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Wege ins Unsichtbare

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Abrupt steht er auf. Das darf nicht sein. Er muss sich beherrschen,<br />

er ist schliesslich Arzt. Am Fenster steht er und beobachtet<br />

den nächtlichen Himmel. Blitze entladen sich.<br />

Dem Himmel geht es wie mir, denkt er. Aber der Regen ist seine<br />

Erlösung. Und meine?<br />

Die Zeit vergeht. Jean hat sich zu seiner Patientin gesetzt und<br />

versucht, seine Gefühle zu zügeln. Er muss bei dieser Geburt assistieren,<br />

das ist alles. Er ist Helfer, nur das: Helfer.<br />

Neben ihm wird das Mädchen immer schwächer. Er nimmt es<br />

wahr. Aber was soll er tun? Die Natur nimmt ihren Lauf. Als Arzt<br />

sind ihm wenig Mittel gegeben. Aderlass, Einläufe, stärkender Tee,<br />

alles hat er schon eingesetzt, der Rest ist das Werk Gottes. Ja, Gottes.<br />

Auch wenn sein Papa daran zweifelt, hier sieht man es, das Werk<br />

Gottes. Wieder diese Ohnmacht, diese kränkende Ohnmacht des<br />

Arztes. Jetzt versteht er endlich seinen Vater. Verliebt muss man sein!<br />

Nach Mitternacht lässt er Hirtl rufen. Der Professor kommt direkt<br />

aus der Anatomie. Er ist trotz der vorgerückten Stunde guter Laune.<br />

Das hier ist für ihn Routine. Er wischt seine Hände am Leintuch ab<br />

und untersucht die junge Frau.<br />

„Zu jung zum Kinderkriegen! Aber das haben wir gleich.“<br />

Jean staunt, mit welcher Sicherheit der ältere Kollege in die Frau<br />

greift und den Säugling entbinden hilft.<br />

Und das Kind lebt! Die Mutter ist erschöpft aber glücklich. Du<br />

meine Güte! Jean wendet sich ab. Er ist jetzt nur noch müde. Ohne<br />

sich zu verabschieden, geht er. Hinaus in die Nässe, durch den Hof<br />

<strong>ins</strong> Freie, durch die Gassen, der Schlösselgasse entgegen. Schlafen,<br />

endlich schlafen.<br />

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