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Wege ins Unsichtbare

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Vorort von Wien. Der Kapitän versucht, die Passagiere zurückzuhalten,<br />

aber alle haben es eilig, über den glitschigen Steg zu kommen.<br />

Jean lässt sich Zeit. Auch drüben, an Land. Doch da sind die Fiaker<br />

schon weg, und ihm bleibt nur die Ladebühne eines Händlers, um<br />

die Wegstunde in die Stadt zu verbringen.<br />

Und dann steht er endlich vor den Stadtmauern Wiens. Jetzt!<br />

Jetzt ist die Zeit des Studierens und Wanderns zu Ende!<br />

Fünf, nein sogar sechs Stockwerke zählt er. Gewaltig! Gepflasterte,<br />

breite Gassen, weite Plätze, sogar die Brunnen sind riesig. Wie<br />

soll er das seinen Eltern im nächsten Brief beschreiben? Das muss<br />

man gesehen haben! Das ist grossartig! Nachdenklich schlendert er<br />

durch die Gassen. Man hat hier viel Platz, muss sich nicht seinen<br />

Weg bahnen, wie zu Hause, in Zürich.<br />

Jean überlässt sich dem Strom der Fussgänger und Strassenhändler,<br />

wendet sich dahin und dorthin, fasziniert, neugierig.<br />

Plötzlich verlässt ihn der Mut. Er ist irritiert. Die Situation ist<br />

eigenartig. Als hätte er alles schon einmal erlebt. Winzig fühlt er<br />

sich, fremd und ungeborgen. Mit einem Mal ist der jugendliche<br />

Übermut der Angst gewichen. Er kennt diese Angst, sie ist seit<br />

Kindheit seine Begleiterin, heimtückisch kommt sie daher, wirkt<br />

lähmend und verschlingend. Jean zieht sich in einen Hauseingang<br />

zurück. Ihm ist übel. Das Herz jagt. Er muss sich jetzt auf seinen<br />

Atem konzentrieren. Sein Vater, ein Zürcher Landarzt, hat ihn das<br />

gelehrt. Jean versucht, sich zu fassen, klar zu denken. Es ist Abend,<br />

er muss sich nach einem Zimmer umsehen. Das Krankenhaus. Er<br />

muss sich nach dem Krankenhaus erkundigen.<br />

Die Stickelbergerin, verwitwete Fleischhauersfrau in der Schlösselgasse,<br />

wird wenig später dem Wanderburschen eine Kammer<br />

zuweisen, die nach hinten, in den Hof geht. Bassena und Toilette<br />

befinden sich im unteren Flur. Der fremdländisch sprechende junge<br />

Mann macht einen müden Eindruck und scheint etwas verloren<br />

zu sein. Seine schwarzen, zu wilden Locken und der Bart sollten<br />

korrekt geschnitten werden, damit das hübsche Gesicht besser zur<br />

Geltung kommt. Ach, die Schweizer! Ja, sie wird auf alle Fälle ein<br />

zweites Kopfkissen in ihr Bett nehmen.<br />

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