft für das Urheber- und Nutzungsrecht nötig sein, sofern die Piraten weiterhin Wahlerfolge feiern und das vage Konzept der Nutzerökonomie beibehalten. Das Internet als neue Öffentlichkeit und die damit verbundenen Fragen der Netzpolitik hingegen können ohne größere Probleme in die Auseinandersetzung über individuelle Freiheit und kollektive Sicherheit eingefügt werden. Die im Bundestag vertretenen Parteien sollten wenig Mühe haben, diese Themen der Netzpolitik in ihre Programmatik zu integrieren, je mehr die Lebenswelt ihrer Anhänger ebenfalls vom Internet geprägt sein wird. Wäre Netzpolitik das einzige programmatische Alleinstellungsmerkmal, würde die Piratenpartei vermutlich eine Übergangserscheinung bleiben. Ihre Auffassungen zu Ökonomie, Demokratie und insbesondere zum Wert der Transparenz sind schon jetzt schleichend in die öffentliche Debatte gedrungen und haben das Potential, eine eigene, dauerhafte Parteienfamilie zu etablieren oder zumindest Impulse für eine nachhaltige Veränderung der deutschen Gesellschaft zu liefern.

MIP 2012 18. Jhrg. Martin Schultze – Wirkung des Wahl-O-Mat auf Bürger und Parteien Aufgespießt Wirkungen des Wahl-O-Mat auf Bürger und Parteien Martin Schultze, M.A. 1 1. Popularität, Idee und Ziele des Wahl-O-Mat Seit dem ersten Einsatz des Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl 2002 haben sich die Nutzungszahlen dieser Internet-Applikation kontinuierlich erhöht. Mit 6,7 Millionen Nutzungen zur Bundestagswahl 2009 ist die Nachfrage gegenüber den Bundestagswahlen 2002 und 2005 mit 3,6 bzw. 5,1 Millionen Nutzungen deutlich gestiegen, sodass ein erheblicher Teil des Elektorates erreicht wurde (Marschall 2011). Zudem wurde der Wahl-O-Mat bei einer Reihe von Landtagswahlen sowie bei den Europawahlen 2004 und 2009 eingesetzt. Der Erfolg dieses Tools liegt dabei in seiner Funktionsweise: Es erlaubt vor anstehenden Wahlen auf einfache Weise, die eigene Position zu wahlkampfrelevanten Sachfragen mit denen der antretenden Parteien zu vergleichen. Die beachtliche Nachfrage seitens der Bürger nach dieser und ähnlichen Internet-Applikationen in anderen europäischen Ländern hat zu einer zunehmenden sozialwissenschaftlichen Begleitforschung über solche Tools geführt (zusammenfassend Garzia 2010). Dabei ist die zentrale Frage, ob solche Anwendungen tatsächlich Wirkungen auf die Nutzer zeitigen. Dass der Wahl-O-Mat überhaupt Wirkungen haben soll, wird seitens der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB), die das Tool entwickelt und bereitstellt, ausdrücklich angestrebt. Der Wahl-O-Mat soll demnach das politische Interesse und die Wahlbeteiligung von Jungwählern steigern und Unterschiede zwischen den Parteien deutlich machen. Darüber hinaus sind weitere Wirkungen auf das politische Wissen der Bürger, das eng mit dem politi- 1 Der Verfasser (www.martinschultze.de) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft II der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und promoviert im Bereich der Wahl- und Einstellungsforschung. schen Interesse zusammenhängt, sowie auf die Wahlentscheidung zu Gunsten einer Partei wahrscheinlich. Erwartbar sind auch Reaktionen der Parteien auf den Wahl-O-Mat, da diese in den Prozess der Erstellung eingebunden sind und zu den Thesen Stellung beziehen müssen. Der vorliegende Beitrag soll ausgehend von der Funktionsweise des Wahl-O-Mat wahrscheinliche Wirkungen auf Bürger und Parteien skizieren sowie bereits vorliegende empirische Befunde zusammentragen. 2. Thesengewinnung und Funktionalität des Wahl-O-Mat Vor der Bereitstellung des Wahl-O-Mat ist ein aufwändiger Prozess der Thesengewinnung und Informationseinholung bei den Parteien notwendig. Zwar hat sich dieser Prozess im Laufe der Zeit leicht verändert, das Grundprinzip ist allerdings bestehen geblieben und soll nachfolgend prototypisch dargestellt werden: Partei- und Wahlprogramme der zur Wahl zugelassenen Parteien dienen als Datengrundlage zur Thesengewinnung auf einem dreitägigen Workshop. Dort versammeln sich Jung- und Erstwähler, um mit Hilfe von Experten Thesen für verschiedene Politikfelder zu formulieren. Dabei wird darauf geachtet, dass die Thesen präzise und knapp formuliert sind sowie ohne Fachwissen von den Bürgern beantwortet werden können (Marschall 2005). „Keine Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst“, „Längere Ladenöffnungszeiten an Werktagen“ oder „Der Spitzensteuersatz soll erhöht werden“ sind Beispiele hierfür. Die so erarbeiteten 80 bis 90 Thesen werden anschließend den Geschäftsführungen der Parteien zur Positionierung übermittelt. Die Parteien können die Thesen mit „stimme zu“, „neutral“ oder „stimme nicht zu“ beantworten, sie haben dabei nicht die Möglichkeit Thesen zu überspringen. Optional ist hingegen die Angabe von Begründungen zu den Thesenantworten, von denen die meisten Parteien regen Gebrauch machen. In die finale Version eines Wahl-O-Mat schafft es dann nur knapp die Hälfte der von den Parteien beantworteten Thesen. Die letztendliche Auswahl der Thesen erfolgt auf einem weiteren Workshop mit Politikexperten und der Jugendredaktion der 127

Aufgespießt Simon T. Franzmann – Wie der Erfolg der Piratenpartei [...] MIP <strong>2012</strong> <strong>18</strong>. Jhrg.<br />

Wie soll nun neben der Öffentlichkeit und den<br />

politischen Konkurrenten der analytisch-empirische<br />

Politikwissenschaftler einerseits, der theoretisch-normativ<br />

orientierte Politikwissenschaftler<br />

andererseits damit umgehen? Für den Empiriker<br />

stellt sich das Problem, dass die obigen Aussagen<br />

nur schwerlich in klassische inhaltsanalytische<br />

Kategorien wie „negative Aussagen zur<br />

Verfassung“ einzuordnen sind. Im Grunde geht<br />

nämlich aus der übergeordneten Argumentation<br />

der Piratenprogramme hervor, dass Transparenz<br />

als das Kontrollmittel angesehen wird, die freiheitliche<br />

und demokratische Grundordnung, so<br />

wie sie im Grundgesetz skizziert wird, überhaupt<br />

erst zu erreichen. Die Intention ist also nicht gegen<br />

die Verfassung gerichtet. Hier wird die<br />

grundsätzliche Frage nach der Funktionsweise<br />

der Demokratie gestellt. Die Kernfrage lautet:<br />

Wie groß sollte der Handlungsspielraum eines<br />

Abgeordneten in einer repräsentativen Demokratie<br />

sein? Ein Ignorieren dieser Frage ist keinesfalls<br />

angebracht, weil das angesprochene Dilemma<br />

den Kern jeder demokratisch verfassten Gesellschaft<br />

betrifft. Für den politikwissenschaftlichen<br />

Theoretiker stellt sich das Problem, die im<br />

Alltagsleben vorgeprägten neuen Begrifflichkeiten<br />

einer systematischen Analyse zugänglich zu<br />

machen. Theoretiker und Empiriker können diese<br />

Aufgaben nur im Einklang erfolgreich bewältigen.<br />

Der theoretisch uniformierte Empiriker<br />

würde auf Grund des mangelnden Begriffsinstrumentariums<br />

ebenso zu einer Fehlinterpretation<br />

der Realität kommen wie der Theoretiker, der<br />

sich ausschließlich mit Ideengeschichte beschäftigt<br />

und Graswurzeldebatten ignoriert.<br />

Der Erfolg der Piratenpartei stellt Gesellschaft,<br />

Politik und Wissenschaft vor die Herausforderung,<br />

sich mit dieser direktdemokratischen Demokratiekonzeption<br />

auseinanderzusetzen. Insbesondere<br />

wird erörtert werden müssen, inwieweit<br />

bei den technischen Möglichkeiten die Grenzen<br />

unseres repräsentativ-demokratischen Systems<br />

durch neue Partizipations- und Kontrollmöglichkeiten<br />

sinnvollerweise verschoben werden sollten<br />

– oder vielleicht umso mehr verteidigt werden<br />

müssen. Denn die Existenz neuer technischer<br />

Möglichkeiten zur Kontrolle und Partizipation<br />

bedeutet nicht zwangsläufig, dass deren<br />

126<br />

Einsatz wirklich zu einer Verbesserung der Demokratiequalität<br />

führen muss. Eine ähnliche Debatte<br />

könnte in Zukunft für das Urheber- und<br />

Nutzungsrecht nötig sein, sofern die Piraten weiterhin<br />

Wahlerfolge feiern und das vage Konzept<br />

der Nutzerökonomie beibehalten. Das Internet<br />

als neue Öffentlichkeit und die damit verbundenen<br />

Fragen der Netzpolitik hingegen können<br />

ohne größere Probleme in die Auseinandersetzung<br />

über individuelle Freiheit und kollektive<br />

Sicherheit eingefügt werden. Die im Bundestag<br />

vertretenen Parteien sollten wenig Mühe haben,<br />

diese Themen der Netzpolitik in ihre Programmatik<br />

zu integrieren, je mehr die Lebenswelt ihrer<br />

Anhänger ebenfalls vom Internet geprägt sein<br />

wird. Wäre Netzpolitik das einzige programmatische<br />

Alleinstellungsmerkmal, würde die Piratenpartei<br />

vermutlich eine Übergangserscheinung<br />

bleiben. Ihre Auffassungen zu Ökonomie, Demokratie<br />

und insbesondere zum Wert der Transparenz<br />

sind schon jetzt schleichend in die öffentliche<br />

Debatte gedrungen und haben das Potential,<br />

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