SCHICHTEGESCHSchweizer Exporte nach Indien 1885-2000Wert (in heutigen Franken) und Anteil der Fertiguhren (in %)25000000 100.020000000 80.015000000 60.090.070.050.01000000040.030.05000000 20.010.00 0.0188518901895190019051910191519201925193019351940194519501955196019651970197519801885189018952000Wert Fertiguhren (%) Quelle: Verband der Schweizerischen UhrenindustrieMärkte in Gang. Dieses Phänomen ist einerseitsauf den Aufstieg amerikanischer Uhrenfirmen wieWaltham <strong>Watch</strong> und Elgin <strong>Watch</strong> zurückzuführen,die den amerikanischen Markt zum wettbewerbsfähigstender Welt machen, und andererseits auf dieEntwicklung neuer Technologie im Fernmelde- undTransportwesen (Telegraph, Dampfschifffahrt,Eisenbahnen), die eine Ausdehnung der Geschäfts -beziehungen über die ganze Welt erlauben. Sowird der Orient zu einem neuen Abnehmer für dieschweizerische Uhrenindustrie.Zu diesen neuen Märkten, die in der zweiten Hälftedes 19. Jahrhunderts aufkommen, gehört Indien,und seine Bedeutung nimmt bis in die 1920erJahre laufend zu. In der Tat steigt der Wert derSchweizer Uhrenexporte nach dem IndischenSubkontinent von 658000 Franken im Jahr 1885auf 1.7 Millionen im Jahr 1900 und auf über21 Millionen Franken 1920. Und dieses Wachstumberuht fast ausschliesslich auf dem Export fertigerUhren: ihr Anteil an den Uhrenexporten nach Indienvon 1885-1920 beträgt 97.4%. Die Schweizer Uhren -hersteller gründen in Indien keine Assemblage-Fabriken, wie sie es zum Beispiel in Russland oderJapan tun. Auf dem Indischen Subkontinent gib eskeine einheimische Uhren produktion. Somit hatder Handel mit Schweizer Uhren dort freies Spiel.Bei diesen Uhren handelt es sich hauptsächlichum einfache und günstige Produkte. Man kann gareine stetige Abnahme ihres durchschnittlichenWerts von 22 Franken im Jahr 1885 auf6.5 Franken 1915 beobachten, bevor der Wert1920 wieder auf 17 Franken steigt. Bei denExporten handelt es sich also nicht einfach um65watch around Nr. 011 Frühling-Sommer 2011 |
GESCHICHTEGESCLuxusuhren für die Wirtschaftselite, sondern auchum Produkte für die Mittelschichten, die mit derEntwicklung der indischen Städte und Industrie inErscheinung treten. Die Beamten des BritishEmpire, die die Kolonie verwalten, sind eifrigeAbnehmer der helvetischen Uhren. Auch dieEisenbahnen und die Armee sind wichtige Kundender Schweizer Uhrenindustrie, wie sich denInseraten der Schweizer Firmen entnehmen lässt,die auf diesem Markt präsent sind.Somit ist Indien in den frühen 1920er Jahren zueinem wichtigen Absatzmarkt für Schweizer Uhrengeworden. Die relative Bedeutung dieses Marktesnimmt gar noch stetig zu: von 1.0% Volumenanteilan den Uhrenexporten im Jahr 1885 auf 1.8%1900 und gar 8.8% im Ausnahmejahr 1920. Damithat er beinahe die Bedeutung des amerikanischenMarktes erreicht.Erweiterte Absatzmärkte. Für die Zwischen -kriegszeit weisen die Exportstatistiken eine grosseStabilität des indischen Marktes aus: Im Mittelbelaufen sich die Uhrenexporte in dieses Land auf4.6 Millionen Franken jährlich und umfassenhauptsächlich komplette Uhren (95.4% derExporte). Die halbe Million Uhren, die Jahr für Jahran den Indischen Subkontinent gehen, machenüber 3% der gesamten Schweizer Exporte aus.In den 1930er Jahren ändert sich die Struktur desMarktes jedoch stark. Um der weltweiten Krise zutrotzen, werfen die Schweizer Uhrenhersteller neuartigeTypen einfacher und standardisierter Uhrenauf den Markt. So bringt die West End <strong>Watch</strong>, dieseit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu den wichtigstenSchweizer Firmen gehört, die auf dem indischenMarkt präsent sind, eine neue günstige Uhr,die Secundus heraus, die sowohl als Taschenuhrwie als Armbanduhr angeboten wird. Im Folgejahrlanciert dieselbe Firma ihre Marke Sowar miteinem neuen, preiswerten Armbanduhrmodell neu.Diese Uhren sind hauptsächlich für die Arbeiterund eine weniger exklusive Kundschaft bestimmtund tragen zur Demokratisierung der Benutzungvon Uhren bei der städtischen BevölkerungIndiens bei.Auslagerung nach Indien? Nach der Unabhängig -keit von 1947 verfolgt Indien eine Wirtschaftspolitik,die fundamental mit der Kolonialzeit bricht. Der Staatetabliert sich in den 1950er und 1960er Jahren alsHauptakteur in der industriellen Entwicklung desLandes. In der Kontrolle über den Aussenhandel in derNachkriegszeit und der Einführung des zweiten Fünf -jahresplans (1956-1961) zeigt sich das Bestreben desStaates, eine nationale Industrie aufzubauen und dieausländischen Einflüsse auf die inländische Wirtschaftmöglichst zurückzubinden. In der Uhrenbranche kontingentierendie Behörden die Importe und führen fürUnternehmen, die Uhren nach Indien verkaufenmöchten, ein Lizenzsystem und damit Handels -beschränkungen ein, die bis Ende der 1990er in Kraftbleiben und zum Ziel haben, den Aufbau einer einheimischenUhrenindustrie zu fördern.In der Schweizer Uhrenbranche ist man sich derHerausforderung bewusst, jedoch uneins über dieStrategien, mit denen man ihr begegnen könnte:Soll man sich an der Verlagerung der Industriebeteiligen, um Marktanteile zu behaupten? Odersoll man im Gegenteil diese Praxis verbieten undden Export fertiger Produkte fördern? 1958 wirdvon der Uhrenindustrie eine Delegation nachIndien entsandt, um die Produktionsmöglichkeitenvor Ort zu studieren. Allerdings untersagen dieBestimmungen des Uhrenstatuts (siehe WA010)den Schweizer Firmen vorerst solche direktenInvestitionen im Ausland.Als der Kartellzwang 1961 gelockert wird, sehendie Firmen immerhin eine Möglichkeit, dieAuslagerung eines Teils ihrer Produktion nachIndien zu erwägen. So ziehen sechs SchweizerUnternehmen, von denen mehrere schon seit langemauf dem indischen Markt etabliert sind, denAufbau von Produktionsbetrieben vor Ort inBetracht, nämlich SSIH (mit Tissot und Omega),Favre-Leuba, Enicar, Degoumois, Benrus(eine amerikanische Firma mit SchweizerNiederlassung) und Langendorf. Sie richten 1964ein Gesuch an die eidgenössischen Behörden, mitdem sie die Erlaubnis erwirken möchten, in Indienzu investieren. Doch weder dem Uhrenverbandnoch der Schweizerischen Uhrenkammer gelingtes trotz derEinsetzung von ad hoc-Arbeitsgruppen,eine Einigung in der helvetischen Uhrenbranchezu erzielen, denn einige Fabrikanten wehren sichheftig gegen den Industrietransfer. Das hat zurFolge, dass bis Ende der 1960er Jahre keineinziges namhaftes Uhrenindustrieprojekt mitSchweizer Beteiligung konkret wird.66| watch around Nr. 011 Frühling-Sommer 2011