Wege ins Unsichtbare
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andere Schweizer Ärzte zum geme<strong>ins</strong>amen Essen. Kyburz von Solothurn,<br />
den er vom Studium in Zürich her kennt, Cartier von Basel<br />
und Lorenz von Aarau, der Musensohn, der damals seine Kollegienhefte<br />
in lateinischer Sprache verfasste. Es wird viel gelacht, geneckt,<br />
gesungen und diskutiert. Jean versucht, seine Sorgen loszuwerden.<br />
Aber heute fühlt er sich elend.<br />
Lorenz, der ihm ein Weilchen zugehört hat, meint: „Ich habe<br />
selber einige Wochen in der Frauenklinik gearbeitet, ich muss gestehen,<br />
ich teile deinen Kummer. So viele liebliche Mädchen sterben<br />
zu sehen, bekommt keinem Mann, schon gar nicht einem jungen.<br />
Bist du in sie verliebt?“<br />
Jean zuckt zusammen. Mit dieser Frage hat er nicht gerechnet.<br />
Verliebt? Die Frage irritiert ihn. Und verdirbt seine Laune endgültig.<br />
Er bezahlt seine Zeche und verabschiedet sich früher als üblich.<br />
Auf dem Weg zurück in die Klinik wird er von einem Gewitter<br />
überrascht. Im Innenhof des Krankenhauses reisst der Sturm Äste<br />
von den Bäumen. Durchnässt und immer noch aufgewühlt betritt<br />
er das Gebäude.<br />
Etwas lässt ihn innehalten.<br />
Das riesige Gebäude bedrückt ihn. Ihm ist nicht wohl. Er zögert,<br />
bleibt stehen und horcht. Ein Donner. Schritte, jetzt. Er wartet. Eine<br />
Türe geht und eine vermummte Gestalt erscheint vor ihm, das<br />
Gesicht hinter einer Maske. Jean erschrickt. Es ist eine Frau. Eine<br />
Patientin?<br />
Sie huscht an ihm vorüber, bevor er sie ansprechen kann. Seltsam,<br />
denkt er, was geht hier vor?<br />
Eilig läuft er auf die Station. Das junge Mädchen scheint endlich<br />
gebären zu können. Gott sei Dank. Jean setzt sich neben sie<br />
und wischt ihr Gesicht und Hände mit einem feuchten Lappen ab.<br />
Wieder dieser kindlich verlorene Blick. Er spricht beruhigend auf<br />
sie ein, erzählt ihr von Flaach, dem Dorf in der Schweiz wo er aufwuchs,<br />
von den Weinbergen, dem Wald, den Mühlen, von seinen<br />
kleinen Schwestern, Lisette und Anna. Das Mädchen schaut ihn<br />
unentwegt an. Er streicht ihr eine Haarsträhne aus der Stirn, richtet<br />
ihr die Kissen im Rücken und fühlt eine ungekannte Zärtlichkeit in<br />
sich aufsteigen. Was ist los mit ihm?<br />
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