Wege ins Unsichtbare

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munda

Das Buch
Die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ist gekennzeichnet
durch Industrialisierung, Kolonialismus, den Ausbau der Eisenbahn,
die Einführung der Telegraphie, welche den Informationsfluss beschleunigt,
aber auch durch eine rasche Entwicklung der Medizin.
Die Städte wachsen über ihre alten Befestigungsanlagen hinaus, ihre
Bevölkerung nimmt zu, und damit die Notwendigkeit hygienischer
Einrichtungen.
Jean Sigg widmet sich als Landarzt im Zürcher Weinland der medizinischen
Versorgung der Bevölkerung. Er folgt damit seinem
Vater Johann Sigg, dessen Wirken die Autorin in „Jahre der Befreiung”
aufzeichnete. Im Gegensatz zum Vater kann Jean sich an den
Universitäten von Wien und Berlin weiterbilden. Anders als viele
Kollegen ist er aufgeschlossen gegenüber neuen Entwicklungen, an
denen er seine Kranken teilhaben lassen will. Auch dem vorliegenden
Buch liegt ein sorgfältiges Quellenstudium zugrunde, und die
Autorin versteht es, das Material verschiedenster Quellen zu einer
lebensnah erzählten Geschichte zu verweben.
Die Autorin
Beatrice Schaerli-Corradini, geboren 1952 in Zürich, ist promovierte
Psychologin und Psychotherapeutin. Sie hat verschiedene Fachbücher
zur Jugendpsychologie verfasst, so „Bedrohter Morgen. Kind,
Umwelt und Kultur“ (1991) und „Bilder des Schreckens – Schreckliche
Bilder“ (1994). Bei munda erschien von ihr der historische
Roman „Jahre der Befreiung” (2011). Die Autorin lebt in Bonnieux,
Frankreich.
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Beatrice Schaerli-Corradini
Wege ins Unsichtbare
Roman
munda
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Vorderes Umschlagbild: Mikroskop 19. Jahrhundert
Quelle: Can Stock Photo
Hinteres Umschlagbild: Das Arzthaus in Kleinandelfingen
Quelle: Archiv Andelfingen
Veröffentlichung durch den
munda Verlag, 5200 Brugg, Schweiz
(www.munda.ch)
Herstellung durch
Sowa Druk GmbH, 01-209 Warszawa, Polen
(www.sowadruk.pl)
© munda Verlag, 2012
ISBN 978-3-905993-06-6
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Vorwort
In seinen autobiographischen Notizen vermittelt der Arzt Jean
Sigg (1831-1912) ein bewegendes Bild seines Lebens und Wirkens.
Sie liegen diesem Roman, dem Folgeband von ‚Jahre der Befreiung’,
zugrunde.
Mitte des 19. Jahrhunderts wandert Jean nach Wien, Leipzig und
Berlin, um seine Ausbildung als Arzt zu vervollkommnen. Wandert,
denn das Zeitalter der Eisenbahn hat eben erst begonnen, und mit
ihm beginnt sich der technische Fortschritt Bahn zu brechen, dem
auch die Medizin viele Impulse und technische Mittel verdankt.
Zurück in der Schweiz, die ihm klein und rückständig erscheint,
möchte sich der junge Arzt für den wissenschaftlichen Fortschritt
einsetzen und stösst, wie schon sein Vater, auf politisches Desinteresse
und, wie er es nennt, ‚ärztlichen Schlenderian’.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist eine Zeit der kalten,
schneereichen Winter, die das Leben unseres Protagonisten ebenso
zeichnen wie die wiederkehrenden grossen Seuchen: Cholera, Masern,
Typhus, Tuberkulose. Ihnen gilt Jeans unermüdlicher Kampf,
der ihn in die Welt der Mikroorganismen führt, aber auch in das
Elend städtischer Verwahrlosung, die Folgeerscheinung der Industrialisierung
und der Landflucht: Armut, Verelendung, desolate
hygienische Bedingungen.
Die Entdeckung der Bakterien und Viren und ihr Einfluss auf
den Organismus sind Forschungsgegenstand auch im Stübchen
unseres Landarztes, und mit der Evolutionstheorie Darwins verliert
die Theologie im ärztlichen Alltag endgültig an Einfluss.
Der Tod, dieser ‚grausame Würger der Menschheit’, wie Georg
Büchner ihn um 1850 nannte, begleitet unseren Protagonisten im
persönlichen Leben und im beruflichen Alltag. Jean ist genötigt,
mit ihm zu leben. Doch der Verlust an religiöser Verankerung, die
seine Zeit kennzeichnet, lässt ihn den Tod als das noch zu erlegende
Raubtier wahrnehmen. Noch ist der Arzt nicht ein Gott in Weiss,
aber der Wunsch, dank Naturwissenschaft auch ‚dieses Problem’
dereinst lösen zu können, ist ihm nicht fremd.
War damals der Traum vom grenzenlosen Fortschritt Männersache?
Wo standen die Frauen? Neben, sehr oft hinter ihnen. Als
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Ehefrauen, Mägde, Töchter spielten sie ihre Rolle. Ihr Schicksal bildet
die Begleitmelodie in einem Geschehen, dessen Unheimlichkeit
wir heute, hundert Jahre später, besser verstehen.
‚La Belle Epoque’! In ihrem Schatten wird der Zwang zur Norm
tonangebend. Nicht nur der Intelligenzquotient wird definiert, auch
die Klassifizierung des psychisch Abnormen, die Aussonderung
‚asozialer, kranker Elemente’ und der Rassismus nehmen ihren Lauf.
Die Welt wird grösser, aber auch enger, und die neu gegründeten
psychiatrischen Kliniken sind dem Ansturm der Patienten schnell
nicht mehr gewachsen.
Seite an Seite mit dem Aufkommen der Mechanisierung in der Industrie,
entwickeln Medizin und Psychologie das Bild des Menschen
als Maschine. Die Seele wird zunehmend vom Körper abgespalten,
der Körper selbst fragmentiert, das emotionale Beziehungsfeld des
Menschen zerschnitten.
Jean Sigg gehörte noch einer Ärztegeneration an, die das Spezialistentum
nicht kannte. Er war als Landarzt auch Psychiater,
Chirurg, Frauenarzt, Kinderarzt und engagierter Forscher im Feld
der Hygiene. Damit war es ihm möglich, den ganzen Menschen zu
sehen, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts rings um ihn dieser Blick
schon verloren ging und sich ein Denken durchsetzte, das unter anderem
die Tragödien zweier Weltkriege ermöglichte und bis heute
auch in der Medizin und Psychologie fortwirkt.
Aber noch sind wir nicht so weit, wir schreiben das Jahr 1855.
Jean, vierundzwanzigjährig, frisch promovierter Arzt, schläft auf
den Kisten bayerischer Tuchhändler auf einem Lastkahn, der die
Donau hinunter treibt ...
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1855
Wien, im Juni
Draussen wird es heller. Genug Tageslicht, um den Weg zu
finden.
Vor dem Lavoir schlüpft sie aus dem Nachthemd. Sie betrachtet
im Spiegel ihren Körper. Die Brüste sind noch praller geworden. Sie
legt beide Hände über den Bauch, sie ist aufgewühlt.
Nun darf sie keine Zeit verlieren. Resle, die Köchin, hat ihr ein
Kleid geliehen. Man wird sie auf der Gasse nicht erkennen. Leinen
ist sie nicht gewohnt. Das Tuch ist rau und schmiegt sich nicht an
den Körper. Wie fremd sie darin ausschaut!
Sie steckt sich die Haare hoch und bindet ein Kopftuch darüber.
Dann nimmt sie die Maske.
Auf dem Hohen Markt werden die ersten Stände hergerichtet.
Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Marktweiber, Gassenjungen
und Händler, auch der Wassermann ist unterwegs. Noch nie war
sie um diese Zeit in der Stadt. Das ziemt sich nicht für ein Mädchen
von Rang und Namen. Aber heute wird man sie nicht erkennen.
Sie schlüpft aus dem Hauseingang.
Sie überquert den Platz. Beinahe wäre sie von einem Karren
angefahren worden, im letzten Moment rettet sie sich mit einem
Sprung zur Seite. Ein wilder Schmerz fährt ihr durch den Rücken,
sie schnappt nach Luft und krümmt sich.
Niemand hat es bemerkt. Oder doch? Sie nestelt an ihrem Rock
und zieht sich die Maske über. Hinter dem Karton fühlt sie sich
sicher.
Die Welt ringsum entgleitet ihr. Sie konzentriert sich auf den
Schmerz, der stärker wird. Er kommt in Wellen. Sie darf nicht stehen
bleiben. Sie hat den Weg gut in Erinnerung. Noch eine Häuserzeile.
Die Türe ist verriegelt. Panik steigt in ihr hoch, aber dann sieht sie
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die Klingel. Als man ihr öffnet, wird es ihr schwarz vor den Augen.
„Du hast den Zettel?“
Einen Moment muss sie sich fassen. Dann nestelt sie an ihrem
Brusttuch und findet ihn. „Da.“
Das Gesicht der Wärterin zeigt keine Regung. „Ist er versiegelt?“
fragt sie forsch.
„Ja, ich habe alles notiert.“
„Dann komm.“
Sie folgt der Wärterin.
Was für riesige, schwere Schuhe!
Sie muss ihr vertrauen dürfen, sie hat keine Wahl. Sie möchte
sich endlich fallen lassen.
Mit einem Ruck fährt Jean aus dem Halbschlaf. Hat man ihn
gerufen? Oder hat er geträumt? Im Aufsitzen hat er den Kopf an der
Kajütendecke angeschlagen und reibt sich nun die Stirn. Sie sind
immer noch nicht angekommen. Der Kahn schwankt bedenklich.
Das werden die Stromschnellen sein. Vor zwei Stunden hat sich
ein Lotse zu ihnen gesellt. Er selbst hat gesehen, wie der Kapitän
missmutig den Platz auf dem vorderen Deck freigab. Die Ruderer
sind schweigsam geworden, man hört nur die Befehle des Lotsen.
Manchmal drohen die Fässer, auf denen er sich zum Schlafen
eingerichtet hat, zu kippen. Stoffballensind davon gerollt, und aus
dem Korb der Linzerin sind die Hühner geflohen. Das hat ihn geweckt,
dieser gackernde Aufruhr, das wird es sein.
„Magst ein Bier?“
Sein bayerischer Reisegefährte ist bester Laune. Nicht mehr lange,
und sie haben das Ziel ihrer Reise erreicht. Wien. Die Stadt an der
Donau, der lehmfarbenen, eintönigen Donau mit ihren Lastkähnen.
Jean ist froh diese Flussreise zu beenden. In Zukunft wird er sich
einen Dampfer leisten. Das Bier ist flau, aber es stillt den Durst. Wieder
schlägt der Kahn gegen einen Felsen. Rumpelnd fallen Kisten
voneinander. Zwei verärgerte Händler bedrohen sich mit Fluchen
und Fäusten. Das reicht. Jean rutscht von seinem Schlafplatz, greift
nach Reisetasche und Geige und bahnt sich einen Weg raus aus der
Kajüte an die frische Luft.
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Das Wetter hat sich nicht gebessert. Die Wolken hängen so tief,
dass man den Horizont nicht sieht. Und die Donau ist lehmfarben.
Wie heisst es doch in dem Lied von der schönen Donau? Blau? Vielleicht
könnte die Landschaft drüben am Ufer schön sein. Vielleicht.
Zwölf Stunden nun schon. Er reibt sich das Kreuz.
Jemand zupft ihn am Ärmel. Ein Knabe, barfüssig, die mageren
Beine in abgetragenen, zu kurzen Lederhosen. Die Mütze hält er in der
einen, eine hölzerne Statue der Jungfrau Maria in der anderen Hand.
„Die Jungfrau hat Sie vor dem Ertrinken in den Strudeln bewahrt,
gnädiger Herr.“
Jean muss lachen. „Ich bin nicht katholisch, weisst du, aber einen
Gulden will ich dir trotzdem schenken.“
Der Bub ist schon entwischt, als ein Bettelmönch sich vor ihn
drängt mit dem Bild eines Flussheiligen. Das Geld seiner Büchse
sei für das Krankenhaus bestimmt, will er ihm glaubhaft machen.
„Wie heissen denn die Herren Doktoren des Krankenhauses?“
erkundigt sich Jean.
Der andere ist verunsichert, stammelt etwas Unverständliches.
„Wenn Ihr keinen Doktor habt in Eurem Krankenhaus, dann
werde ich meinen Segen nicht geben. Lieber werde ich selbst dort
Hand anlegen.“
Nun hat er seine Ruhe. Er hält sich am hölzernen Geländer fest
und versucht, in der Ferne Wien ausfindig zu machen. Seit wie vielen
Wochen ist er nun schon unterwegs? Er hat viel erlebt auf seiner
Wanderung. Herrliches, Lustiges, Bedenkliches. Niemals hätte er
sich gedacht, dass die Fremde ihn so zu begeistern vermochte. Gerne
wäre er da oder dort länger geblieben, wo er andere Schweizer
auf Wanderschaft traf. Aber Wien war immer sein Ziel. Wien, das
Mekka der Medizin. Mit seinem Doktortitel in der Tasche wird er
dort seine Laufbahn beginnen. Er wird alles daran setzen, ein grosser
Arzt zu werden. Er will bestens gerüstet nach Zürich zurückkehren,
um dort eine leitende Stellung übernehmen zu können. Später ein
Haus am Zürichsee, eine Familie gründen, Dienstboten, eine kleine
Equipage. Schöne Träume sind das!
Neben ihm nun wieder ein Aufruhr. „Wir sind da!“
Tatsächlich! Da vorne ist der Landesteg in Sicht. Nussdorf, ein
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Vorort von Wien. Der Kapitän versucht, die Passagiere zurückzuhalten,
aber alle haben es eilig, über den glitschigen Steg zu kommen.
Jean lässt sich Zeit. Auch drüben, an Land. Doch da sind die Fiaker
schon weg, und ihm bleibt nur die Ladebühne eines Händlers, um
die Wegstunde in die Stadt zu verbringen.
Und dann steht er endlich vor den Stadtmauern Wiens. Jetzt!
Jetzt ist die Zeit des Studierens und Wanderns zu Ende!
Fünf, nein sogar sechs Stockwerke zählt er. Gewaltig! Gepflasterte,
breite Gassen, weite Plätze, sogar die Brunnen sind riesig. Wie
soll er das seinen Eltern im nächsten Brief beschreiben? Das muss
man gesehen haben! Das ist grossartig! Nachdenklich schlendert er
durch die Gassen. Man hat hier viel Platz, muss sich nicht seinen
Weg bahnen, wie zu Hause, in Zürich.
Jean überlässt sich dem Strom der Fussgänger und Strassenhändler,
wendet sich dahin und dorthin, fasziniert, neugierig.
Plötzlich verlässt ihn der Mut. Er ist irritiert. Die Situation ist
eigenartig. Als hätte er alles schon einmal erlebt. Winzig fühlt er
sich, fremd und ungeborgen. Mit einem Mal ist der jugendliche
Übermut der Angst gewichen. Er kennt diese Angst, sie ist seit
Kindheit seine Begleiterin, heimtückisch kommt sie daher, wirkt
lähmend und verschlingend. Jean zieht sich in einen Hauseingang
zurück. Ihm ist übel. Das Herz jagt. Er muss sich jetzt auf seinen
Atem konzentrieren. Sein Vater, ein Zürcher Landarzt, hat ihn das
gelehrt. Jean versucht, sich zu fassen, klar zu denken. Es ist Abend,
er muss sich nach einem Zimmer umsehen. Das Krankenhaus. Er
muss sich nach dem Krankenhaus erkundigen.
Die Stickelbergerin, verwitwete Fleischhauersfrau in der Schlösselgasse,
wird wenig später dem Wanderburschen eine Kammer
zuweisen, die nach hinten, in den Hof geht. Bassena und Toilette
befinden sich im unteren Flur. Der fremdländisch sprechende junge
Mann macht einen müden Eindruck und scheint etwas verloren
zu sein. Seine schwarzen, zu wilden Locken und der Bart sollten
korrekt geschnitten werden, damit das hübsche Gesicht besser zur
Geltung kommt. Ach, die Schweizer! Ja, sie wird auf alle Fälle ein
zweites Kopfkissen in ihr Bett nehmen.
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Dass er anderntags sogleich Arbeit findet in der Frauenklinik,
hätte er nicht zu hoffen gewagt.
„Der Vollmond, lieber Kollege, meint es gut mit den Weibern!“
erklärt ihm Professor Hirtl, ein kleingewachsener, kahlköpfiger
Mann in offenem schwarzem Frack. „Sie werden viel zu tun haben
in diesen Tagen.“
Er hat ihm auf der Schautafel das Wiener Krankenhaus vorgestellt,
einen riesigen Gebäudekomplex, hufeisenförmig um einen
Innenhof gruppiert, der als Parkanlage mit symmetrisch in Reihen
gepflanzten Bäumen die neue Philosophie der Wissenschaften
symbolisiere. Jetzt öffnet er ihm die Türe zum Krankensaal und
lädt ihn mit einer eleganten Bewegung zum Eintreten ein. Die
Patientinnen in ihren blauweiss gestreiften Nachthemden drehen
ihnen die Köpfe zu.
„Das hier wäre denn also ihr Reich. Aber keine Angst, Sie werden
sehen, mit dem Vollmond kommen die Kinder leichter zur Welt.“
Jean steht und schaut. Dass hier jede Patientin ein eigenes Bett
hat! Das ist unglaublich!
„Ist das nicht ein bedenklicher Luxus?“ wagt er flüsternd zu fragen.
Aber Hirtl erklärt ihm, dass das hitzige Faulungsfieber seltener
auftrete, wenn nicht drei bis vier Personen beieinanderlägen. Die
Krankheit wandere unsichtbar durch die Luft und erreiche stets
den am nächsten Liegenden. „Miasmen, lieber Kollege, das sind die
Miasmen. Ist die erste Patientin tot, stirbt die zweite bald.“
„Miasmen?“ wundert sich Jean.
„Unsichtbare Elemente, die in der Luft zirkulieren. Sie tragen
die Krankheit von einem zum andern.“
„Sind das Lebewesen?“
Der Kollege lacht. „Wie soll ich das wissen, ich habe keines von
ihnen je persönlich kennengelernt.“
„Wenn man genau hinschaut ...“
„Ja, geh! Das kann nicht sein, man sieht sie nicht“, fällt ihm der
andere lachend ins Wort.
Jean schweigt. Was würde Papa dazu sagen? Man muss noch
genauer hinsehen. Man muss lernen, noch genauer zu sein. Er
schmunzelt.
Der Kollege mustert ihn von der Seite und nimmt das Gespräch
wieder auf. „Sind denn die Eidgenossen von Seuchen verschont?“
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Jean lacht. „Oh, nein. Doch in der Schweiz zweifelt man heute
daran, dass Seuchen eine kollektive Sühne sein könnten. Mein Vater
jedenfalls, er ist auch Arzt. Aber es muss tatsächlich etwas geben,
was die Krankheit befördert, wenn man Gott aus dem Spiel lässt.
Wirklich, der Gedanke überzeugt mich.“
„Ach, kommen Sie! Saubere Luft ist das Wichtigste. Und Abstand
halten.“
Und Stille, denkt Jean. Wir müssen in Zürich lernen, die Welt des
Kranken von der Welt des Gesunden zu trennen. Das Krankenhaus
hier ist eine Stadt für sich, abgetrennt von der Welt der Gesunden.
Da kommt kein Besucher mit einem Ferkel daher, und das Zutragen
von Speisen erübrigt sich. Die Wärterinnen kochen recht gut, sagte
man ihm. Alles scheint geregelt. Unglaublich!
Schon nach wenigen Tagen fühlt er sich heimisch in der Frauenklinik.
Aber das Mädchen, das schon seit Stunden in den Wehen
liegt, macht ihm Sorgen. Sie ist noch sehr jung, keine sechzehn
Jahre alt, schätzt er. Ihre dunklen Augen sind glanzlos, das gefällt
ihm nicht.
Er hat gefragt, wie sie heisse, aber sie gab ihm keine Antwort.
Hat ihn nur angeschaut mit ihrem verlorenen Blick und nichts geantwortet.
Auch vom Vater des Kindes und ihren Eltern wollte sie
ihm nichts erzählen. Warum dieses Schweigen?
Sie wird diese Geburt nicht überleben. Der Gedanke trifft ihn
wie ein spitzer Pfeil. Was ist los mit mir? fragt er sich, das ist doch
eigentlich ganz natürlich.
Jean verlässt den Krankensaal, er ist aufgewühlt. Wieder einmal
verspürt er Fassungslosigkeit gegenüber dem Schicksal einer Kranken.
Das Mädchen ist jünger als er selbst. Seine 24 Jahre sind doch
auch erst der Anfang des Lebens! Warum sie? Und fern ihrer Eltern,
der liebevollen Fürsorge der Familie, ganz alleine, namenlos dem
Schicksal preisgegeben. Nein. Daheim, in der Obhut seines Vaters,
würde man jetzt zumindest beten. Alle würden sich um die Kleine
scharen und ihr Trost spenden. Und beten, ja. Er muss in der Nacht
noch einmal bei ihr vorbeischauen.
Am Abend trifft er im gewöhnlichen Speisehaus ‚Zum Kindhof’
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andere Schweizer Ärzte zum gemeinsamen Essen. Kyburz von Solothurn,
den er vom Studium in Zürich her kennt, Cartier von Basel
und Lorenz von Aarau, der Musensohn, der damals seine Kollegienhefte
in lateinischer Sprache verfasste. Es wird viel gelacht, geneckt,
gesungen und diskutiert. Jean versucht, seine Sorgen loszuwerden.
Aber heute fühlt er sich elend.
Lorenz, der ihm ein Weilchen zugehört hat, meint: „Ich habe
selber einige Wochen in der Frauenklinik gearbeitet, ich muss gestehen,
ich teile deinen Kummer. So viele liebliche Mädchen sterben
zu sehen, bekommt keinem Mann, schon gar nicht einem jungen.
Bist du in sie verliebt?“
Jean zuckt zusammen. Mit dieser Frage hat er nicht gerechnet.
Verliebt? Die Frage irritiert ihn. Und verdirbt seine Laune endgültig.
Er bezahlt seine Zeche und verabschiedet sich früher als üblich.
Auf dem Weg zurück in die Klinik wird er von einem Gewitter
überrascht. Im Innenhof des Krankenhauses reisst der Sturm Äste
von den Bäumen. Durchnässt und immer noch aufgewühlt betritt
er das Gebäude.
Etwas lässt ihn innehalten.
Das riesige Gebäude bedrückt ihn. Ihm ist nicht wohl. Er zögert,
bleibt stehen und horcht. Ein Donner. Schritte, jetzt. Er wartet. Eine
Türe geht und eine vermummte Gestalt erscheint vor ihm, das
Gesicht hinter einer Maske. Jean erschrickt. Es ist eine Frau. Eine
Patientin?
Sie huscht an ihm vorüber, bevor er sie ansprechen kann. Seltsam,
denkt er, was geht hier vor?
Eilig läuft er auf die Station. Das junge Mädchen scheint endlich
gebären zu können. Gott sei Dank. Jean setzt sich neben sie
und wischt ihr Gesicht und Hände mit einem feuchten Lappen ab.
Wieder dieser kindlich verlorene Blick. Er spricht beruhigend auf
sie ein, erzählt ihr von Flaach, dem Dorf in der Schweiz wo er aufwuchs,
von den Weinbergen, dem Wald, den Mühlen, von seinen
kleinen Schwestern, Lisette und Anna. Das Mädchen schaut ihn
unentwegt an. Er streicht ihr eine Haarsträhne aus der Stirn, richtet
ihr die Kissen im Rücken und fühlt eine ungekannte Zärtlichkeit in
sich aufsteigen. Was ist los mit ihm?
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Abrupt steht er auf. Das darf nicht sein. Er muss sich beherrschen,
er ist schliesslich Arzt. Am Fenster steht er und beobachtet
den nächtlichen Himmel. Blitze entladen sich.
Dem Himmel geht es wie mir, denkt er. Aber der Regen ist seine
Erlösung. Und meine?
Die Zeit vergeht. Jean hat sich zu seiner Patientin gesetzt und
versucht, seine Gefühle zu zügeln. Er muss bei dieser Geburt assistieren,
das ist alles. Er ist Helfer, nur das: Helfer.
Neben ihm wird das Mädchen immer schwächer. Er nimmt es
wahr. Aber was soll er tun? Die Natur nimmt ihren Lauf. Als Arzt
sind ihm wenig Mittel gegeben. Aderlass, Einläufe, stärkender Tee,
alles hat er schon eingesetzt, der Rest ist das Werk Gottes. Ja, Gottes.
Auch wenn sein Papa daran zweifelt, hier sieht man es, das Werk
Gottes. Wieder diese Ohnmacht, diese kränkende Ohnmacht des
Arztes. Jetzt versteht er endlich seinen Vater. Verliebt muss man sein!
Nach Mitternacht lässt er Hirtl rufen. Der Professor kommt direkt
aus der Anatomie. Er ist trotz der vorgerückten Stunde guter Laune.
Das hier ist für ihn Routine. Er wischt seine Hände am Leintuch ab
und untersucht die junge Frau.
„Zu jung zum Kinderkriegen! Aber das haben wir gleich.“
Jean staunt, mit welcher Sicherheit der ältere Kollege in die Frau
greift und den Säugling entbinden hilft.
Und das Kind lebt! Die Mutter ist erschöpft aber glücklich. Du
meine Güte! Jean wendet sich ab. Er ist jetzt nur noch müde. Ohne
sich zu verabschieden, geht er. Hinaus in die Nässe, durch den Hof
ins Freie, durch die Gassen, der Schlösselgasse entgegen. Schlafen,
endlich schlafen.
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Flaach, im Sommer
Das Heu ist eingetan, der Weizen steht in Garben. Johann kann
sich endlich Ruhe gönnen. Er setzt sich im Garten in den Schatten
des Birnbaumes mit der ‚Neuen Zürcher Zeitung’ und vertieft sich
in die Lektüre. Es gefällt ihm, Neues aus dem Kanton und der Stadt
zu vernehmen, das Leben in der Abgeschiedenheit des Weinlands
war nie nach seinem Geschmack. Landarzt. Hier in Flaach, einem
kleinen Weinbauerndorf, hinter Hügeln versteckt.
Er hatte keine Wahl. Als mittelloser Medizinstudent war er
auf die finanzielle Unterstützung seines Paten, eines Zürcher
Adeligen, angewiesen. Und nach dessen Pfeife wurde dann
auch getanzt. Früher hat ihn dies verärgert und gekränkt, aber
mit den Jahren ist der Widerstand einer gewissen Zufriedenheit
gewichen. Und heute? Jean, der Älteste, ist in Wien, ach ja. Der
Sohn kann sich im Ausland weiterbilden. Dies und anderes sind
ganz in seinem Sinn.
Er hat wahrgenommen, dass Christine, die Magd, zweimal an
ihm vorbeikam mit Wäschezeinen. Drüben, bei Hürzelers, veranstalten
die Gänse ein Riesengeschrei. Der Bub hat wohl vergessen,
das Gatter zu schliessen.
Flaach, Zürich, Wien. Seltsam, dass gleichzeitig in so ganz
verschiedenen Welten Dinge passieren. Seitdem sie die Poststelle
eröffnen konnten, ist der Blick auf die Welt offener geworden. Alles
ändert sich, neue Wege sind eröffnet, die Ferne ist näher gerückt,
aber damit auch das Fremde. Seltsam, vielleicht liegt darin ein
Grund für die Zunahme geistiger Verwirrung?
Eine Bachstelze hat sich auf dem Brunnenrand niedergelassen.
Hinter dem Obstgarten verfinstert sich der Himmel. Johann klemmt
sich wieder die Brille auf den Nasenrücken.
Jetzt bleibt er an einem Artikel über die Eisenbahn hängen. Tatsächlich!
Die Linie Zürich-Schaffhausen wird nun doch noch fertig.
Ob es ihm gelingt, mit der Familie an der Eröffnung teilzunehmen?
Eine Fahrt mit der Eisenbahn. Die Kinder werden begeistert sein,
aber die Frauen? Sie bleiben wohl zäh bei ihren Bedenken! Aber man
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kann sich dem Fortschritt nicht ewig verschliessen! Er wird nach
dem Abendessen mit ihnen sprechen. Sie zu überzeugen versuchen.
Das Eröffnungsfest ist ein Riesenerfolg. Alle sind nach Henggart
gekommen: Die Bauern der umliegenden Höfe, die Handwerker,
ein Grüppchen junger Mädchen, eine lärmende Kinderschar. Sehen
oder fahren, einerlei, allein der Anblick der Lokomotive mit ihren
glänzenden Messingarmaturen, der Glocke und dem Kamin! Das
ist ein Gedränge und Gerufe.
Johann hat sich noch rechtzeitig um Fahrkarten gekümmert, jetzt
ist er froh, wenn er für die Seinen noch ein freies Abteil ergattern
kann. Wie seine Lisebeth und die Gotte ihm im Wagen gegenübersitzen,
fein herausgeputzt, aber mit bleichen, angespannten Gesichtern,
den Picknickkorb ängstlich zwischen sich geklemmt, dauern
sie ihn trotzdem. Sie sind wirklich auffallend still.
„Macht euch doch keine Sorgen. Ihr werdet sehen, das ist alles
kaum gefährlicher als eine Reise mit der Postkutsche. Ein wenig
schneller vielleicht“, versucht er sie zu beruhigen, aber er stösst
auf taube Ohren.
„Du warst es, der davon sprach, dass es dem Körper schade,
sich so schnell fortzubewegen, dass nicht sicher sei, ob die Organe
... wegen der Geschwindigkeit Schaden nehmen ...“, reklamiert die
Gotte, und Lisebeth setzt hinzu: „Das Gehirn könnte platzen! Das
hast du selbst gesagt, daran erinnere ich mich auch!“
„Das hat sich als Unfug erwiesen. Man hat ja mit der Spanischbrötlibahn
Erfahrungen sammeln können. Aber als Arzt musste ich
Bedenken haben. Die hohe Geschwindigkeit ist wider die Natur.“
Nachträglich muss er selber lachen ob dieser Bedenken. Sein
Schwager, der begeisterte Industrielle, kennt keine Zweifel in
dieser Sache und hat sich wiederholt über die Befürchtungen der
Ärztegilde lustig gemacht. Zweifellos beginnt eine neue Zeit mit
der Eisenbahn. Speditionen, Transport von Reisenden. Das Land
wird industriell nutzbar, wir werden nie wieder eine Hungersnot
erleben. Goldige Aussichten, allerdings! Und doch. Seine Zweifel
vermochte der Andere nicht zu verscheuchen. Es geht doch auch
um den Menschen, nicht nur um den wirtschaftlichen Vorteil. Alles
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geht nun so schnell. Zu viele Veränderungen in kurzer Zeit, das sind
wir nicht gewohnt. Wie ertragen wir diese Veränderungen, was
bürden wir uns auf? Mit dem alten Leben haben wir Erfahrungen
sammeln können, das neue liegt vor uns als geschlossenes Buch, und
die Alten können den Jungen nicht mehr mit Rat zur Seite stehn.
Nun ist alles unsicher geworden.
Vor den Fenstern zieht die Landschaft vorüber. Bald werden
sie in Zürich sein. Wie viele Male hat er selbst diese Reise zu Fuss
unternommen, als Schüler, später als Student, als Arzt? Ganz selbstverständlich
hat man sich auf seine eigenen Füsse verlassen. Ist
aufgebrochen oder stehen geblieben, wann es einen gut dünkte. Nun
wird alles nach den Fahrplänen geregelt, in der Westentasche wird
die Uhr immer griffbereit sein müssen. Tatsächlich, eine neue Zeit!
Gottfried, der Dreizehnjährige, ist aufgestanden und neben ihn
getreten. „Papa, können wir in Zürich noch ein wenig bei den Lokomotiven
bleiben?“
„Ich weiss nicht, Kind. Die schönen Kleider und dann der Rauch,
das kommt nicht gut. Wir werden sehen.“
„Essen wir das Picknick denn nicht im Bahnhof?“
„Nein, Gottfried, auf dem Platzspitz unter den Bäumen, da kann
man sich in die Wiese setzen, da ist es schön.“
„Sieht man von dort die Züge?“
Jetzt betrachtet Johann seinen jüngsten Sohn aufmerksamer. Der
wird auch ein Techniker! Noch einer! denkt er und schmunzelt.
„Weisst du, Gottfried, du solltest einmal mit Onkel Salomon auf den
Bahnhof fahren, ganz allein. Er kann dir besser als ich alles erklären.“
Gottfried strahlt und schaut versonnen aus dem Fenster. Ihn
dünkt, die Reise dürfte nicht enden. Immer weiter und weiter in die
Welt hinaus fahren, das lockt ihn, das wird er später unternehmen,
eine Reise rund um die Welt mit der Eisenbahn.
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Wien, im Sommer
„Jessasmariaundjosef, wie schaun S’ denn aus!“
Die Stickelbergerin kreuzt schon wieder seinen Weg, man entkommt
ihr nicht. Jean blickt an sich hinunter und fühlt, dass er rot
wird.
„Nun ja, gnädige Frau, ich hab mich halt ein wenig herausgeputzt,
schliesslich ist morgen Sonntag.“
„Morgen Sonntag! Mein lieber Herr Doktor! Das wird mir was
geben mit Ihnen!“
„Mit Verlaub, gnädige Frau, das Frühstück werde ich im Prater
einnehmen.“
„Mögen S’ meine Pogatscherln nicht, was?“
„Nein, ich meine, ja, ich hab halt eine Verabredung.“ Jetzt ist es
heraus. Jetzt schmollt sie. Das sah er kommen. Die nicht mehr ganz
junge Witwe bedrängt ihn zu sehr, jetzt hat sie das Nachsehen. Er
schliesst hinter sich die Zimmertür. Meine Güte! Das Bild der jungen
Patientin geht ihm nicht aus dem Sinn, wie soll er da diese Dame,
nein, mein Gott, bitte!
Es stört ihn, dass er täglich ihr Schlafzimmer durchqueren muss,
um zu seiner Kammer zu gelangen. Jedes Mal fühlt er ihren Blick.
Sie lauert mir auf, denkt er.
Er betrachtet sich im Spiegel. Der Barbier hat sein Geld wohl
verdient. Haare und Bart sind tüchtig in Form geschnitten! Und
der neue Anzug, echt wienerisch. Er gefällt sich.
Schmunzelnd lässt sich Jean aufs Bett sinken. Ach, die Wiener.
Was für eine schillernde Welt. Heute hat er mit Lorenz das Römische
Bad aufgesucht. Du meine Güte, davon wird er in Flaach
nichts verlauten lassen. Das war ein sündiges Unterfangen. Aber
für die Wiener alltäglich. Die haben eine ganz besondere Lebensphilosophie,
die mit dem Christentum nicht so recht in Einklang
zu bringen ist. Ein ungeheurer, naiver Leichtsinn. Ja, das ist es. Sie
geniessen hemmungslos.
Das Römische Bad! Säle wie Kirchenräume! Mit vergoldeten
Säulen und schweren Damastvorhängen.
Von Spiegelwänden umgeben hat er sich entkleidet und die weis-
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se Badeschürze umgebunden. Dann hat er durch zwei schwingende
Flügeltüren den Saal mit dem Schwimmbassin betreten. Wie ein Gott
hat er sich gefühlt! Wie ein junger Gott! In Fichtennadeldämpfe gehüllt
hat er sich ins Wasser gleiten lassen. Dort schwamm er, auf dem
Rücken liegend und sein Blick wanderte von den Marmorstatuen
zu den rotsamtenen Möbeln und hinauf in die turmhohe goldene
Kuppel. Was für Erinnerungen! Am Ende haben weiss gekleidete
Männer ihn abgetrocknet, man hat ihm die Zehennägel geschnitten,
Haare und Bart. Sünde. Das ist Sünde. Aber schön. Zürich ist ein
erbärmliches Nest.
Jean gibt sich einen Ruck. Wienerleichtsinn! Wieviel Geld bleibt
ihm nach diesem Vergnügen? Der Augenoperationskurs bei Professor
Jäger wird ihn viel Geld kosten. Er muss zurück ins Krankenhaus
zur Krankenvisite. Vernunft annehmen.
So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Die Geburt war entsetzlich,
so wie Resle das Ereignis beschrieb: Leben und Tod ringen
miteinander. Aber als sie die Stimme ihres Kindes hörte, empfand
sie plötzlich Zärtlichkeit für den Balg.
Sie will es doch nicht, sie kann es nicht behalten.
Sie wird es im Findelhaus in die Schublade legen. Das ist alles.
Warum nun plötzlich diese Gefühle für ein Wesen, das niemals
Platz haben wird in ihrem Leben?
Sie wollte sich nur etwas ausruhen und dann gehen. Das Kind
nehmen und gehen. Das Fieber überkam sie ohne Vorwarnung. Der
Schmerz im Unterleib raubte ihr die Besinnung. Sie wollte aufstehen,
das Kind nehmen und gehen.
Jetzt nimmt sie nur noch verschwommen wahr, dass die Wärterin
ihr die Stirn wäscht. Sie hat Durst. Jemand legt ihr die Hand auf
die Stirn. Der junge Doktor. Er zwingt sie, eine bittere Flüssigkeit
zu trinken. Er macht ihr wieder einen Aderlass. Sie spürt, dass er
an ihrem Bett sitzt. Die Schmerzen haben etwas nachgelassen. Sie
ist nur noch müde, unendlich müde.
23

Jean steht auf den Basteien und blickt über die Dächer Wiens.
Seltsam die Idee, aus einer Umfriedung eine öffentliche Promenade
zu machen. Alles ist gross in Wien. Selbst der Graben konnte zur
Parkanlage genutzt werden. Und dabei ist die Vorstadt um vieles
grösser als die innere Stadt. Eine einzigartige Anordnung, wunderschön,
grossartig.
Er blickt hinunter auf die vorbeiziehenden Kutschen. Wie fröhlich
der Federputz der Kutscher wirkt! Sie fahren jetzt alle in die
‚Sommerfrische’ mit ihren voll bepackten Equipagen. Aufs Land,
wo sie den Sommer verbringen.
Plötzlich verspürt er Heimweh. Er sieht in der Erinnerung den
Vater am Krankenlager der Patienten. Die dunklen Stuben mit den
niederen Zimmerdecken, das Gemurmel der Betenden. Er hört das
Gackern und Muhen zwischen den Häusern seines Dorfes, Flaach.
Seltsam. Warum ist er enttäuscht?
Hier in Wien behandeln sie die Kranken wie Waren. Das ist es.
Wie tote Waren. Seine Patientinnen sind namenlos. Es werden keine
Krankenberichte geschrieben, und als er erwähnte, dass er gewohnt
sei, Tagebuch zu schreiben, hat man ihn gebeten, dies zu unterlassen.
Die Krankengeschichten sollen keine Spuren hinterlassen. Sein
Kollege, ein gebürtiger Wiener, hat in dieser Sache seine Stimme
erhoben. Keine Spuren!
Wohin sind sie gekommen, die Patientinnen der letzten Zeit?
Wie viele haben die Geburt überlebt? Wie viele sind gestorben?
Seine kleine Liebe ist auch verschwunden, und als er nach ihr fragte,
wurde er ziemlich barsch angefahren. Sie hat das Kindbettfieber
nicht überlebt, da ist er sich sicher. Aber er wird keine Fragen mehr
stellen. Was er erlebte und sah, kann er nicht verstehen. Es geschehen
Dinge, die ihm ungeheuer sind. Verbrechen? Kann das sein?
Jean nimmt seinen Hut und macht sich auf den Weg in den
Prater. Er hat sich dort mit einem Wiener Kollegen verabredet. Die
vielen Kaffeehäuser und Schenken in dem grossen Park laden zum
Diskutieren ein. Und das braucht er heute.
Unter riesigen alten Bäumen äst Rotwild. Manche Tiere sind
zahm und lassen sich von den Spaziergängern streicheln. Kinder
mit ihren Gouvernanten, Hunde und junge Paare ringsum, Jean
24

leibt stehen und geniesst das Schauspiel. Da dringt Musik zu ihm
hinüber. Das wird die Schenke sein, von der Kollege Frankenhäuser
sprach.
„Du solltest dir die Geschehnisse in der Frauenklinik nicht allzu
sehr zu Herzen nehmen“, wird dieser ihm über das runde Tischchen
hin erklären, aber sein Blick nach links und rechts verrät seine
eigene Verunsicherung. „Es hat alles seine Geschichte, und die ist
betrüblich.“
Jean schweigt. Das Bier will ihm nicht schmecken. Und dann
insistiert er doch: „Wie gross ist die Todesrate bei den gebärenden
Frauen?“
Frankenhäuser sieht ihn erschrocken an. Zurücklehnend meint
er: „Mein lieber Freund! Das fragt man nicht!“
„Wie wollen wir unseren ärztlichen Dienst verbessern, wenn wir
dessen Erfolg nicht überprüfen, offen und ehrlich?“
„Sigg, genau das will man nicht in Wien!“ Frankenhäuser wirkt
verärgert, aber dann fährt er leiser fort. „Schau, da gab es einen sehr
angesehenen Kollegen, der sich kürzlich das Leben nahm, weil er
den Gedanken nicht ertrug, am Tod seiner Patientinnen schuld zu
sein. Um weitere solche Vorkommnisse ...“
„Warum schuld? Was hat er getan?“
„Das ist es ja! Nichts! Gar nichts anderes, als das, was wir alle
tun, täglich! Aber ein Kollege, Semmelweis, wollte herausgefunden
haben, dass das Kindbettfieber durch uns Ärzte verursacht werde.
Du weisst, die Sache mit der Pathologie ... wenn wir vom Leicheneröffnen
zu den Geburten wechseln, da, meint er, dass wir das
Fieber von der Leiche auf die Patientin übertragen.“
„Das ist allerdings eine üble Unterstellung, eine Zumutung! Wie
kann er nur!“
„Siehst du, eben. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen, es
ist entwürdigend.“
Jean insistiert trotzdem: „Wie kam er auf diese Idee?“
„Er hat keine Beweise, unmöglich. Er stützt sich auf seine Beobachtungen,
auf Tagebucheintragungen und auf einen rechnerischen
Vergleich. Er verglich den Prozentsatz der am Kindbettfieber Verblichenen,
die ohne ärztliche Intervention gebärten, mit der Zahl
derjenigen, die unserer Hilfe bedurften ...“
25

„Und?“
Frankenhäuser seufzt. „Lieber Freund! Es waren leider beträchtlich
viele dabei, die durch unsere Hände gingen. Drei Prozent bei
den Patientinnen der Hebamme, fünfzig Prozent bei denen, die
ärztliche Hilfe erfuhren.“
„Zahlen! Aber dennoch, das gibt zu denken. Was empfiehlt
Semmelweis?“
„Lach’ nicht: Hände waschen!“
„Nein!“ Jetzt muss Jean lachen. „Der reinste Aberglaube! Will
er den Teufel austreiben? Müssen wir uns biblisch reinwaschen?“
„Dazu kommt es nicht, so ein Unsinn wird sich nicht einbürgern,
das wäre Zeitverschwendung. Man hat Semmelweis denn auch
mit Schimpf und Schande von Wien vertrieben. Es soll nicht mehr
darüber gesprochen werden.“
Ein Weilchen schauen die Freunde dem Treiben ringsum zu. Familien
haben sich eingefunden, und am Nachbartisch wird eben ein
mitgebrachtes Brathähnchen verteilt. Jean möchte bald aufbrechen,
aber ein paar Dinge beschäftigen ihn doch noch.
„Sag mir, könnte es sein, dass Miasmen an der Sache schuld
sind? Die Wien scheint mir ein ordentlich verschmutztes Gewässer
zu sein. Ich bin mich an einiges an Gestank gewöhnt aus meiner
Heimat, aber diese Brühe flösst mir Furcht ein.“
„Da hast du recht. Die Ausdünstungen der Wien sind schädlich.
Sie verseuchen die Erde, und die Miasmen steigen in den Mauern
der Häuser hoch, auch in unserem Krankenhaus wird das eine
Rolle spielen.“
„Dann müssten Patientinnen, die der Wand am nächsten liegen, ...“
„Ja geh, lass das. Das sind Spekulationen. Fang nicht auch noch
an mit dem Zählen!“
Jean lehnt sich nun über den Tisch und fragt leise: „Etwas anderes:
Warum haben unsere Patientinnen keine Namen, und warum
das Theater mit den Masken?“
Jetzt lacht Frankenhäuser herzhaft. „Eidgenossen! Euch muss
man alles erklären! Überleg mal: Was macht eine Frau, die eine
Schwangerschaft verheimlichen will, aber nicht im stillen Kämmerchen
gebären kann?“
26

Jean fühlt, wie er errötet.
Frankenhäuser schmunzelt. „Ihr habt doch sicher auch solche
Fälle?“
„Bei uns in Zürich wird streng kirchlich geahndet, wenn jemand
gegen die Sittlichkeit verstösst, aber ich kann dir wirklich nicht sagen,
wie so ein Mädchen den Kopf im Geheimen aus der Schlinge
ziehen könnte, nein wirklich, ich habe mir das noch nie überlegt ...
man spricht auch in Kreisen der Medizin nicht darüber, das wäre
zu anstössig.“
„Das ist es! Ich empfehle euch unsere Lösung, wirklich! Die
Patientin kommt anonym in die Klinik und hinterlässt keine Spur.
Wenn sie stirbt, wird eine Meldung gemacht an eine Adresse, die
die Betroffene beim Eintritt in die Klinik in einem versiegelten Brief
abzugeben hat. So ist rechtlich alles in Ordnung.“
„Und das Kind?“
„Kommt ins Findelhaus und danach zu einer Amme, falls es die
ersten Wochen überlebt.“
Jean geht. Er ist sich seiner Gefühle nicht sicher. Er möchte
vergessen. Alles. Was er sah, was er hörte. Heute Abend wird er
im vertrauten Kreise der Schweizer essen und danach musizieren.
Endlich kann er wieder seine Geige spielen und singen. Ein Stück
Heimat. Heute braucht er das.
Gegen Mitternacht erst kehrt er heim. Seine Zimmerwirtin liegt
schon im Bett, als er durch ihr Zimmer huscht. Mit einer lässigen
Geste wirft sie das Leintuch von sich und entblösst ihre Brust.
Eigentlich ist Jean müde. Aber Lachen, Albern und Wein haben
ihn aufgeweicht. In seiner Kammer schlüpft er aus den Kleidern.
Dann geht er zu ihr.
27

1856
Berlin, im Januar
Die Reisenden im Zug von Leipzig nach Berlin schlottern. Ein
eisiger Wind zieht durch den Wagen, die Fensterscheiben klappern.
Jean hat sich tief in seinen Mantel verkrochen, die Mütze in die Stirn,
die Hände in die Mantelärmel gezogen. Die Winterlandschaft vor
den Fenstern ist wenig ansprechend. Eigentlich ist sie nur langweilig.
Eine Ebene ohne Akzente. Ein Mitreisender nannte sie eben
noch ‚monumental’! Schon wieder einer, der keine Ahnung von
den Schweizer Bergen hat! Jean schmunzelt schläfrig in sich hinein.
Der Reiseproviant, den ihm ein Bündner in Leipzig zugesteckt
hat, ist gegessen. Jetzt, im Winter, ist er froh, dass er mit der Eisenbahn
reisen kann. Früher musste man sich die Füsse wund laufen.
So hat er Zeit seinen Gedanken nachzuhängen. Die Eindrücke der
letzten Monate häufen sich. Wie kann man nur so viel erleben! Der
Abschied von Wien Ende November, danach Prag, Dresden, Leipzig.
Nicht nur Wissenschaftliches wurde geerntet, auch Theater,
Kunstsammlungen und Feste aller Art konnte er besuchen. Überall
hat er Berufskollegen aus der Schweiz kennengelernt, auch sie auf
Studienreise. Jean ist tief befriedigt.
In Berlin will er nun die Augenklinik von Professor Graefe besuchen,
ein Empfehlungsschreiben von Zürich hat er bei sich. Graefe
soll graziöse Staroperationen durchführen, man hat ihm einiges
vorgeschwärmt. Auch die chirurgische Klinik von Langenbeck und
Jüngken will er sich nicht entgehen lassen. Wie sie wohl die Narkose
handhaben? Jean hofft, seinem Vater diesbezüglich Neuigkeiten
nach Hause bringen zu können. So wild wie bei den väterlichen
Operationen im heimatlichen Weinland scheint es in den deutschen
Kliniken nicht zu und her zu gehen. Das stimmt ihn zuversichtlich.
Aber warum?
28

Quietschend und rumpelnd ist der Zug zum Stillstand gekommen,
und das Reisegepäck fliegt ihm auf den Kopf. Schon wieder
ist ein Wagen entgleist! Der Schaffner brummt etwas in seinen üppigen
Bart, und wie auf Kommando machen sich die Passagiere auf
den Weg nach draussen. Man kennt das! Während sich die Frauen
und Kinder in Grüppchen scharen, müssen die Männer zupacken,
um den Wagen anzuheben und zurück auf die Spur zu schieben.
Wenigstens ist diese Dampflokomotive so tüchtig, dass man hoffen
kann, nicht noch im Schnee steckenzubleiben. Die primitive Eisenbahn
vor Linz mit ihren abgenutzten Holzschienen und der müden
Lokomotive, der man zeitweise noch Pferde vorspannen musste,
sind ihm nur zu gut in Erinnerung. Die Reisegesellschaft ist ob der
Unterbrechung munter geworden, sogar das krumme Mütterchen
hat rote Wangen und stöhnt beim Einsteigen. Jeder findet zu seinem
Gepäck, klopft den Schnee aus den Kleidern, Kinder werden gebändigt,
und von Neuem steigt Tabakqualm auf. Jean denkt an Flaach.
29

Flaach, im Januar
Während Jean sich in Berlin umsieht, wird sein Elternhaus in
Flaach eingeschneit. Und dies schon seit vielen Tagen. Wieder so
ein Winter, der einen das Fürchten lehrt, denkt Lisebeth. Was zuerst
noch Freude bereitete, wurde zur Qual und nun zur Bedrohung. Der
Schnee steht so hoch, dass das Räumen der Strassen für Fuhrwerke
unmöglich ist. Sie sind von der Welt abgeschnitten. Wer sich nicht zu
Fuss durch den Schnee getraut, muss auf der Ofenbank ausharren.
Aber Christine hat den Weg zum Brunnen doch noch freibekommen,
bevor die Temperatur fiel. Johann klopft an das Thermometer. Nicht
doch! Minus 18 Grad. Am Morgen ist das Wasser in den Kesseln in
der Küche gefroren, und der Ofen muss dreimal eingeheizt werden.
Und dann kommt die Seuche. Sie bricht in Volken aus, wandert
über Buch, Berg nach Flaach. Johann stapft ihr nach, von Haus zu
Haus. In ihren kalten Kammern liegen die Patienten zu zweit und zu
dritt im Bett, klagen über Schluckbeschwerden und Kopfschmerzen.
Dann kommt das Fieber, die Lungenentzündung und der Tod. Die
Kinder sterben, zuerst die jüngsten, dann die Schulkinder. Johann
kämpft sich durch Schnee und Kälte an ihre Krankenlager. Überall
derselbe Schmerz, dieselbe Verzweiflung.
„Die Menschen brauchen Trost und Zuspruch, erzähl ihnen vom
Frühling, vom Licht“, sagt er zum jungen Pfarrer, der ihn auf Krankenvisite
begleitet, „das Jammertal kennen sie.“ Prüfend wendet er
sich zu Freitag um. Er hat ein gutes Gesicht, der junge Geistliche,
denkt er, und Gott sei Dank eine liberale Gesinnung.
Wo immer die Zeit es erlaubt, seziert Johann die Toten. Die
meisten lässt er sich in sein Haus bringen, wo er in der Werkstatt
den Tisch frei geräumt hat. Er entnimmt ihnen Organe, die er im
Licht einer Öllampe untersucht. Was ist passiert? Woher kommt
die Krankheit?
Wieder diese bedrohliche Beklemmung. Er versteht nichts. Früher
verstand er, meinte zu verstehen. Sah Gottes Wirken, vertraute
auf einen göttlichen Sinn. Heute versteht er nichts mehr. Er versucht,
seine schwarzen Gedanken zu verscheuchen, die Traurigkeit, die
Angst und das nagende Schuldgefühl ob seinem ärztlichen Unvermögen.
Das ist es. Seit Jean ihm von den Entdeckungen des Kolle-
30

gen Semmelweis erzählt hat, quält ihn die Frage nach der eigenen
Verantwortung. Er, nicht Gott muss helfen können. Er darf sich
seine Unsicherheit nicht anmerken lassen. Ruhe bewahren! Dennoch
zittert ihm auch heute wieder die Hand mit dem Skalpell. Das tote
Kind da vor ihm hat eben noch in seinem Haus gespielt. Brenners
Ueli. Sein Schwesterchen geht mit Anna in die dritte Klasse. Sie
haben den Buben in weisses Leinen gekleidet, wächsern liegt er da,
wie ein Engel. Auf dem Kopf eine Strickmütze! Seltsam. Als könnte
er immer noch frieren. Johann entkleidet ihn. Unglaublich. Er wird
sich nie daran gewöhnen. Die Flaacher Kinder sind abgemagert!
Unter der Mütze ist das Haar des Kindes schütter. Sie verkaufen
Rahm und Butter, und ihre Kinder leiden Mangel, denkt er bitter.
Keine Eier, kein Käse. Auch der Ueli ist so ein lebensschwaches Vögelchen.
Wenn das so weitergeht, werden wir die Schule schliessen
müssen. Johann rechnet. Mit Uelis Tod verbleiben noch elf Kinder
in der dritten Klasse, elf von ehemals einunddreissig.
Am Mittagstisch ist die Stimmung gedrückt. Johann sieht es
Lisebeth an, dass sie geweint hat. Er weiss, woran sie denkt. Keine
Nachricht von aussen. Die Post wird nicht mehr zugestellt. Keine
Zeitung, keine Briefe. Die drei grossen Kinder, Jean, Albert und
Lisette sind irgendwo da draussen in der Welt. Was geschieht dort?
Werden wir sie je wiedersehen? Und mit Elias, dem Berufskollegen
und Freund, kein Wortwechsel seit Wochen. Was lauert hinter
dieser Stille?
Christine jammert, der Kohl sei ihr erfroren, die Rüben vielleicht
auch. Sie hat doch alles gut eingeschlagen in Sand und Laub, und
nun das! Was soll sie denn jetzt in den Ochsensud geben? Wie lange
wird das dauern? Wochen vielleicht! Und die Mäuse und Ratten
dringen überall ein, zernagen alles, ihr Gestank ... „Bitte, Christine!
Wir können es nicht ändern!“
„Wir sollten beten“, hört sich Johann sagen.
Das Unheimliche betend verbannen. Alles in Gottes Hand legen.
Vertrauen stiften. Rings um den Tisch werden Hände gefaltet. Johann
beginnt das Vaterunser, die Familie stimmt mit ein: „Denn dein
ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen.“
Dann schweigen sie, jeder horcht in sich hinein, die Frauen
schnäuzen die Nasen.
31

Jetzt steht Johann auf und schiebt seinen Stuhl unter den Tisch.
„Ich gehe nun wieder, haltet mir für den Abend etwas Warmes
bereit.“
Flüchtig berührt er die Schulter Lisebeths, dann verlässt er die
Stube. Ich ertrage jetzt keine Tränen, denkt er.
Auf dem Weg hinauf nach Berg kommt ihm die Geschichte mit
Semmelweis wieder in den Sinn. Jean hat ihm ausführlich davon
geschrieben. Und wenn es tatsächlich so ist, dass wir Menschen die
Krankheit bewirken, nicht Gott?
Er bleibt stehen. Der Gedanke ist unheimlich. Fremd. Die Krankheit
wandert. Tatsächlich, sie wandert, wie ich. Aber wenn sie kein
Geist oder Tier ist, muss es ein Gefährt geben, das sie befördert.
Vielleicht hat Semmelweis etwas Richtiges erkannt? Aber all das ist
unsichtbar! Warum sehen wir nicht, was da sein muss? Warum hat
Gott uns keine Augen gegeben, die fähig sind, das Übel zu sehen?
Kann das die Weltordnung sein? Und wenn ja, was will er damit
bezwecken?
Nein. Es ist sinnlos. Es kann nicht sein. Es hat wirklich keinen
Sinn.
Und doch: wenn ich selbst das Gefährt bin, das die Krankheit
befördert? Ich, als Arzt?
Jetzt wird ihm heiss. Wenn Semmelweis recht hat ... er lockert den
Schal. Beissend kalt greift die Luft nach seinem Hals. Die Hände!
Wenn meine Hände die Krankheit befördern, wider meinen Willen?
Er muss handeln. Er fasst einen Entschluss. Man wird ihn einmal
mehr als Narren bemitleiden in allen Weinstuben des Tales!
Aber jetzt fühlt er sich besser. Sein Schritt wird kraftvoll, geradezu
grimmig. Gleich erreicht er die Riegelhäuser von Berg. Bei den
Wirtsleuten wird er als Erstes vorbeischauen. Er wird nach jedem
Krankenbesuch seine Hände waschen. Wie Semmelweis empfahl.
Wenn er auch über keinen Chlorkalk verfügt, so sollen es Wasser
und Seife sein. Familie Kuhn wird ihn belustigt anschauen. Seife
und Wasser? Wenn es nur hilft!
Am andern Tag muss die ganze Hausgemeinschaft einzeln im
Studierzimmer sich untersuchen lassen. Zuerst die Familie: auch
Christine muss die Haube abnehmen und sich den Kopf betasten
lassen. Nein, es tut nicht weh. Dann die sieben Hauspatienten.
Gruber, der Manische, droht gewalttätig zu werden, sie müssen ihn
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festhalten. Die melancholische Pfarrfrau aus Uster hingegen starrt
ins Leere und gibt keine Antwort. Johann klopft auf nackte Rücken,
horcht den Atem ab, fühlt den Puls. Sorgfältig notiert er den Befund
unter den Namen des Hausgenossen auf einen sauberen Papierbogen
und trocknet bedächtig die Tinte mit dem Löschblatt ab. Keiner
wagt eine Frage zu stellen, doch dann kann die Jungfer Locher ihr
hysterisches Kichern nicht verkneifen. Johann lächelt ihr zu.
„Weisst du, Maria, das heisst Krankenjournal.“
Danach muss jeder seine Hände waschen. Den Einwand, dass
Seife teuer sei, lässt er nicht gelten. Lisette und die Gotte schauen
sich ratlos an. Am Wochenende, nach dem Kirchgang, sollen alle
zur Ader gelassen werden. „Ja, Christine, auch du. Und das Blut
schüttest du unter die Beerenstauden.“
Mitte Februar beginnt es zu tauen. Den Tag über tropft es vom
vorspringenden Dach, der Weg wird glitschig. Schwarz stehen die
Tannen im Schnee vor dem bleiernen Himmel. Christine verteilt
Küchenabfälle im Garten, und unzählige Vögel finden sich ein.
Johann wischt die Fensterscheibe trocken und kontrolliert die Temperatur.
Plus fünf Grad. Wenn der Boden aufgetaut ist, wird man
endlich die Toten beerdigen können. Es ist höchste Zeit. Er wird im
Pfarrhaus vorbeigehen.
In der Nacht auf den 21. Februar erwacht Lisebeth aus einem
quälenden Traum. Noch bevor sie die Augen öffnet, fühlt sie, dass
etwas Unheimliches geschieht. Eine panische Angst beschleicht sie.
Sie will nach dem Mann neben sich greifen. Johann ist nicht im Bett.
Mit einem Schlag ist sie hellwach. Ein rötlicher Schein dringt durch
die Fensterläden. Im Halbdunkel erkennt sie die Gestalt Johanns
am Fenster.
„Johann, was ist?“
„Es brennt. Es brennt höllisch, komm schau dir das an.“
Sie tastet sich zu ihm, er hat bereits das Fenster geöffnet und den
Laden hochgeschoben. Rauch liegt in der Luft und das Geräusch
krachender Balken.
„Das muss neben dem Schloss sein, oder dahinter“, flüstert Johann
und drückt sie an sich.
„Wir sollten ...“
„Wir sind zu alt, Lisebeth. Lass andere das machen. Es wird
33

sowieso zu spät sein. Ich geh nach unten und lege Verbandszeug
und Salben bereit, vielleicht braucht man mich noch.“
Lisebeth bleibt alleine zurück. Sie zittert. Sie erträgt diese Aufregungen
nicht mehr. „Jean, komm zurück, wir brauchen dich!“
betet sie innerlich.
Er kommt. Am anderen Tag. Unangemeldet. Kommt während
des Mittagessens einfach herein spaziert und erntet einen fröhlichen
Aufruhr.
Nach dem Essen nimmt Lisebeth ihre Stricknadeln zur Hand.
Wenn Mann und Sohn miteinander Berufliches austauschen, will
sie dabei sein. Sie ahnt, dass wichtige Entscheidungen anstehen,
und ist besorgt.
Die Männer sitzen sich gegenüber. Der Vater, ein kräftiger, aber
eher gedrungener Mann, dessen wilder Haarschopf längst einer
Glatze gewichen ist, sein Pfeifchen steckt im graumelierten Bart,
und er nimmt es nur aus dem Mundwinkel, wenn er unbedingt verstanden
werden will. Der Sohn, um einiges grösser und mit seinen
modischen Kleidern in der elterlichen Stube fast ein Fremdkörper,
betrachtet den Älteren mit einer noch nie in dieser Art gefühlten
Zärtlichkeit. Er hat seinem Vater ein kleines Paket bereitgelegt, das
er ihm jetzt über den Tisch hinweg zuschiebt.
„Ich habe dir etwas Besonderes mitgebracht, Papa.“ Jean beobachtet
das Gesicht seines Vaters. Ein alter Mann. Mit einem Mal
begreift er, dass sein Plan, sich für eine Weile in Basel niederzulassen,
dem Vater missfallen wird. Er ist alt, er bräuchte Unterstützung.
Unterdessen hat Johann sein Geschenk bedächtig ausgepackt
und das Etui geöffnet. Schreibzeug hatte er erwartet, aber was ist
denn das?
„Da staunst du, nicht? Das ist ein neues Messgerät, das in Leipzig
erfunden wurde von Professor Wunderlich. Er ist der Begründer
der Kranken-Thermometrie. Das ist ein Fieberthermometer! Sie
erstellen in Leipzig Fieberkurven, du wirst sehen, wie wichtig es
ist, in einem Krankenjournal den Verlauf des Fiebers zu verfolgen.“
Johann schaut seinen Sohn fassungslos an. „Man misst das Fieber
der Kranken? Wie die Raumtemperatur?“
34

„Und interpretiert die Ergebnisse, das Interpretieren ist entscheidend.“
„Was man heute nicht alles erfindet! Das ist die Ernte der industriellen
Bemühungen. Die Technik bringt die Medizin voran.
Unglaublich, wirklich, ich freue mich.“
„Das Führen der Fieberkurven und der Krankenjournale will ich
in Basel im Spital üben, Papa. Professor Jung hat mir eine Assistenzstelle
angeboten. Dort habe ich Gelegenheit, reiche Erfahrungen zu
sammeln.“
Jetzt nimmt der Vater die Pfeife aus dem Mund, er ist fassungslos.
„Das kannst du auch in Flaach!“, fährt er den Sohn an, „ich brauche
dich hier, Schangi.“
„Papa, versteh doch, Flaach kann mir nicht viel bieten, was mich
weiterbringt. In Basel werde ich täglich über 60 Patienten sehen,
stell dir das vor, du, hier auf dem Land, siehst deren drei oder vier
im Tag.“
„Eine Landarztpraxis! Was erwartest du anderes!“
„Du verlierst zu viel Zeit mit deinen Fussmärschen!“
Jetzt schauen sie sich an. Johann ist verärgert. Was hat der junge
Bursche ihm Zeitverschwendung vorzuwerfen? Was versteht er von
der Mühsal seines Arztlebens? Hatte er denn je die Wahl, anders
zu leben?
Jean spürt den vorwurfsvollen Blick der Mutter auf sich gerichtet.
„Entschuldige, Papa, ich weiss, du hast keine Wahl. Aber auf lange
Sicht kann ich dir besser helfen, wenn ich dazulerne.“
Jetzt hat er gelogen. Er weiss, dass er nie, niemals, sich in Flaach
als Arzt niederlassen will. Er hat die weite Welt kennengelernt, die
grössten Städte Deutschlands und Österreichs. Er will nach Zürich,
auch wenn Zürich ein bescheidenes Städtchen ist, aber er will an
die Universität, Professor werden.
Johann kann es nicht fassen. Sein Sohn will nach Basel. Eine
Tagesreise weit weg. Er wird ihn nur noch selten zu sehen bekommen.
Basel! Er selbst ist nie bis nach Basel gereist, das lag ausserhalb
seiner Möglichkeiten.
„Wo willst du denn in Basel wohnen?“
Jean hat alles vorbereitet, auch Wohnung und gute Verköstigung.
„Du kennst doch etliche Baslerfamilien. Wir hatten wiederholt Patienten
aus Basel bei uns.“
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Johann klopft mit der Pfeife auf den Tischrand. Zutiefst weiss
er, dass Jean die richtige Entscheidung getroffen hat. „Ja, ja. Die
Familie Merian hat mich schon gebeten, sie zu besuchen, auch die
Gersbach.“ Und nach einer kurzen Pause fügt er hinzu. „Vielleicht
komme ich im Sommer einmal zu dir, dann werden wir uns Basel
ansehen ...“
„ ... und einen Abstecher nach Heidelberg machen!“
Johann lacht. „Ja, eine Studienreise für einen alten Arzt, warum
nicht.“
Es wird Sommer 1857 werden, bis Johann seine Reise nach Basel
unternehmen kann. Jean wird ihn durch die Stadt führen und ihn
mit den Ärzten des Spitals bekannt machen. Stundenlang werden
sie über Berufliches debattieren. Dass der Einsatz von Quecksilber
bei Typhuspatienten bedenklich ist, weiss Johann aus eigener Erfahrung.
Die Nebenwirkungen des Medikamentes haben auch ihn
etliche Zähne gekostet, von den Schmerzen ganz zu schweigen.
Die Wurzel des Sassafras bei Durchfall? Das reinste Gift! Spätestens
an den Folgen dieser Behandlung muss der Patient sterben.
Gerstenschleim als Krankenkost? Um Himmelswillen, ihr lasst die
Patienten ja verhungern!
„Professor Jung will von deutschen Juden nichts annehmen,
auch die Epidemiologie von Pettenkofer dürfen wir unter ihm nicht
einsetzen, obschon in Basel der Typhus sehr verbreitet ist, wir sogar
meinen, es gebe Typhusherde in gewissen Quartieren. Will man
ihm mit Semmelweis kommen, so gibt er vor, der Reinlichkeit zu
dienen, seitdem man ihn lehrte, in den Unterhosen zu operieren.
Was jede weitere fachliche Diskussion erstickt. Auch die Gesundheit
der Fabrikkinder müsste untersucht werden. Viele leiden unter
der Schwindsucht, vor allem die Arbeiter aus der Seidenfabrikation.
Selten wird einer der Buben älter als zwanzig Jahre. Aber die
hiesigen Ärzte wollen nicht forschen und zeigen kein Interesse an
Weiterbildung. Treiben Allotria, sobald zwei, drei sich zusammenfinden.
Es ist eine Schande.“
„Dann komm doch jetzt heim nach Flaach!“
Jean stutzt. Nein, das ist es nicht, was er sucht. Er ist enttäuscht
von Basel, aber Flaach, nein. Er weiss, dass drüben im Ausland be-
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eits mit dem Mikroskop das menschliche Gewebe untersucht wird.
Ein noch sehr junger Mediziner behauptet, dass Organe aus Zellen
und nicht aus dem Urschleim entstehen. Jede Zelle entsteht aus einer
Zelle. Diese Entwicklung müsste man verstehen, dann könnte man
beginnen, das wahre Wesen der Krankheit zu verstehen. Dem lieben
Gott über die Schulter schauen? Vielleicht. Er weiss bereits zu viel,
um zurück in die Verantwortungslosigkeit schlüpfen zu können.
Er hat erkannt, dass sich in der Medizin eine grosse Wende anzeigt.
Dahin zieht es ihn.
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