21.08.2012 Aufrufe

Wege ins Unsichtbare

Wege ins Unsichtbare

Wege ins Unsichtbare

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

festhalten. Die melancholische Pfarrfrau aus Uster hingegen starrt<br />

<strong>ins</strong> Leere und gibt keine Antwort. Johann klopft auf nackte Rücken,<br />

horcht den Atem ab, fühlt den Puls. Sorgfältig notiert er den Befund<br />

unter den Namen des Hausgenossen auf einen sauberen Papierbogen<br />

und trocknet bedächtig die Tinte mit dem Löschblatt ab. Keiner<br />

wagt eine Frage zu stellen, doch dann kann die Jungfer Locher ihr<br />

hysterisches Kichern nicht verkneifen. Johann lächelt ihr zu.<br />

„Weisst du, Maria, das heisst Krankenjournal.“<br />

Danach muss jeder seine Hände waschen. Den Einwand, dass<br />

Seife teuer sei, lässt er nicht gelten. Lisette und die Gotte schauen<br />

sich ratlos an. Am Wochenende, nach dem Kirchgang, sollen alle<br />

zur Ader gelassen werden. „Ja, Christine, auch du. Und das Blut<br />

schüttest du unter die Beerenstauden.“<br />

Mitte Februar beginnt es zu tauen. Den Tag über tropft es vom<br />

vorspringenden Dach, der Weg wird glitschig. Schwarz stehen die<br />

Tannen im Schnee vor dem bleiernen Himmel. Christine verteilt<br />

Küchenabfälle im Garten, und unzählige Vögel finden sich ein.<br />

Johann wischt die Fensterscheibe trocken und kontrolliert die Temperatur.<br />

Plus fünf Grad. Wenn der Boden aufgetaut ist, wird man<br />

endlich die Toten beerdigen können. Es ist höchste Zeit. Er wird im<br />

Pfarrhaus vorbeigehen.<br />

In der Nacht auf den 21. Februar erwacht Lisebeth aus einem<br />

quälenden Traum. Noch bevor sie die Augen öffnet, fühlt sie, dass<br />

etwas Unheimliches geschieht. Eine panische Angst beschleicht sie.<br />

Sie will nach dem Mann neben sich greifen. Johann ist nicht im Bett.<br />

Mit einem Schlag ist sie hellwach. Ein rötlicher Schein dringt durch<br />

die Fensterläden. Im Halbdunkel erkennt sie die Gestalt Johanns<br />

am Fenster.<br />

„Johann, was ist?“<br />

„Es brennt. Es brennt höllisch, komm schau dir das an.“<br />

Sie tastet sich zu ihm, er hat bereits das Fenster geöffnet und den<br />

Laden hochgeschoben. Rauch liegt in der Luft und das Geräusch<br />

krachender Balken.<br />

„Das muss neben dem Schloss sein, oder dahinter“, flüstert Johann<br />

und drückt sie an sich.<br />

„Wir sollten ...“<br />

„Wir sind zu alt, Lisebeth. Lass andere das machen. Es wird<br />

33

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!