2012, Heft 18, S. 5-15 - PRuF
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MIP <strong>2012</strong> <strong>18</strong>. Jhrg. Simon T. Franzmann – Wie der Erfolg der Piratenpartei [...] Aufgespießt<br />
„Aufgespießt“<br />
Wie der Erfolg der Piratenpartei<br />
Gesellschaft, Politik und Politikwissenschaft<br />
herausfordert<br />
Dr. rer. pol. Simon T. Franzmann 1<br />
Mit dem Einzug in den Berliner Senat im September<br />
2011 ist die Piratenpartei endgültig im<br />
Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit angelangt.<br />
Uneinigkeit herrscht über den Charakter<br />
der Piratenpartei. Sind die Piraten eine Ein-Themen-Partei,<br />
fokussiert auf das Internet und das<br />
Politikfeld „Netzpolitik“? Bündnis 90/Die Grünen<br />
reagierten auf ihrem Programmparteitag im<br />
Dezember 2011 auf den Berliner Wahlerfolg der<br />
Piraten, indem sie ihre in den 1990er Jahren<br />
schon entwickelten Kernkompetenzen im Bereich<br />
Netzpolitik herausstellten und wieder in<br />
den Vordergrund hoben. Doch ist das, was die<br />
Piraten auf die Agenda setzen, wirklich nur, dass<br />
die Politik sich mehr um das Internet kümmern<br />
sollte, ähnlich wie den Grünen vor drei Jahrzehnten<br />
Friedenspolitik und Umweltpolitik zur<br />
Aufmerksamkeit verholfen haben? Massive<br />
Zweifel sind angebracht. Eine systematische<br />
Analyse der programmatischen Inhalte der Piratenpartei<br />
offenbart ein anderes Bild.<br />
Der Begriff „Netzpolitik“ kommt nicht ein einziges<br />
Mal (!) in einem der Wahlprogramme der Piratenpartei<br />
seit der Bundestagswahl 2009 vor.<br />
Das, was die Piratenpartei auf die Agenda setzt,<br />
ist viel radikaler: Nicht ein neues Politikfeld ist<br />
entstanden, sondern eine neue Form von Öffentlichkeit.<br />
Entsprechend gibt es keine Politik, die<br />
speziell für das Politikfeld Internet gedacht ist.<br />
Vielmehr wird vor dem Hintergrund der Massenverbreitung<br />
des Internets Politik vollkommen<br />
neu gedacht. Die Programmatik der Piratenpartei<br />
stellt implizit grundsätzliche Fragen nach der<br />
1 Der Verfasser ist Vertreter des Lehrstuhls für Vergleichende<br />
Regierungslehre an der Universität Greifswald.<br />
Funktion der repräsentativen Demokratie, und<br />
greift gleichzeitig „alte“ unerfüllte Versprechen<br />
unserer Demokratie auf, vor der Grundannahme,<br />
dass mit den neuen technischen Möglichkeiten<br />
des Internets diese unerfüllten Versprechen nun<br />
eingelöst werden könnten. Sie stellt somit grundsätzliche<br />
Forderungen an Politik und Gesellschaft.<br />
Ihr Erfolg und die gleichzeitige Sprachlosigkeit<br />
der Öffentlichkeit gegenüber diesen Forderungen<br />
offenbaren aber sowohl Defizite des<br />
intellektuellen Diskurses als auch der wissenschaftlichen<br />
Beschäftigung mit Politik. Diese<br />
Schlussfolgerung liegt insbesondere dann nahe,<br />
wenn die Programmatik der Piratenpartei einer<br />
systematischen Inhaltsanalyse unterzogen wird.<br />
Hierzu wurden das Bundestagswahlprogramm<br />
sowie die Landtagswahlprogramme analysiert.<br />
Zusammen mit Studierenden der Universitäten<br />
Potsdam und Köln wurden vorläufige inhaltsanalytische<br />
Kodierungen des Bundestagswahlprogramms<br />
der Piratenpartei auf Basis des Kodierschemas<br />
des Comparative Manifestos Project<br />
(CMP) durchgeführt. 2 Das CMP erhebt für alle<br />
Parteien mit mindestens zwei Parlamentssitzen<br />
nach 57 vorverschlüsselten Kategorien3 die inhaltlichen<br />
Hervorhebungen in Wahlprogrammen.<br />
Die jeweiligen Kategorien repräsentieren<br />
dabei einzelne Issues wie Soziale Gerechtigkeit,<br />
Ausbau des Sozialstaats, Befürwortung traditioneller<br />
Wertvorstellungen usw. Das zentrale Kodierschema<br />
repräsentiert im Wesentlichen die<br />
klassischen Politikfelder. Somit eignet sich dieses<br />
Schema besonders gut, um zu testen, ob die<br />
Programmatik einer neuen Partei, wie die Piraten<br />
es sind, sich gut in die herkömmlichen Politikfelder<br />
einsortieren lässt oder nicht.<br />
Bei den Kodierexperimenten zeigte sich zunächst,<br />
dass sich viele programmatische Aussagen<br />
der Piratenpartei nicht in das klassische Kodierschema<br />
einsortieren lassen. Die CMP-Kodieranweisungen<br />
geben nur unzureichende Hilfestellungen<br />
bei Aussagen z.B. zum Urheber- und<br />
Nutzungsrecht, aber auch keine direkten Hinwei-<br />
2 Eine genauere Erörterung des Projektes findet sich bei<br />
Ian Budge et al 2001: Mapping Policy Preferences.<br />
Oxford University Press.<br />
3 56 inhaltliche Kategorien sowie eine Kategorie „sonstige“.<br />
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