INCS - Vol. X - The International Newsletter of Communist Studies ...

48 The International Newsletter of Communist Studies
von SPD und KPD in Sachsen und Thüringen gegen Bayern und die Reichsregierung –
Ereignisse, die doch Europa und die Welt verändern sollten, wurden der Kultivierung
dieses Ursprungsmythos untergeordnet: Tatsächlich erfuhr der "deutsche Oktober" in der
DDR eine nur zaghafte Aufarbeitung durch die Historiker, selbst in der parteioffiziellen
DDR-Historiographie blieb er seltsam unterbelichtet. Nur beim Hamburger Aufstand durfte
geklotzt werden – kein Jugendlicher verpasste den DEFA-Film "Thälmann – Sohn seiner
Klasse", der mit den Hamburger Ereignissen als Höhepunkt endete.48
Doch war da nicht auch: "Hamburg auf den Barrikaden" — hatte Larissa Reissner mit ihrer
packenden Schilderung, die um die Welt ging, Mut und Heldentum zeichnete, um die
natürliche Radikalität der Revolution in alle ihre Teile zu befördern, also maßlos
übertrieben?49 Die Antwort ist ein Ja und ein Nein: Zwar lebte man in Deutschland eben
in revolutionären Zeiten – der "deutsche Oktober" war kein Hirngespinst des Politbüros in
Moskau - doch ändert dies nichts daran, daß in Zukunft die Historiker den "Hamburger
Aufstand" getrost in Anführungsszeichen setzen dürfen. Vielleicht sollten sie es sogar ...
48 Der DEFA-Film »Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse« wird nach Reden von Pieck und Ulbnricht im
März 1954 in Berlin uraufgeführt, in der Hauptrolle von Günter Simon gespielt. Noch im gleichen Jahr
folgte »Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse«. Annette Leo berichtet: "Thälmann war ein Held und er
war unser Vorbild. Daran gab es keinen Zweifel. "Ich gelobe zu lernen, zu arbeiten und zu kämpfen, wie
es Ernst Thälmann lehrt..." Diesen Satz wiederholte jedes Kind bei seinem Eintritt in die Organisation.
Mein kindliches Thälmann-Bild war vor allem von dem Film geprägt, den ich - wer weiß wie oft -
gesehen habe. 1954 wurde ich eingeschult und besuchte im ersten Schuljahr den Hort, bis meine Mutter
wegen der Geburt meiner jüngsten Schwester aufhörte zu arbeiten. In diesem Jahr war auch die
Premiere des Thälmann-Films, der bald zu unserem festen Nachmittagsprogramm gehörte. Wenn es
draußen regnete oder wenn eine Erzieherin krank war, wenn die Erzieher zur Versammlung mußten oder
wenn sie aus anderen Gründen gerade nicht wußten, was sie mit uns machen sollten, dann holten sie
das kleine schnarrende Vorführgerät heraus, verdunkelten den Raum und zeigten uns die
Schmalfilmversion von "Ernst Thälmann - Sohn seiner Klasse". Manche Stellen kannten wir schon
auswendig. Die beliebtesten Szenen, wenn etwa während des Hamburger Aufstands die Blumentöpfe von
oben auf die Soldaten geworfen wurden oder wenn Thälmanns Freund Fiete eine Garage in Brand
steckte und durch die Flammen hindurch und durch die Kanalisation seinen Verfolgern entkam,
kündigten wir schon vorher durch lautes Geschrei und Gelächter an." Annette Leo: "Deutschlands
unsterblicher Sohn..." der Held des Widerstands Ernst Thälmann, in: Rainer Gries/Silke Satjukow,
Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin
2002.
49 Larissa Reissner: Hamburg auf den Barrikaden. Erlebtes und Erhörtes aus dem Hamburger Aufstand,
Berlin, Neuer Deutscher Verlag, o.D., 85 S.
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