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Wege ins Unsichtbare

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leibt stehen und geniesst das Schauspiel. Da dringt Musik zu ihm<br />

hinüber. Das wird die Schenke sein, von der Kollege Frankenhäuser<br />

sprach.<br />

„Du solltest dir die Geschehnisse in der Frauenklinik nicht allzu<br />

sehr zu Herzen nehmen“, wird dieser ihm über das runde Tischchen<br />

hin erklären, aber sein Blick nach links und rechts verrät seine<br />

eigene Verunsicherung. „Es hat alles seine Geschichte, und die ist<br />

betrüblich.“<br />

Jean schweigt. Das Bier will ihm nicht schmecken. Und dann<br />

<strong>ins</strong>istiert er doch: „Wie gross ist die Todesrate bei den gebärenden<br />

Frauen?“<br />

Frankenhäuser sieht ihn erschrocken an. Zurücklehnend meint<br />

er: „Mein lieber Freund! Das fragt man nicht!“<br />

„Wie wollen wir unseren ärztlichen Dienst verbessern, wenn wir<br />

dessen Erfolg nicht überprüfen, offen und ehrlich?“<br />

„Sigg, genau das will man nicht in Wien!“ Frankenhäuser wirkt<br />

verärgert, aber dann fährt er leiser fort. „Schau, da gab es einen sehr<br />

angesehenen Kollegen, der sich kürzlich das Leben nahm, weil er<br />

den Gedanken nicht ertrug, am Tod seiner Patientinnen schuld zu<br />

sein. Um weitere solche Vorkommnisse ...“<br />

„Warum schuld? Was hat er getan?“<br />

„Das ist es ja! Nichts! Gar nichts anderes, als das, was wir alle<br />

tun, täglich! Aber ein Kollege, Semmelweis, wollte herausgefunden<br />

haben, dass das Kindbettfieber durch uns Ärzte verursacht werde.<br />

Du weisst, die Sache mit der Pathologie ... wenn wir vom Leicheneröffnen<br />

zu den Geburten wechseln, da, meint er, dass wir das<br />

Fieber von der Leiche auf die Patientin übertragen.“<br />

„Das ist allerdings eine üble Unterstellung, eine Zumutung! Wie<br />

kann er nur!“<br />

„Siehst du, eben. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen, es<br />

ist entwürdigend.“<br />

Jean <strong>ins</strong>istiert trotzdem: „Wie kam er auf diese Idee?“<br />

„Er hat keine Beweise, unmöglich. Er stützt sich auf seine Beobachtungen,<br />

auf Tagebucheintragungen und auf einen rechnerischen<br />

Vergleich. Er verglich den Prozentsatz der am Kindbettfieber Verblichenen,<br />

die ohne ärztliche Intervention gebärten, mit der Zahl<br />

derjenigen, die unserer Hilfe bedurften ...“<br />

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